Radikalismus in Polen – Dokumentation von Vorfällen mit rassistischem und fremdenfeindlichem Hintergrund

aus OWEP 3/2012  •  von Anna Tatar

Anna Tatar ist Doktorandin am Institut für Komparatistik an der Fakultät für Polonistik der Universität Warschau und Redaktionssekretärin der Zeitschrift „NIGDY WIĘCEJ“.

Zusammenfassung

Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Erfassung (Monitoring) bzw. Katalogisierung rassistischer und fremdenfeindlicher Vorfälle sowie neofaschistischer Straftaten in Polen, die vom Verein „NIGDY WIĘCEJ“ betrieben wird. Der Text macht mit als „hate crime“ bezeichneten Vorkommnissen vertraut, zählt die wichtigsten Katalogisierungskategorien von Vorfällen und Straftaten auf und belegt diese mit Beispielen. Außerdem werden die Vorgehensweise der Katalogisierung sowie deren Ziele skizziert.

Die Katalogisierung von Vorfällen mit rassistischem und fremdenfeindlichem Hintergrund sowie von Straftaten, die Neofaschisten in Polen begangen haben, ist eines der wichtigsten Themen antifaschistischer Betätigung. Die Kenntnis dieses wichtigen sozialen Problems in Polen ermöglicht Maßnahmen, um Diskriminierung und Intoleranz entgegenzuwirken sowie positive Einstellungen wie etwa Toleranz und Offenheit gegenüber Fremdheit und Multikulturalität zu fördern.

Erfassung (Monitoring) in Polen

In Polen gibt es kein zentrales staatliches System zur Überwachung von rassistischen, fremdenfeindlichen und neofaschistischen Straftaten. Derartige Daten werden von Regierungsstellen und juristischen Institutionen unsystematisch gesammelt und auf unterschiedliche Weise geordnet, ohne dass Definitionen und Kategorien verschiedener Formen von Gewalt zugrundegelegt werden. Die für die Sicherheit des Staates verantwortlichen Dienste wie die Agentur für Innere Sicherheit (Agencja Bezpieczeństwa Wewnętrznego, ABW) oder das Büro für Nationale Sicherheit (Biuro Bezpieczeństwa Narodowego, BBN) veröffentlichen keine Berichte über die Bedrohung durch die extreme Rechte oder über rassistische Straftaten. Das Polizeisystem für Kriminalstatistik „Temida“ bleibt bisher die wichtigste offizielle Quelle für Straftaten und Vorfälle mit rassistischem Hintergrund. Die Informationen sind weder hinsichtlich der Motive der Straftäter (z. B. Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit) noch hinsichtlich der Opfergruppe geordnet. Außerdem gehen Personen, die Rassisten oder Neofaschisten zum Opfer gefallen sind, selten zur Polizei. Die Statistiken bilden also nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit ab. In Polen bemühen sich leider auch nur wenige Nichtregierungsorganisationen, die Rassismus, Neofaschismus oder andere Aspekte von Intoleranz gegenüber Minderheiten bzw. Frauen bekämpfen, um eine entsprechende Katalogisierung. Ihre Arbeit beschränkt sich meist auf ausgewählte Fälle und Oper einer bestimmten (sozialen, religiösen usw.) Gruppe. Ziel ist es oft, die Strafverfolgungsorgane und andere Staatsorgane zu einem entschlossenen Handeln zu bewegen.

Die Erfassung durch den Verein „NIGDY WIĘCEJ“ („Nie wieder“)

Der Verein „NIGDY WIĘCEJ“ („Nie wieder“) betreibt seine Erfassung und Katalogisierung im Rahmen eines Programms der Stefan Batory-Stiftung zur Überwachung von rassistischen, antisemitischen und fremdenfeindlichen Vorfällen. Rassistische Vorfälle in Fußballstadien werden außerdem vom Zentrum für Rassismus-Katalogisierung in Osteuropa im Rahmen eines FARE-Projekts1 mit Unterstützung der UEFA überwacht.

Die von „NIGDY WIĘCEJ“ beobachteten Vorkommnisse kann man als hate crimes bezeichnen. Hate crimes werden vom OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte definiert als Straftat gegen Personen oder Gruppen aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse oder Nationalität, aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Sprache, Hautfarbe, Religion, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihres Alters, ihrer geistigen oder körperlichen Behinderung oder wegen anderen Gründen. Diese Definition ist wegen ihrer geringen Präzision jedoch nicht unproblematisch, da verschiedene Erfassungsorganisationen damit unterschiedliche Dinge bezeichnen. Außerdem werden verbale Aggression, soziale Ausgrenzung und institutionelle Diskriminierung nicht berücksichtigt.

Die wichtigsten Kategorien von Vorfällen und Straftaten, die von „NIGDY WIĘCEJ“ beobachtet werden

Rassismus – „die Ansicht, dass jemand aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse besser sein kann. Rassisten definieren Rasse als eine Gruppe von Personen mit gemeinsamer Herkunft. Sie unterscheiden Rassen anhand von physischen Merkmalen wie zum Beispiel Hautfarbe“, aber auch anhand ihrer ethnischen Herkunft und angeblich unüberwindbarer, fundamentaler kultureller Unterschiede.

Ein Beispiel für einen in der Dokumentation beschriebenen rassistischen Vorfall: „Lublin. Anfang Oktober 2009 kam es zu einem rassistischen Zwischenfall in einem Supermarkt der Kette ‚Biedronka‘ in der ul. Wieniawskiej. Ein Rom wurde von einer Kassiererin und einem Wachmann des Diebstahls sowie des Zahlens mit Falschgeld beschuldigt. Als der Mann protestierte, sagte die Frau zu ihm: ‚Jeder Schwarze ist ein Dieb‘. Die Polizei verhörte Zeugen und überprüfte die Kameraaufzeichnungen aus dem Laden. Weder der Diebstahl noch der Gebrauch von Falschgeld konnten nachgewiesen werden. Der verleumdete Bogdan Szczerba, ein Mitglied des Vereins ‚Rom‘, kündigte eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft an.“ Die Verkäuferin in Lublin bezichtigte also eine Person, die eine andere Hautfarbe als die „normale“ weiße besaß. Aufgrund des fremden Aussehens des Kunden beschuldigte sie ihn einer nicht begangenen Tat. Solche rassistischen Vorfälle sind in Polen am häufigsten.

Faschismus – „eine auf Gewalt basierende, rechtsextreme politische Bewegung, die sich in einem Regime, das über einen Terrorapparat verfügt, am umfassendsten verwirklicht. Die Anhänger des Faschismus stammen aus allen gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere in politischen und wirtschaftlichen Krisenzeiten. Die Faschisten glauben an eine gerechte Regierung der starken Hand und lehnen die parlamentarische Demokratie ab.“

Ein Beispiel für einen im Rahmen der Katalogisierung beschriebenen neofaschistischen Vorfall: „Włocławek. Anfang Dezember 1999 griff ein Nazi und Skinhead in der ul. Toruńska einen vorübergehenden Teenager an und schlug ihn zusammen. Einziger Grund der Aggression war das ‚zu wenig patriotische‘ Aussehen des Jungen, der auch als ‚Schmutzfink‘ (brudas), ‚Dreck‘ (śmieć) und ‚Fixer‘ (ćpun) beschimpft wurde.“ Das Opfer der Straftat von Włocławek war eine Person, die anders als „normal“ aussah. Die Neofaschisten halten alternative junge Leute für ein „wenig wertvolles Element“, ihrer Meinung nach weichen sie vom Bild eines „richtigen Polen“ ab.

Nazismus – „eine Ideologie und Praxis des deutschen politischen Faschismus, die sich durch Rassismus, Antisemitismus, Totalitarismus, Demagogie, Aggressivität und Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Nationen auszeichnet. Das Wort ‚Nazismus‘ ist vom Ausdruck ‚Nationalsozialismus‘ abgeleitet.“ Ein Beispiel für einen im Rahmen der Katalogisierung beschriebenen neonazistischen Vorfall: „Wrocław. Am 3. April 2008 beschrieb die Lokalausgabe der Tageszeitung ‚Gazeta Wyborcza‘ nicht zum ersten Mal Begebenheiten, die auf neonazistische Sympathien eines Teil der Anhänger des Fußballvereins Śląsk Wrocław hindeuten. Das Internetportal wroclawianie.info, eine der bekanntesten und größten Fanseiten des Vereins, zeigte viele Dutzend Muster von Aufklebern, von denen ein Teil rassistische und antisemitische Aufschriften und Zeichnungen aufwiesen: eine Darstellung Hitlers mit dem Hitlergruß vor dem Hintergrund der Vereinsfahne; die Slogans ‚Skinheads Hooligans 88‘2 sowie ‚Null Toleranz‘ mit einem Ku-Klux-Klan-Mitglied in seiner typischen spitzen Kapuze, der auf einen durchgestrichenen Davidstern und die Karikatur des Gesichts eines Schwarzen deutete; Gestalten von drei Männern in Springerstiefeln, die einen liegenden Schwarzen treten, mit der Aufschrift: ‚So vergnügt sich der Adel von Wrocław‘. Diese Aufkleber tauchten regelmäßig in Straßenbahnen und verschiedenen Stadtteilen auf. Die Staatsanwaltschaft nahm sich des Falls an.“

Antisemitismus – „Gegen Juden gerichtete Vorurteile. Die Antisemiten behaupten, dass sich die Juden grundlegend von anderen Menschen unterscheiden, dass sie die Welt beherrschen wollen und zu diesem Zweck eine weltweite Verschwörung anzetteln. Diese Form von Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz führt zur Diskriminierung sowohl von einzelnen Juden als auch von ganzen jüdischen Gemeinschaften [oder von Personen, die man für Juden hält – A.T.].“

Ein Beispiel für einen im Rahmen der Katalogisierung beschriebenen antisemitischen Vorfall: „Gardzienice. In der Nacht vom 12. auf den 13. September 2008 wurde auf die Umfassungsmauer des Zentrums für Theaterpraktiken ‚Gardzienice‘ die Aufschrift ‚Jude raus‘ und die Zeichnung eines Davidsterns am Galgen gemalt. Zwei Wochen später, am 26. September, während der Vorstellung Der Kosmos von Gardzienice, stellte sich eine aus zehn Personen bestehende Gruppe von Neofaschisten vor dem Gebäude auf und skandierte: ‚Fort mit den Juden!‘ Ein weiterer Vorfall mit antisemitischem Hintergrund, der sich gegen die Künstler von Gardzienice richtete, ereignete sich in der Nacht vom 7. auf den 8. Oktober. ‚Unbekannte Täter‘ verwüsteten das Gelände des Zentrums und verursachten große materielle Schäden. Die Polizei konnte einen von ihnen fassen. Es war ein 25jähriger Einwohner von Gardzienice, Artur B. Der Mann erklärte auf der Polizeiwache in Świdnik, dass er seine Abneigung gegen die Anwesenheit von jüdischen Personen im Dorf habe manifestieren wollen. Gleichzeitig drückte er sein Bedauern darüber aus, was er getan hatte. Wegen Aufruf zu Rassenhass und Zerstörung von Eigentum drohte ihm eine Strafe von bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug.“ Der Täter der Straftaten von Gardzienice wies eindeutig auf die antisemitische Grundlage seiner Taten hin. Aufgrund der vermeintlichen jüdischen Herkunft der Künstler wurde das Zentrum für Theaterpraktiken mehrmals verwüstet. Die übrigen Täter riefen während einer Vorstellung öffentlich zu Rassenhass auf.

Homophobie – „gesellschaftliche Angst vor Homosexuellen [sowie Transsexuellen und Bisexuellen, A.T.], die oft als ‚pervers‘ angesehen werden“. Homophobe beurteilen jemanden nur aufgrund seiner sexuellen Orientierung.

Ein Beispiel eines homophoben Vorfalls: „Warschau. Am 9. Juni 2009 informierte die Kampagne Gegen Homophobie (Kampania Przeciwko Homofobii) die Redaktion der Zeitschrift ‚NIGDY WIĘCEJ‘ über zwei Fälle von Straftaten aufgrund von Hass gegenüber Personen mit anderen sexuellen Neigungen. Eine lesbische Frau … hatte anonyme telefonische Drohungen erhalten, auch hatte man versucht, ihr Auto anzuzünden. Das Opfer erstattete Anzeige bei der Polizei, die jedoch behauptete, sie habe für die Einleitung eines Verfahrens zu wenige Beweise vorgelegt. Der zweite Vorfall ereignete sich am 13. Mai in Danzig, wo eine transsexuelle Person von einem Polizisten im Dienst beleidigt wurde. Die Kampagne Gegen Homophobie erhob Klage gegen das Verhalten des Beamten.“ Diese Straftaten und Vorfälle wurden aufgrund einer anderen als „normalen“ sexuellen Orientierung der Opfer begangen. In beiden Fällen ist die Reaktion der Polizei bemerkenswert – sie war nichtheterosexuellen Personen gegenüber gleichgültig oder gar feindlich.

Es kommt im Übrigen nur selten zu „reinen“ Vorfällen, die mit Hilfe einer einzigen Kategorie beschrieben werden könnten. Die Tätermotive sind meist komplexer und die für ihre Beschreibung verwendeten Begriffe haben eine ähnliche Bedeutung. Die Katalogisierung durch den Verein „NIGDY WIĘCEJ“ möchte deshalb eine vorherrschende Tendenz ausmachen, um die Vorfälle und Straftaten möglichst genau erfassen zu können.

Opfergruppen

  • Immigranten, Flüchtlinge, Ausländer auf Besuch in Polen, Vertreter nationaler Minderheiten (Roma, Afrikaner, Tschetschenen, Juden, Vietnamesen, Ukrainer, Russen). In Polen sind sehr oft Fußballspieler mit anderer Hautfarbe und Nationalität Opfer von Rassisten und Neofaschisten.
  • Vertreter religiöser Minderheiten (Juden, Moslems, Buddhisten und andere). Beispiele für Angriffe auf diese Gruppen sind die Verwüstung von (meist jüdischen) Friedhöfen sowie rassistische Aufschriften auf sakralen Gebäuden (meist Synagogen).
  • Feministinnen, Umweltschützer, Homosexuelle. Sie werden oft bei ihren Kundgebungen, bei Konzerten alternativer Musik und Ausstellungen moderner Kunst angegriffen.
  • Behinderte. Sie gelten (bei Rechtsextremen) als „nicht vollwertiges Element“, werden aber auch in manchen staatlichen Institutionen und an öffentlichen Orten diskriminiert.
  • Alternative Jugendliche. Sie äußern ihre Abweichung vom Mainstream der gesellschaftlichen Verhaltensweisen u. a. durch ihr nicht dem Standard entsprechendes Äußeres. Rassisten sind derartigen Personen gegenüber oft gewalttätig. Die Neofaschisten halten sie für ein „nicht vollwertiges Element“ oder für „Schmutzfinken“.
  • Obdachlose. Angriffe auf sie sind in Polen ein großes Problem, das bei der Erfassung von hate crimes ignoriert und nicht berücksichtigt wird.

Entstehung und Notwendigkeit der Katalogisierung

Der Verein „NIGDY WIĘCEJ“ betreibt durch ein Netz von Korrespondenten und durch die Zusammenarbeit mit Minderheiten- und Nichtregierungsorganisationen die umfangreichste und glaubwürdigste Aufarbeitung zum Thema rassistische und neofaschistische Gewalt in Polen. Die monatliche Veröffentlichung von Berichten zu lokalen Aktivitäten von Neofaschisten ist sehr wichtig; hierfür ist eine systematische Informationsgewinnung notwendig. Selbst wenn nichts geschehen ist, sollte dies von den Korrespondenten mitgeteilt werden. So kann beispielsweise der Rückgang rechtsextremer Tendenzen in einer Region dokumentiert werden.

Die Korrespondenten können unterschiedliche Informationsquellen nutzen. So können sie mit lokalen Minderheitenorganisationen zusammenarbeiten und die von ihnen zusammengetragenen Daten nutzen. Oft werden Vorfälle auch von Freiwilligen des Netzwerks gemeldet. Jede Notiz sollte folgende Informationen enthalten: Datum des Vorfalls, dessen genauer Ort, eine genaue Beschreibung (wer waren Opfer und Täter, wie sahen sie aus, was haben sie gesagt, was haben sie getan, gab es Zeugen, wie haben diese sich verhalten, hat die Polizei eingegriffen). Personenbezogene Daten werden von „NIGDY WIĘCEJ“ nicht weitergegeben.

Der Verein „NIGDY WIĘCEJ“ beobachtet seit vielen Jahren rassistische und fremdenfeindliche Vorkommnisse sowie neonazistische Straftaten in Polen. 2009 erschien ein Braunbuch (Brunatna Księga) mit Beschreibungen von Vorfällen zwischen 1987 und 2009; 2011 folgte ein Braunbuch für die Jahre 2009 bis 2010. Es handelt sich hierbei um die umfangreichste und glaubwürdigste Zusammenstellung von Fällen rassistischer und neofaschistischer Gewalt in Polen. Das Braunbuch wird in den Heften der Zeitschrift „NIGDY WIĘCEJ“ und auf der Homepage des Vereins3 veröffentlicht. Medien, internationale Organisationen und Wissenschaftler greifen oft darauf zurück. Die Zusammenarbeit mit den Medien ist ein wichtiger Bestandteil der Vereinsarbeit; sie hat bereits mehrere tausend Zeitungsartikel, Fernseh- und Rundfunksendungen, Dokumentarfilme, Bücher sowie wissenschaftliche Abschlussarbeiten und Dissertationen hervorgebracht.

Aus dem Polnischen übersetzt von Zenona Choderny-Loew.


Zusammenfassung:


  1. FARE steht für das 1999 gegründete Netzwerk „Football against Racism in Europe“ (Anm. d. Redaktion). ↩︎

  2. „88“ weist zweimal auf den 8. Buchstaben des Alphabets und damit indirekt auf den Gruß „Heil Hitler“ hin (Anm. d. Redaktion). ↩︎

  3. http://www.nigdywiecej.org ↩︎