Der Islam – eine traditionelle polnische Religion?

Die muslimische Minderheit in Polen
aus OWEP 4/2015  •  von

Priv.-Doz. Dr. Agata S. Nalborczyk zählt zu den ausgewiesenen Kennern des Islam in Polen. Sie lehrt und arbeitet als Islamwissenschaftlerin, Arabistin und Iranistin am Lehrstuhl für Europäischen Islam an der Universität Warschau sowie als Co-Präsidentin (von der katholischen Seite) des Gemeinsamen Rates von Katholiken und Muslimen in Polen.

Zusammenfassung

Obwohl die Zahl der Muslime in Polen gering ist, bildet diese religiöse Minderheit mit ihrer Geschichte und Tradition einen nicht unwesentlichen Bestandteil der polnischen Gesellschaft. Die polnische Islamwissenschaftlerin Agata S. Nalborczyk blickt in ihrem Beitrag auf die Geschichte des Islam in Polen zurück und zeigt, welche Besonderheiten die Religiosität und Lebensführung dieser Gruppe in der polnischen Gegenwart kennzeichnen.

Einleitung

Wenn man von Religionen in Polen spricht, so kommt westlich der Oder wohl kaum jemandem der Islam in den Sinn. In der allgemeinen Überzeugung sind schließlich fast alle Polen Katholiken. Wer erinnert sich noch daran, dass vor dem Zweiten Weltkrieg die Grenzen Polens weit nach Osten reichten und die Bevölkerung religiös wie ethnisch viel komplexer war?1 Damals befand sich unter den vom polnischen Staat offiziell anerkannten (und finanzierten) Religionen auch der Islam. Obwohl Muslime stets nur einen kleinen Bruchteil der Bevölkerung Polens ausgemacht haben, soll hier diese polnische religiöse Minderheit im Fokus stehen, denn der Islam hat durchaus seinen Platz in der polnischen Geschichte und seine Anhänger sind heute vollwertige Bürger der Republik Polen. Nicht zuletzt erlaubt diese Geschichte einen Blick auf die Besonderheit der polnischen Zeitläufte.

Die Geschichte des Islam in Polen muss im Osten Polens beginnen, in der Gegend von Białystok. Zwei Holzmoscheen – in Kruszyniany aus dem 18. Jahrhundert, in Bohoniki aus dem 19. Jahrhundert – sind ein recht ungewöhnlicher Anblick in der polnischen Landschaft, obwohl sie hinsichtlich ihrer Architektur und der verwendeten Baumaterialien gar nicht so exotisch aussehen, wie man meinen könnte. Ganz ähnlich sind etwa die orthodoxen Holzkirchen der Gegend gebaut. Die hier zu findenden muslimischen Friedhöfe (mizar genannt) lassen noch stärker erahnen, dass es sich um eine jahrhundertealte, tief in der polnischen Geschichte verwurzelte Präsenz handelt. Im Gras sind steinerne Grabmale zu sehen, deren älteste um 1800 errichtet wurden und sowohl Polnisch als auch Arabisch beschriftet sind: Mit dem Glaubensbekenntnis, der Schahada (La ilaha illa-Llah, Muhammad rasulu-Llah), und der Anrufungsformel, der Basmala (Bi-smi-Llahi-r-rahmani-r-rahimi). Die neueren Grabsteine unterscheiden sich abgesehen von Schahada und Basmala anstelle von Kreuz und der auf katholischen Gräbern in Polen allgegenwärtigen Abkürzung „Ś. P.“ (Świętej pamięci – Zum ewigen Angedenken) kaum mehr von den zur gleichen Zeit auf christlichen Friedhöfen aufgestellten Grabsteinen.

Muslimischer Grabstein aus jüngerer Zeit (Aufnahme der Autorin)

Doch die Nachnamen auf den moosüberwachsenen Steinen, die man bei einem langsamen, stillen Spaziergang unter Friedhofsbäumen entziffern kann, klingen oft zwar oberflächlich polnisch, doch darunter schlummert etwas Exotisches: Azulewicz, Alijewicz, Smajkiewicz, Sulkiewicz, Milkamanowicz, Bazarewicz, Józefowicz, Szehidewicz, Korycki, Połtorzycki, Buczacki … Die Vornamen verraten gelegentlich noch mehr: Fatma, Ali, Ajsza, Bekir, Mustafa, Selim oder Chalima, nicht selten aber hat Ali als zweiten Vornamen Adam, und daneben liegen Leon, Maria und Joanna. Natürlich finden sich auch Vornamen, die Muslime und Christen gemeinsam verwenden – Dawid etwa oder Jakub.

Die Geschichte der muslimischen Präsenz in Polen

Die Anwesenheit von muslimischen Tataren in polnischen Landen – aber auch in Litauen, Russland und Finnland – geht auf die Ankunft der mongolischen Goldenen Horde im Osten Europas zurück. Geführt von den Nachfahren Dschingis Khans, hatten sie im 13. Jahrhundert den Islam übernommen. Die durch Assimilation sowie mongolisch-kiptschakische Mischehen entstandene Bevölkerung nennt man Tataren.

Die tatarische Siedlung begann in Litauen, das seit 1385 in Personalunion mit dem Königreich Polen verbunden war. Obwohl die litauischen Fürsten gegen die Goldene Horde gekämpft hatten, hatte der litauische Großfürst Witold (Vytautas) damit begonnen, Tataren anzusiedeln, die Land erhielten, dafür aber Militärdienst leisten mussten.2 Daneben wurde ihnen das Recht auf ihren eigenen Glauben garantiert, sie durften Moscheen bauen sowie ansässige Frauen heiraten – muslimische Tataren betrieben keine Polygamie. In den kronpolnischen Gebieten verlieh Johann III. Sobieski 1679 Tataren Land. Aus dieser Zeit stammen die hiesigen tatarischen Gemeinschaften, die beiden Moscheen sowie eine Reihe von Friedhöfen. Einigen Quellen zufolge soll es im 16./17. Jahrhundert in Litauen und Polen bis zu 25.000 Tataren gegeben haben!

Der rechtliche Status der muslimischen Untertanen polnischer Herrscher wurde im 16. Jahrhundert festgelegt: Wer in der Armee diente (vor allem bei der leichten Reiterei in tatarischen Abteilungen), erhielt Land zu Lehen. Diese tatarischen Armeeangehörigen unterstanden eigenen Offizieren (in Friedenszeit auch in Verwaltungs- und Gerichtsfragen), waren direkte Untertanen des Königs und erreichten langsam einen Sozialstatus, der dem des polnischen und litauischen Adels gleichkam. Die tatarische Reiterei beteiligte sich an allen bedeutenderen Schlachten und Kriegszügen3, von der Schlacht gegen den Deutschen Orden bei Tannenberg/Grunwald 1410 über die Schlacht bei Wien 1683, wo sie ihr neues Vaterland gegen ihre türkischen Glaubensgenossen verteidigten, bis hin zu den nationalen Aufständen des 19. Jahrhunderts. Wie alle patriotisch gesinnten ehemaligen Untertanen des polnischen Königs beteiligten sich die Tataren an allen Aufständen gegen die zaristische Herrschaft, was von dieser bestraft wurde – ein Teil verlor den Adelsstand, andere wurden russifiziert. Infolge der russischen Herrschaft gelangten Muslime im 19. Jahrhundert erstmals auch nach Warschau – vor allem als Soldaten der Zarenarmee. Für sie wurden in Warschau die ersten muslimischen Friedhöfe eingerichtet; der neuere, 1867 an der ul. Tatarska gegründet, wird bis heute genutzt.

Zwischen den Weltkriegen setzten sich die polnischen Muslime zum einen aus Tataren in den alten Siedlungsgebieten und zum anderen in Warschau aus Flüchtlingen zusammen, die aus den sowjetisch besetzten Gebieten gekommen waren, etwa aus dem Kaukasus. Es gab damals 17 Moscheen und zwei Gebetssäle; zum Bau einer Moschee in Warschau kam es allerdings nicht, da die von der muslimischen Gemeinschaft zu diesem Zweck gesammelten Gelder am Vorabend des Zweiten Weltkriegs an den Nationalen Verteidigungsfonds übergeben wurden.

1925 gründeten die polnischen Muslime die „Muslimische Religionsvereinigung in Polen“ (Muzułmański Związek Religijny w Rzeczypospolitej Polskiej) – eine der ältesten muslimischen Kultusgemeinden Europas – und wählten einen Mufti, den u. a. in Deutschland ausgebildeten Orientalisten Jakub Szynkiewicz (1884-1966). 1936 wurde die muslimische Religion vom polnischen Parlament mit dem „Gesetz über das Verhältnis des Staates zur Muslimischen Religionsvereinigung in der Republik Polen“ offiziell als Religion anerkannt – damit von Polen als viertem europäischem Staat nach Österreich, Ungarn und Finnland. Die Religionsvereinigung erhielt vom Staat finanzielle Mittel für ihre Aktivitäten und in öffentlichen Schulen wurde muslimischer Religionsunterricht angeboten. 1936 wurde für die polnischen Muslime ein Regiment des 13. Korps der Wilnaer Ulanen gegründet, in dem es einen eigenen Militärimam gab. In dieser Einheit kämpften sie 1939, viele von ihnen waren später im Bezirk Wilna der Heimatarmee aktiv, aber auch an allen anderen Fronten des Zweiten Weltkriegs.

Die Gegenwart

Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangten 90 Prozent derjenigen Gebiete, in denen polnisch-litauische Tataren lebten, unter sowjetische Herrschaft. Im polnischen Staat befanden sich nur drei Gemeinden der Vorkriegszeit – Warschau sowie Kruszyniany und Bohoniki (diese beiden mit den alten Holzmoscheen). Tataren verließen aber auch gemeinsam mit anderen polnischen Staatsbürgern im Rahmen der „Repatriierung“ ihre an die litauische bzw. weißrussische SSR angegliederte Heimat und siedelten sich in den neuen polnischen Westgebieten an, die bis 1945 zu Deutschland gehört hatten.

Viele Imame waren im Krieg gestorben oder ausgewandert, viele materielle Kulturgüter waren in der Sowjetunion geblieben, aber auch die Zerstreuung in den Westgebieten sowie das kommunistische Machtsystem gestalteten die religiöse Lage der Muslims alles andere als einfach. Eine Zeitlang gab es nur noch Imame, die vor dem Krieg ausgebildet worden waren und nun schon sehr alt waren (der älteste polnische Imam, Stefan Mustafa Jasiński, starb am 4. September 2015 im Alter von 104 Jahren). In Polen gab es keine Ausbildungsmöglichkeiten, und ins Ausland durfte man nicht reisen. Anders als in den benachbarten Sowjetrepubliken ließen sich die polnischen Kommunisten aber nicht dazu hinreißen, Moscheen und Friedhöfe zu schließen oder gar zu zerstören.

Da Polen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Ostblock gehörte, trafen langsam neue Muslime in Polen ein, Zuwanderer, anfangs nur in kleiner Zahl und oft auch nur dem Papier nach muslimischen Glaubens. Es waren Studenten vor allem aus arabischen Staaten, aber auch Flüchtlinge aus dem Iran oder Afghanistan. Beide Gruppen waren religiös wenig aktiv, da sie als Studenten Vertreter von Staaten waren, die sich anstrengten, sozialistische Systeme aufzubauen, oder aber es waren geflüchtete Mitglieder kommunistischer Parteien – etwa Angehörige der iranischen Tudeh-Partei, die sich als Atheisten verstanden. In den 1980er Jahren vergrößerte sich die Zahl der Studenten (vor allem Medizin, Natur- und Ingenieurwissenschaften) aus den arabischen Ländern erheblich, viele von ihnen ließen sich nach Ende des Studiums in Polen nieder, gründeten Familien und erhielten die polnische Staatsbürgerschaft. Anfangs waren sie wenig religiös, doch mit der Zeit knüpften sie Kontakte zu ansässigen Muslimen, den Tataren, und als der Sturz des kommunistischen Blocks immer näher rückte und das muslimische religiöse Leben aufblühte, hatten auch sie daran ihren Anteil.

Nach der Systemtransformation von 1989 und der Grenzöffnung kamen weitere Muslime nach Polen. Zwar studieren nach wie vor viele, doch immer häufiger sind sie hier wirtschaftlich aktiv. Anders als in den Staaten Westeuropas, etwa in Deutschland, sind es keine anfangs ungebildeten Gastarbeiter, sondern vor allem Araber, aber auch Türken (sogar sehr wohlhabende) oder Bosniaken. Interessanterweise wurden die meisten Dönerbuden in Polen bis vor kurzem von Arabern geführt, erst unlängst haben Türken damit begonnen, ihnen Konkurrenz zu machen. Zugewanderte Muslime in Polen sind nach wie vor oft politische Flüchtlinge, anfangs vor allem aus dem Irak, aus Afghanistan oder Bosnien, heute ist insbesondere der Zustrom von Flüchtlingen aus Tschetschenien und Syrien groß4 – für viele von ihnen ist Polen allerdings nicht das Zielland ihrer Migration, sie wollen vielmehr weiter nach Westen. Die relativ geringe Zahl von Zuwanderern in Polen – was auch Zuwanderer muslimischen Glaubens betrifft – kommt somit ihrer Integration entgegen, da keine geschlossenen Gemeinschaften entstehen können und sie selbst Polnisch lernen müssen, das sie bei der Arbeit, beim Medienkonsum oder in der Schule brauchen.

Daten über die Zahl der Muslime in Polen gibt es nicht, da bei den Volkszählungen nicht nach der Religion gefragt wird und unterschiedliche Schätzungen kursieren. Die Zahl der Tataren wird auf etwa 5.000-6.000 geschätzt, die Zahl der zugewanderten Muslime beträgt 20.000-30.000. Insgesamt macht das geringe 0,06-0,08 Prozent der Bevölkerung Polens aus.

Eine polnische muslimische Tanzgruppe (Foto: Michał Nalborczyk)

Die Existenz der muslimischen Gemeinschaft in Polen hängt von den rechtlichen Vorschriften und Traditionen zusammen, die aus einer Zeit stammen, als die Tataren die einzigen Muslime waren (das Gesetz von 1936 ist immer noch in Kraft), und dies in einer Gegenwart, in der die Tataren die Minderheit und die zugewanderten Muslime die Mehrheit darstellen. Neben der Muslimischen Religionsvereinigung in der Republik Polen, deren Mitglieder größtenteils Tataren und nur in geringerer Zahl Türken sind, gibt es in Polen vier weitere registrierte muslimische Religionsgemeinschaften: eine sunnitische, die Muslimische Liga in der Republik Polen (Liga Muzułmańska w RP), in der sich hauptsächlich Araber, Konvertiten und ihre Familien organisieren, zwei schiitische, die Vereinigung für Islamische Einheit (Stowarzyszenie Jedności Muzułmańskiej) und die Islamische Vereinigung Ahl-ul-Bayt (Islamskie Zgromadzenie Ahl-ul-Bayt), sowie eine nicht orthodoxe Organisation, die Muslimische Vereinigung „Ahmadiyya” (Stowarzyszenie Muzułmańskie „Ahmadiyya”).

Die Existenz zweier sunnitischer Religionsgemeinschaften mit ähnlichen Statuten, von denen jede einen eigenen Mufti besitzt und alle Sunniten in Polen vertreten möchte, erklärt sich aus den Spannungen zwischen den polnischen muslimischen Tataren und den meist arabischstämmigen Zuwanderern, die den Islam in einer etwas anderen Weise praktizieren. Die Auseinandersetzungen betreffen vor allem die religiöse Praxis – so tragen die Tatarinnen ausgenommen in der Zeit des Gebets – kein Kopftuch, denn in dogmatischen Fragen gibt es keinen Unterschied zwischen ihnen. Araber (und Konvertiten) werfen den Tataren geringes religiöses Wissen, schwache Kenntnis des Arabischen u. a. vor. Den Tataren wiederum gefällt vielfach die „Arabisierung“ ihrer Religion nicht, wie sie die konservative Auslegung und Praxis nennen, auch nicht die Zurechtweisung und Belehrung, wie der Islam eigentlich auszuüben sei. Diese Lage wird sich sicherlich noch weiter verkomplizieren, wenn sich die Krimtataren religiös zu betätigen beginnen, die sich nach der russischen Annexion der Krim in immer größerer Zahl und mit Unterstützung ihrer polnischen Verwandten in Polen niederlassen.

Insgesamt kann man sagen, dass das religiöse Leben der polnischen Muslime auf keine größeren Schwierigkeiten stößt – Moscheen und muslimische Friedhöfe existieren, in den staatlichen Schulen findet Islamunterricht statt, es gibt muslimische Religions- und Kulturorganisationen, die für ihre Aktivitäten öffentliche Gelder erhalten, die Behörden laden Vertreter der Muslime zu den Staatsfeiertagen ein, und unlängst hat das Verfassungsgericht entschieden, dass das Verbot des Schächtens nicht mit dem Recht auf freie Religionsausübung zu vereinbaren ist.

Aus dem Polnischen übersetzt von Peter Oliver Loew.


Fußnoten:


  1. Nach der Volkszählung von 1931 machten Katholiken des römischen Ritus ca. 65 Prozent der Bevölkerung aus, ca. 12 Prozent waren orthodox, ca. 10 Prozent griechisch-katholisch, ca. 10 Prozent jüdisch und knapp 3 Prozent protestantisch. ↩︎

  2. Diese Gebiete befinden sich heute in Litauen und Weißrussland, wo in vielen Orten noch Moscheen und muslimische Friedhöfe existieren. ↩︎

  3. Sie müssen tapfer gekämpft haben, da es in dem „Gedicht über den Reiterkrieg 1519-1521“, einer Lobpreisung des letzten preußischen Hochmeisters des Deutschen Ordens Albrecht von Hohenzollern, heißt: „Die Thattern dorneben seint nicht gutt, / Sie han vergossen vil christlich blut.“ Das Lied berichtet auch von 30.000 Polen und Tataren („Polen und Tatthern ein grosse schar XXXM unser feinde“), was natürlich übertrieben ist. ↩︎

  4. Offiziell haben seit 2007 1.800 Personen mit russischer Staatsbürgerschaft in Polen um Asyl gebeten. ↩︎