„Auf, die Heimat ruft, Magyaren!“

Sándor Petőfi, unvergänglicher Held Ungarns
aus OWEP 3/2020  •  von Tünde Császtvay

Dr. Tünde Császtvay ist Literatur-, Kultur- und Pressehistorikerin. Sie ist u. a. tätig als Professorin an der Katholischen Péter-Pázmány-Universität in Budapest, war von 2012 bis 2017 stellvertretende Generaldirektorin des Ungarischen Nationalmuseums und arbeitet dort seit 2017 als Hauptkuratorin und Projektleiterin.

Zusammenfassung

Sándor Petőfi: der bekannteste Dichter Ungarns, eine der Führungsgestalten der ungarischen bürgerlichen Reformbestrebungen im 19. Jahrhundert, bis heute die Symbolfigur der Wandlung zur Nation und der nationalen Selbstständigkeit. Er war Ungarns erster Dichter, der seinen Lebensunterhalt allein aus Einkünften für seine Veröffentlichungen bestritt. Seine Dichtkunst erneuerte die ungarische Lyrik. Petőfis Bekanntheit und der Kult um ihn sind seit fast 200 Jahren ungebrochen.

Unvergessene Symbolgestalt

Es liegt etwas Überraschendes darin, dass in Ungarn seit 2012 jedes Jahr besondere Musikwettbewerbe stattfinden. Bekannte Schauspieler, umschwärmte Rapper, Slammer und Popbands kreieren dabei ein Remake eines der vornherein festgelegten Gedichte von Sándor Petőfi, die eigentlich zu den literarischen Klassikern zählen. Jahr für Jahr wird ein vorher ausgewählter Vers musikalisch modern umgesetzt und am 15. März während einer abendlichen Galavorstellung des Nationalfeiertages vorgetragen.

Schon Teenager singen die neuen Petőfi-Lieder als Schlager, die Siegertitel sind über Monate im Programm des Jugendsenders „Petőfi Rádió“ zu hören. Die Veranstaltung nannte sich Pilvaker (inzwischen tritt der österreichische Getränkehersteller Red Bull als Sponsor auf, deshalb heißt sie heute Red Bull Pilvaker) und verweist damit auf die radikalliberale Gruppierung der jungen Generation von Schriftstellern, deren Stammlokal das Café Pilvax in der Innenstadt ist. Der Untertitel des musikalischen Ereignisses lautet „Revolution der Worte“. Er signalisiert, dass man damit der ungarischen Revolution (1848/1849) und deren Symbolgestalt Sándor Petőfi gedenkt.

Nehmen wir einmal an, wir würden im heutigen Ungarn ein Experiment durchführen. Aufs Geratewohl sprechen wir auf der Straße einen jungen oder älteren Menschen, eine Frau oder einen Mann, einen Gebildeten oder einen Arbeiter – auf dem Land oder in der Hauptstadt – an und bitten sie, uns schnell einen ungarischen Dichter zu nennen. Ganz bestimmt würden mindestens Dreiviertel der Befragten Sándor Petőfi nennen. Auf die Frage, wie er in ihren Gedanken fortlebt, würden die meisten voraussichtlich antworten: Am 15. März 1848 hat er bei der Eröffnung des Freiheitskampfes um die ungarische Unabhängigkeit, auf der Balustrade des ungarischen Nationalmuseums stehend, mit der rechten Hand zum Himmel weisend, das berühmteste Gedicht der revolutionären Tage, das Nationallied (1848, Nemzeti dal), rezitiert:

Auf, die Heimat ruft, Magyaren!
Zeit ist's, euch zum Kampf zu scharen!
Wollt ihr frei sein oder Knechte?
Wählt! Es geht um Ehr und Rechte!
Schwören wir beim Gott der Ahnen:
Nimmermehr
beugen wir uns den Tyrannen!
Nimmermehr!

Sklaven waren wir, Verräter
an dem Geiste unsrer Väter,
die im Grab nicht Ruhe fanden,
seit die Freiheit ging zuschanden.
Schwören wir beim Gott der Ahnen:
Nimmermehr
beugen wir uns den Tyrannen!
Nimmermehr!

Fluch dem Wicht, der jetzt versagte,
feige nicht zu kämpfen wagte,
dem sein Leben teurer wäre
als des Vaterlandes Ehre!
Schwören wir beim Gott der Ahnen:
Nimmermehr
beugen wir uns den Tyrannen!
Nimmermehr!

Statt die Ketten zu zerschlagen,
haben wir sie stumm ertragen.
Rühmlicher und ehrenwerter
sind für Männerhände Schwerter!
Schwören wir beim Gott der Ahnen:
Nimmermehr
beugen wir uns den Tyrannen!
Nimmermehr!

Waschen wir mit Blut die Schande
weg von unsrem Vaterlande,
dass sein Schild in allen Breiten
strahle wie zu alten Zeiten!
Schwören wir beim Gott der Ahnen:
Nimmermehr
beugen wir uns den Tyrannen!
Nimmermehr!

Unsre Kinder sollen später
an den Gräbern ihrer Väter
stets in dankbarem Gedenken
ehrfurchtsvoll die Häupter senken!
Schwören wir beim Gott der Ahnen:
Nimmermehr
beugen wir uns den Tyrannen!
Nimmermehr!

(Übersetzung: Martin Remané)

Frühe Legendenbildung

Bis heute ist unbestritten, dass Petőfi im ungarischen literarischen Kanon seinen Platz unter den bekanntesten Dichtern einnimmt. Er war zweifelsohne ein romantischer Künstler mit großem Talent, ein instinktives und originelles Dichtergenie, durch dessen Schaffen sich die ungarische Lyrik radikal veränderte. Es stimmt dennoch nachdenklich: Warum ist und bleibt er bis heute so außergewöhnlich?

Bei dem Versuch, dieses Rätsel aufzulösen, sei daran erinnert, dass Petőfi an dem verregneten Nachmittag des Tages, der als Tag der ungarischen Freiheit gilt, auf den Treppen des Nationalmuseums den zur Hymne der Pester Revolution gewordenen Vers nicht vortrug. Sein legendärer Auftritt vom 15. März ist Teil der Petőfi-Legende, und wie sie zustande kam, lässt sich erklären. Denn Petőfi rezitierte das Nationallied an jenem wichtigen Tag viermal. Er trat auf verschiedenen Schauplätzen der Revolution mit seinem Freund Mór Jókai auf, der später internationale Erfolge erzielte und zum ungarischen Schriftstellerfürsten aufstieg. Dieser las der Menschenmenge die „Zwölf Punkteˮ vor, in denen die Forderungen der Ungarn zusammenfasst waren.

Wollen wir das Leben und Schaffen des bekanntesten ungarischen Dichters darstellen, so stoßen wir immer wieder auf solche Legendenbildungen. Sándor Petőfi starb sehr jung, mit 26 Jahren, in einer der letzten Schlachten des ungarischen Freiheitskampfes und blieb verschwunden. Die historisch verbürgten Begebenheiten in seinem Leben wurden allerdings schon zu seinen Lebzeiten miteinander vermischt und führten zu widersprüchlichen Darstellungen.

Zeitgenossen schildern den Dichter als keinen einfachen Charakter, sondern als eigenwillig und hitzig. Petőfi sagte über sich selbst, er sei krankhaft aufrichtig und schrecke vor Beleidigungen nicht zurück. So hielt er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg und trat mit Vehemenz für seine Ansichten ein. Petőfi sei auch kein schöner Mann gewesen, heißt es.

Dennoch gab es etwas Beunruhigendes, originell Anziehendes und Besonderes an ihm. Sein dichterisches Talent kam sehr früh zum Ausdruck, ebenso sein glühender Glaube an sich selbst und seine Sehnsucht nach Freiheit und Gerechtigkeit.

Die Anfänge seines Lebenswegs

Petőfi wurde am 1. Januar 1823 als Alexander Petrovics (Petrovič) in Kiskőrös geboren, einem kleinen Ort in der ungarischen Tiefebene – zumindest wurde er an diesem Tag getauft und sein Name in das evangelische Kirchenbuch eingetragen. Petőfi schrieb diesem Datum gleichsam eine magische Wirkung zu. Es wurde ihm zur Gewohnheit, am Ende jedes Jahres vor seinem Geburtstag in einem zusammenfassenden Gedicht die Bilanz des Vorjahres zu ziehen (Sylvesternacht, Szilveszter éje 1847-ben; Zum Jahresabschluß 1848, Az év végén).

Sándor Petőfi (Lithografie von 1848) - Quelle: Wikimedia Commons (gemeinfrei)

Petőfis Vorfahren waren Gewerbetreibende und stammten aus dem Oberland; heute würden wir sagen, sie waren slowakischer Abstammung und Nationalität. Sein Vater war Mieter einer Kneipe und einer Metzgerei. Die Familie lebte aber seit seiner Geburt schon auf ungarischem Sprachgebiet. Der Vater hielt es deshalb für besonders wichtig, dass sein Sohn von klein auf Ungarisch sprach. Deshalb ließ er ihn bis zuletzt in ungarische oder deutsche Schulen gehen – in erster Linie in die der evangelischen Konfession. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert spielten die sprachliche und die nationale Zugehörigkeit noch keine entscheidende Rolle. Eine viel stärkere, identitätsbildende Kraft war, dass sich jeder Einwohner des Landes für einen Untertanen der ungarischen Krone hielt. Ferenc Kerényi, einer der gründlichsten und letzten Petőfi-Biographen, schreibt dazu: „Als der neue romantische Nationsbegriff die Sprache zum primären Kriterium erhob, benutzte Sándor Petőfi – bewusst – schon das Ungarische als Muttersprache.”

Petőfi war kein besonders guter Schüler, las aber sehr viel und wollte Schauspieler werden. Diese Berufswahl galt in der beginnenden ungarischen Reformzeit, einer Zeit der bürgerlichen Umgestaltung und Modernisierung, bei jungen Leuten nichtadeliger Abstammung als Feld romantischer Selbstverwirklichung. Petőfi versuchte es bei mehreren Theatergruppen, zeigte jedoch auf der Bühne kein besonderes Talent und übernahm deshalb nur kleinere Rollen.

Erste Gedichte schon auf der Schulbank

Er verfasste jedoch schon auf der Schulbank Gedichte, ein erster Sammelband wurde im Sommer 1841 fertig. Der Dichter schrieb im Volksliedformat, aber in einer völlig neuen Sprache, die zeigte, dass dass er die deutschen Dichter Heinrich Heine und Friedrich Schiller gelesen hatte. Mit seiner Lyrik erneuerte er die damals anerkannten antiken Dichtungsformen und näherte die Verssprache der ungarischen Umgangssprache an. Seine Gedichte brachten auch in ihren Themen eine erkennbare Veränderung mit sich. Neben dem Besingen der Liebe tauchten nun Charakter- und Genrebilder auf, sodass auch Alltagsgegenstände zum Objekt der Dichtung wurden.

Da sein Vater 1841 Pleite ging, musste sich Petőfi schon früh um ein Einkommen bemühen, um sein Studium abzuschließen. Im Studienjahr 1841/1842 trat er in das berühmte Kollegium der reformierten Kirche in Pápa (Westungarn) ein. Dort lernte er Schriftsteller- und Künstlerfreunde kennen, die zu seinen späteren Mitkämpfern wurden. Das erste Gedicht wurde in der landesweit bekannten Zeitung Athenaeum veröffentlicht. Der Vers „Der Zecher“ (A borozó) erschien am 22. Mai 1842 noch unter dem Namen Sándor Petrovics. Petőfis Name wurde zwar offiziell nie magyarisiert, aber unter seinem Gedicht „Auf heimatlicher Erde“ (Hazámban) jedoch, das am 3. November 1842 in Athenaeum publiziert wurde, stand schon diese Namensform – und sie blieb dann auch bis zum Ende seines Lebens.

Erste literarische Erfolge

Nachdem er eine Stelle als Privatlehrer verloren hatte, versuchte sich der nun völlig mittellose Petőfi erneut als Schauspieler – ohne Erfolg. Er ging als Schreiber nach Preßburg, dem Sitz des damaligen ungarischen Landtags. Obwohl er von seinem mageren Verdienst noch nicht einmal seine Lebenshaltung bestreiten konnte, bot diese Arbeit auch große Vorteile: Petőfi traf auf die gesamte Garde der jungen ungarischen Literatur. Seine Kollegen wurden während der Veränderungen in der Reformzeit und später in der ungarischen bürgerlichen Revolution wichtige Mitstreiter.

Von 1844 an stieß Petőfis Dichtkunst auf immer mehr Anerkennung. Seine Aufnahme in die engsten Kreise ungarischer Literaten erfolgte mit einem symbolhaften Ereignis: Der „Verein der Freunde von Literatur und Kunst“, dem Mitglieder des liberalen Schriftstellerkreises angehörten, veröffentlichte seine Gedichte und unterstützte ihn mit Geldspenden. Außerdem erhielt er bei einem der populärsten Literaturblätter eine Anstellung als Hilfsredakteur.

Der Dichter des Volkes

Seine Leserschaft nahm stets zu, sowohl in den Reihen der Männer als auch der Frauen. Die Herausgabe der Petőfi-Gedichtbände wurde immer lukrativer, wenn auch nicht unbedingt für den Autor. Man betrachtete ihn als Dichter des Volkes, der sich scheinbar aus dem Nichts auf die höchsten Gipfel der ungarischen Literatur erhoben hatte. Die Pester Zeitung schrieb, Petőfi sei „... der ungarische Béranger oder Csokonai redivivus ...“1. Dieser Popularität setzte Petőfi mit seinem am 6. März 1845 erschienenen epischen Gedicht „János vitéz“ (1844, Held János) die Krone auf. Das Werk, in dem ein mittelloser Held des Volksmärchens zum Retter seiner Liebe und seines Vaterlandes wird, gehört bis heute zum Lehrstoff in den Grundschulen Ungarns. Aus diesem Gedicht entstanden später zahlreiche Bühnenwerke, Filme und sogar ein Singspiel. Neben seinem dichterischen Werk wirkte Petőfi auch meisterhaft als Übersetzer und übertrug unter anderem mehrere Werke Shakespeares ins Ungarische.

Die heutige Forschung deutet das lyrische Werk immer mehr um, denn nach 1845 vertiefte sich Petőfis patriotische Lyrik. Zum einen besang er den Ort seiner Geburt, die ungarische Tiefebene und die beispiellose Schönheit seiner Heimat. Er fand aber auch in der Landschaftsdichtung völlig neue Töne. Naturphänomene dienten bei ihm der Personifizierung menschlicher, gesellschaftlicher Verhältnisse und ihrer Interpretation. Zum anderen ist in seiner Lyrik die Problematik von Liebe, Vaterland und Freiheit immer stärker verflochten.

Die Liebe zur Revolution

Von 1846 an wissen wir, dass er englische und vor allem französische Revolutionsgeschichten liest, beispielsweise das Werk des französischen Historikers François-Auguste Mignet „Geschichte der französischen Revolution“. Tatkräftig ging Petőfi an den Aufbau einer Organisation: Mit seinen Schriftstellerkollegen gründete er die Gesellschaft der Zehn, die sich für die Interessen von Schriftstellern einsetzte, aber auch radikalen politischen Zielen verschrieb. In dem Gedicht Brief an Antal Várady (1846, Levél Várady Antalhoz) tauchte sogar schon die Vision des Freiheitskampfes auf: … „Nun glaub ich wieder, daß die Morgenröte / glorreicher Tage nicht mehr ferne ist! / Europas Völker werden kühn erheben / ihr schändlich in den Staub getretnes Haupt, / mit einem Schrei, der um den Erdball donnert: / ‚Wir wollen Menschen, nicht mehr Sklaven sein!‘ / Die Zeit wird blutig werden, doch voll Größe. / Das Blut, das fließen wird, es fließt zu Recht! / Der Sintflut gleich muß eine Blutflut kommen, / damit die Erde endlich sauber wird, / von allem Unrat rein, der sie verpestet. / Ja, rein und schön wird unsre Erde sein, / wenn diese Blutflut wieder abgeflossen.“ …

Von 1847 an veränderte sich das Bild des Volksdichters auch in den Augen seiner Berufskollegen: Petőfi errang den Status eines Nationaldichters. So beschrieb ihn der Schriftsteller József Eötvös, erster ungarischer Kultusminister der Revolution 1848 und der späteren Österreichisch-Ungarischen Monarchie: „Petőfi ist auf hervorstechende Weise ungarischer ... im wahrsten Sinne des Wortes Nationaldichter – und das ist es, was ... zugleich das Wichtigste seiner literarischen Verdienste darstellt.“

Aufmerksam verfolgte Petőfi die Veränderungen in der europäischen großen Politik und verglich sie mit seinem eigenen Nationsbegriff. Seine zweifelnde Antwort auf die Problematik der adeligen Nation und seine feindliche Haltung gegenüber den Aristokraten verstärkten sich. Immer wieder beteuerte er, dass er sogar bereit wäre, für die Weltfreiheit und das Vaterland den „Heldentod“ zu sterben. In einigen Gedichten beschrieb er gleichsam ein Aktionsprogramm für den Fall einer bürgerlichen Revolution, die für Ungarn die Unabhängigkeit bringen sollte.

Die Liebe zu Júlia Szendrey

Und dabei fand er endlich eine würdige Lebenspartnerin. Trotz eines Verbots der Eltern des Mädchens und nach einer mehr als einjährigen Wartezeit heiratete Petőfi am 8. September 1847 Júlia Szendrey, die gesellschaftlich weit über ihm stand.

In Petőfis „Júlia-Versen“ nahm die moderne ungarische Liebeslyrik ihren Anfang. Während der Flitterwochen des Paares besang der Dichter auch intime, erotische und düstere Momente, die in der Lyrik bis dahin unvorstellbar gewesen waren – allerdings ließ er diese Verse nicht veröffentlichen. Das private Tagebuch seiner Gattin wurde jedoch – mit Sinn für Geschäfte und Marketing – samt Júlias Porträt in der Zeitung Életképek (Genrebilder) publiziert. Es wurde ein Bestseller und trieb die Verkaufszahlen der ohnehin gefragten Petőfi-Gedichtbände weiter nach oben. Während der Flitterwochen in Koltó schrieb Petőfi auch eines seiner berühmtesten Gedichte „Ende September“ (1847, Szeptember végén). Darin prophezeite er seinen Tod in einer Schlacht der Weltrevolution und die Wiedervermählung seiner Witwe:

Noch wagen im Tal sich die Blumen an das Licht,
Noch grünt das Pappellaub in Baumeswipfeln,
Doch schau hinüber zu den Bergen, siehst du nicht
Den ersten Schnee auf ihren hohen Gipfeln?
Jung glüht mir noch der Sommer tief im Herzen,
Darin die Kraft des Frühlings, sein Beginnen,
Schon naht der Winter und mit ihm die Schmerzen,
Mein Haar ergraut, sein Rauhreif trifft mich innen.

Blütenblätter fallen, Kraft entflieht dem Leben,
Komm zu mir Liebste, setz dich auf meinen Schoß!
Du ganz nah bei mir, mehr Glück kann es nicht geben,
Trauer an meinem Grab, wird das dein künftig Los?

Sag nur, wenn ich vor dir sterben soll, wirst du
an meinem Leichnam stehn und mich beweinen?
Und kommt ein neuer Mann, sag nur, lässt du es zu,
Wirst du mit dessen Namen mich verneinen?

Wenn du dich dann befreist vom Witwentuche,
Um es als Fahne an mein Kreuz zu heften,
Dann steig ich aus dem Grab hervor und suche,
Das Tuch zu holen, nachts, mit allen Kräften,
Um damit meine Tränen aufzufangen,
Die Wunden meines Herzens zu versorgen,
Denn du hast unsre Liebe hintergangen,
Ewige Liebe, gestern, heute, morgen!

(Übersetzung: Wilhelm Droste)

An der Revolution nahm Petőfi aktiven Anteil. Er setzte sich für Pressefreiheit ein, übernahm politische Aufgaben, erlebte jedoch in der politischen Arbeit viele Enttäuschungen und war mit zahlreichen Maßnahmen der revolutionären Regierung unzufrieden. In einer der letzten Schlachten verliert sich seine Spur. Bis heute weiß man nicht, wo und wann Petőfi gefallen ist. Seine Teilnahme an der Schlacht bei Fehéregyháza (Weißkirch bei Schäßburg im heutigen Rumänien), sein Verschwinden und der Kult um ihn haben ihn zum Nationalhelden gemacht. Petőfi gilt nicht nur als Symbol des Freiheitskampfes 1848/1849 für die selbstständige ungarische Staatlichkeit, sondern auch für die Idee der ungarischen Nation.

Legendenbildung nach Petőfis Tod

Seither haben Petőfis rätselhafte Vorahnungen, seine Prophezeiungen und sein ungeklärter Tod zur Legendenbildung beigetragen. Seine mittellose Witwe Júlia heiratete erneut noch vor Ablauf des Trauerjahres und erntete dafür viel Kritik und Verachtung. Einige Pseudo-Petőfis tauchten auf, die sich für den vermissten Dichter ausgaben und haarsträubende Geschichten verbreiteten. Die berüchtigtste war eine Legende, die seit den 1870er-Jahren kursierte, jedoch jeder Grundlage entbehrte. So wurde behauptet, Petőfi sei als Kriegsgefangener nach Sibirien verschleppt worden, wo er angeblich ein neues Leben führe.

Während der langen und harten Jahre des Neoabsolutismus (1850–1867) nach der Niederschlagung des Freiheitskampfes kopierten die Ungarn heimlich Petőfi-Gedichte, Petőfi-Reliquien wurden versteckt. Das Verschweigen steigerte das Interesse an seinem Werk noch mehr. Die Herausgabe der Gesamtwerke von Petőfi versprach einen gewaltigen finanziellen Erfolg, wurde aber erst zum Ende des 19. Jahrhunderts realisiert – voller Fehler und von Skandalen und Prozessen begleitet.

Vorbild für viele Schriftsteller

Damalige „Influencer“ in Literatur und Literaturkritik rückten Petőfi schon seit den 1850er-Jahren in die Nähe der Heroen des Reformzeitalters. Sein lyrisches Lebenswerk – bestehend aus etwa 850 erhalten gebliebenen Gedichten – ist zum Maßstab geworden. Der Schriftsteller László Németh beschrieb dieses Phänomen in den 1930er-Jahren plastisch so: „Petőfi ist das größte Licht der ungarischen Literatur. Beweis dafür ist, dass wir unsere gesamte Literatur unter seinem Glanz sehen … Petőfi ist ein solch großes Andenken des ungarischen Geistes, dass wir uns von ihm nicht befreien können.“

Aber auch Missdeutungen haben Petőfis Lebenswerk begleitet. Der kommunistische Machthaber Mátyás Rákosi behauptete in einer Rede 1946, dass sich Petőfis Gedichte zur Festigung seiner aktuellen politischen Ziele anböten. Aus dem Petőfi, der zu Lebzeiten immer Feuer und Flamme für die (bürgerliche) Weltrevolution war, sollte auf diese Weise ein internationalistischer Revolutionär werden, ja sogar ein Kryptokommunist. Die marxistischen Petőfi-Interpretationen versuchten, sein Schaffen zu verbiegen: Sie waren darum bemüht, seine Liebe zu Júlia als Klassenkampf der Gefühle und sein Werk als Kritik am Kapitalismus umzudeuten. In den vergangenen zehn Jahren ist Petőfi jedoch in der öffentlichen Debatte unter den ungarischsprachigen Bewohnern des Karpatenbeckens immer mehr zum Symbol für Mut und Freiheitswillen geworden – und, wie Ministerpräsident Viktor Orbán in seiner Rede vom 15. März 2016 formulierte – „zu einem Helden geworden, der die Anerkennung und die Rückgabe der Rechte, die der Nation entzogen und verwehrt wurden, gefordert hatte.“ Bis heute ist der 15. März der wichtigste Feiertag auch für die außerhalb des Landes lebenden ungarischen Minderheiten und das Symbol der Bewahrung der ungarischen nationalen Identität.

Heute bin ich zuversichtlich, dass wir Petőfi endlich so lieben und schätzen können, wie es der Literaturhistoriker Béla Németh auf den Punkt gebracht hat: „Im Ausland ist Petőfi bis heute der bekannteste ungarische Dichter. Er ist der ungarische Liebling der Götter. Er hat alles erhalten, um ein großer Dichter werden zu können: Talent, Geschichte, Schicksal. Er lebte sechsundzwanzig Jahre und hinterließ ein Lebenswerk von weltliterarischem Rang und Ausmaß, das einen Epochenwandel in der Literatur seiner Nation bedeutete.“

Aus dem Ungarischen übersetzt von Katalin Kékesi.


Fußnote:


  1. Anspielung auf den im frühen 19. Jahrhundert populären, inzwischen kaum mehr bekannten französischen Dichter Pierre-Jean de Béranger (1780-1857) und auf den ungarischen Dichter Mihály Csokonai Vitéz (1773-1805). (Anmerkung d. Redaktion) ↩︎