Bulgariens größtes Glaubens- und Kulturheiligtum: das Rila-Kloster

aus OWEP 1/2020  •  von Bojidar Andonov

Prof. Dr. Bojidar Andonov ist Lehrstuhlinhaber für Religionspädagogik und Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Sofia. Seit 2009 wirkt er auch als Lehrbeauftragter für Homiletik/Religionsunterricht und Pastoraltheologie am Institut für Orthodoxe Theologie der Ludwigs-Maximilian-Universität München.

Zusammenfassung

Das Rila-Kloster in Bulgarien ist seit einem Jahrtausend das geistesgeschichtliche Zentrum der Bulgarischen Orthodoxen Kirche. Darüber hinaus hat die gesamte Anlage, wie der nachfolgende Beitrag belegt, als architektonisches Ensemble eine herausragende Bedeutung, sodass es auch in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen worden ist.
Die heutige Klosteranlage in der Gebirgslandschaft Südwestbulgariens geht in ihren Anfängen auf das Wirken des heiligen Ivans von Rila im 10. Jahrhundert zurück. In seiner tausendjährigen Geschichte hat sich das Rila-Kloster nächst dem Berg Athos zum bedeutendsten orthodoxen Heiligtum der Balkanhabinsel und zum Kristallisationspunkt der bulgarischen Kultur entwickelt.

Das Vermächtnis Ivans von Rila

In seiner historischen Entwicklung schafft jedes Volk geistige und materielle Werte, von denen manche Höchstleistungen des Denkens und des künstlerischen Schaffens sind, die nicht nur seine eigene, sondern auch die menschliche Kultur insgesamt bereichern. Denkmäler dieser Art sind historisches Beweismaterial für die schöpferische Kraft eines Volkes und bestätigen unbestritten sein Existenzrecht und seinen „Ehrenplatz“ in der Entwicklung der Weltzivilisation.

Für uns Bulgaren ist das Rila-Kloster eines der wertvollsten Zeugnisse des Wertes der von unseren Vorfahren geschaffenen geistigen und künstlerischen Kultur, ein religiöses und literarisches Zentrum, das im Laufe von mehr als zehn Jahrhunderten die innere Stabilität der Nation nährte, trotz aller Prüfungen, die unser historisches Dasein geprägt haben. Rila bildet nach dem Berg Athos das zweitgrößte religiöse Zentrum auf der Balkanhalbinsel, war – im Unterschied zu den Athosklöstern – immer für alle Gläubigen zugänglich und stand immer im Dienst der Gemeinschaft. Die Offenheit für alle Menschen beruht auf dem Fundament des „Vermächtnisses“ seines Gründers und Schutzpatrons, des heiligen Ivan von Rila (876-946), der sein Leben als Einsiedler dem Kampf für die Wahrheit des christlichen Glaubens und für die Gleichheit der Menschen gewidmet hat.

Obwohl das Rila-Kloster weit entfernt von den wichtigsten Kultur- und Bildungszentren des ersten bulgarischen Staates – Pliska, Weliki Preslaw und Ohrid – lag, herrschte dort ein reges geistiges Leben im Einklang mit den kulturellen Entwicklungen der damaligen Zeit. Zu seinen Errungenschaften zählt wohl zuallererst die Verbreitung des Christentums in bulgarischer Sprache, damit verbunden die Hinführung der Bulgaren zu dem für sie neuen Glauben. Dieser breiten Tätigkeit wurde jedoch nicht nur ein religiöser Sinn, sondern auch eine politische Bedeutung beigemessen.

Klosterkirche und Teile des Innenhofs, im Hintergrund das Rila-Gebirge1

Das Rila-Kloster als geistiges Fundament Bulgariens in Mittelalter und früher Neuzeit

Seit seiner Gründung im 10. Jahrhundert war das Kloster bis in die Neuzeit ein Zentrum des bulgarischen Geistes und der bulgarischen Kultur. Sprache und Schrifttum der Bulgaren wurden hier gepflegt, das Bewusstsein von der Größe und Bedeutung Bulgariens nahm hier seinen Ausgang.

Der Begründer des Klosters, der heilige Ivan von Rila, hinterließ seinen Schülern die Anweisung, das Volk zu allen Zeiten, egal ob am Tag oder in der Nacht, das Wort Gottes zu lehren. Sein erhabenes moralisches und geistiges Vorbild ist das Fundament, auf dem zahlreiche Generationen von gelehrten Mönchen aufbauten. Ihr Leben und ihr Wirken blieb eng mit dem Rila-Kloster verbunden waren, ihr geistliches Erbe und ihr moralisches Vorbild sind bis heute greifbar. Jahrhundertelang war das Rila-Kloster ein Zentrum der geistigen, literarischen und religiös-erzieherischen Aufklärung. Später entstand dort eine Schule, in der einige der bekanntesten geistigen Erneurer der bulgarischen Nation ausgebildet wurden.

Alle Ausdrucksformen des geistigen Lebens im Rila-Kloster, egal ob religiös-aufklärerisch oder literarisch, entwickelten sich im Rahmen der orthodoxen Kirche mit ihrem Zentrum in Konstantinopel, dem das Kloster seit 1766 direkt unterstellt war, und basieren auf ihrem Konservatismus. Dies gilt für die großen Epochen der bulgarischen Geschichte: das Mittelalter, die Zeit der osmanischen Fremdherrschaft und die nationale Wiedergeburt im 19. Jahrhundert.

So bestand das Hauptziel der Ausbildung und religiösen Erziehung im Mittelalter darin, Menschen darauf vorzubereiten, dem religiös-moralischen Vorbild des heiligen Ivan von Rila nahe zu kommen. Seine Anhänger waren davon überzeugt, dass die menschlichen Sitten durch die Verinnerlichung der christlichen Tugenden mithilfe von persönlicher geistiger Vervollkommnung und Aufklärung veredelt und das Böse unter den Menschen beseitigt werden könnte.

Während der ersten Jahrhunderte der osmanischen Fremdherrschaft (14.-19. Jahrhundert) rückte parallel zur Festigung des christlichen Erziehungsideals eine andere wichtige Aufgabe in den Vordergrund. Zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert spielte das Kloster eine wesentliche Rolle bei der Bewahrung des schriftlichen kulturellen Erbes der Epoche des mittelalterlichen bulgarischen Zarentums. Rila stand damit in einer Traditionslinie mit der literarisch-aufklärerischen Schule von Tarnowo, deren Mentor im 14. Jahrhundert Patriarch Euthymios gewesen ist.2

Entwicklungen im 19. Jahrhundert

Auch in der Epoche der Wiedergeburt der bulgarischen Nation setzte das Rila-Kloster seine segensreiche Tätigkeit fort. Seine Mönche wirkten nicht nur als Prediger, sondern auch als Lehrer und Literaturschaffende. Die so genannten Wandermönche (taxidiote), die aus dem Kreis der bestausgebildeten Klosterbrüder gewählt wurden, waren in der Seelsorge eingesetzt und unterrichteten zusätzlich innerhalb von Schulen, die das Kloster eingerichtet hatte, und in den kleineren Tochterklöstern (metochia); ein Schwerpunkt lag dabei auf der Unterweisung der Kinder in bulgarischer Sprache und Schrift – an vielen Orten standen die Mönchslehrer von Rila damit an vorderster Front gegen den übermächtigen Einfluss der griechischen Bildung und Kultur.

Während seiner tausendjährigen Geschichte bewahrte man im Rila-Kloster die Tradition, nur in bulgarischer Sprache Gottesdienste abzuhalten, zu predigen, zu lehren und zu schreiben. Diese Bestrebungen der ersten slawischen und bulgarischen Lehrer – die heiligen Kyrill und Method, ihre Schüler und der heilige Ivan von Rila – prägten den Einsatz auch im 18. und 19. Jahrhundert. Sie waren davon überzeugt, dass die konsequente Ausbildung in bulgarischer Sprache die beste Art und Weise zur Durchsetzung des Christentums in Bulgarien sei und zudem einen Weg zur moralischen Vervollkommnung des Menschen und zur Bewahrung der bulgarischen Kulturtradition darstelle, der die Bulgaren geistig erheben und ihnen Anschluss an die aufgeklärten europäischen Völker ermöglichen sollte. Nur so konnte und kann das bulgarische Volk sich in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart mit einem eigenen Beitrag an der Entwicklung der Weltkultur beteiligen, der in der Vorstellung der universellen Rolle des Christentums seinen einzigartigen Ausdruck findet.

Das Rila-Kloster als Weltkulturerbe

Jede Reise zum Rila-Kloster ist eine Rückkehr in eine ferne Vergangenheit – für alle Bulgaren ist es eine Pilgerfahrt in die eigene Geschichte.

Während seiner tausendjährigen Existenz hat das Rila-Kloster zahlreiche Pilger angezogen. Sogar im hektischen Alltag des 21. Jahrhunderts bleibt es ein Zentrum für diejenigen, die auf der Suche nach einer Auszeit aus dem modernen Stress und mehr noch nach Entspannung für die Seele sind. Jedes Jahr besuchen fast eine Million Pilger, Touristen und Kunst- und Kulturwissenschaftler aus aller Welt das Kloster und genießen seine Schönheit und den Reichtum an Spiritualität und Kreativität. Aus diesem Grund wurde ihm 1979 von der Internationalen Journalisten-Organisation (FIJET) die höchste Auszeichnung im Sektor Bildungs- und Kulturtourismus, „Der goldene Apfel“, verliehen.3 Vier Jahre später, 1983, wurde das Rila-Kloster in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Zur gleichen Zeit wurde es zum Nationalmonument erklärt; der Staat subventionierte die Konservierung und Restaurierung der Fresken und der Architektur. 1991 wurde auf Anordnung des Ministerrats der Republik Bulgarien der Status des Rila-Klosters als orthodoxes Mönchskloster wiederhergestellt, sodass es heute das größte religiöse und kulturelle Zentrum Bulgariens bildet.

Fleiß und Mühen von Generationen von Künstlern flossen in die Gestaltung des Rila-Klosters mit ein. Rastlos arbeiteten sie, um mit Wandmalereien, Holzschnitzereien und Steinplastiken ein einzigartiges Kunstdenkmal zu schaffen. Mithilfe von Geldspenden und freiwilliger Arbeit vieler Bulgaren ist das Rila-Kloster buchstäblich zu einem steingewordenen Ausdruck der Hoffnungen und Gebete tausender Menschen geworden und strahlt spirituelle Ruhe aus.

Blick in den Innenhof des Rila-Klosters4

Das Rila-Kloster ist heute eine heilige Stätte des bulgarischen Volkes, dessen Bedeutung als geistiges und religiöses Zentrum in der ganzen orthodoxen christlichen Welt anerkannt ist, was zahlreiche Dokumente, die in der Klosterbibliothek und in Museumssammlungen aufbewahrt sind, bezeugen.

Im Zentrum des Rila-Klosters steht die Hauptkirche „Geburt der Gottesgebärerin“, mit deren Bau im Jahre 1835 begonnen wurde. Die Architektur verbindet mittelalterliche, von der byzantinischen Kunst geprägte Elemente mit Formen des Barock, ein Ausdruck der Kreativität künstlerischen Schaffens im 19. Jahrhundert. Der prachtvolle Schmuck der geschnitzten Ikonostase, die Ausstrahlung ihrer Vergoldung, die Vielfarbigkeit der Ikonen und die meisterhaft inszenierte Beleuchtung machen den Glanz in der Gesamtkomposition des Innenraums aus. Die Wandmalereien in der Vorhalle und in der offenen Galerie der Kirche sind Ausdruck des breiten kulturellen Aufschwungs der bulgarischen Kunst im Zeitalter der nationalen Wiedergeburt. Die insgesamt 1.200 Szenen bilden eine Galerie der bulgarischen Kirchenmalerei jener Epoche.5

Traditionsgemäß sind an den Außenwänden der zentralen Klosterkirche die Wandgemälde dem Jüngsten Gericht und dem Leben der kommenden Welt gewidmet. Die gesamten Wandgemälde der Kirche wurden von den bedeutendsten zeitgenössischen Künstlern gestaltet. Neben der Hauptkirche gibt es zudem vier Kapellen, die für unterschiedliche Gottesdienste im Laufe des Kirchenjahres genutzt werden.

Der wertvollste Besitzteil des Rila-Klosters ist die Bibliothek. Die Rila-Sammlung als Ganzes ist organisch mit dem Kloster selbst verbunden und ein Beweis für sein kontinuierliches Wirken als führendes Literaturzentrum Bulgariens im Mittelalter und in der Zeit der nationalen Wiedergeburt. Die dort aufbewahrten über 270 Handschriften und Werke stammen aus der Zeit zwischen dem 11. und 19. Jahrhundert. Damit beinhaltet die Klosterbibliothek die größte Handschriftensammlung Bulgariens und ist eine der umfangreichsten in Europa, insbesondere in Bezug auf slawische Manuskripte der orthodox geprägten Balkanhalbinsel. Experten sprechen nach Untersuchung des gesamten slawisch-literarischen Rila-Erbes sogar vom „Rila-Literaturkreis“ und von der „Rila-Gesangsschule“, was auch heute noch zahlreiche Forscher im Bereich der Kirchen- und Weltgeschichte, Liturgik, Kirchenmusik und Literaturwissenschaftler anzieht.

Die heute im Besitz des Rila-Klosters befindlichen Museumssammlungen, die im Erd- und Untergeschoss des südöstlichen Museumsflügels ausgestellt sind, spiegeln sowohl die wichtigsten Momente seiner tausendjährigen Geschichte als auch seine Rolle in der geistig-aufklärerischen Kulturgeschichte Bulgariens wider. Im Laufe von zehn Jahrhunderten unterhielt das Kloster rege Beziehungen zu den orthodox geprägten Nachbarn und sammelte historische Dokumente, Bücher, liturgische Geräte, Ikonen und vieles andere.

Unvoreingenommenen Besuchern entfaltet sich heute im Rila-Kloster die bulgarische Geistes-, Bildungs- und Kulturgeschichte des letzten Jahrtausends, die das Schicksal eines Volkes enthüllen, das mehrmals seine kirchliche und nationale Unabhängigkeit verloren hat und wie ein Phönix aus der Asche aufgestiegen ist, seine Existenz weiterführt und somit eine deutlich sichtbare Spur in die Weltkultur eingeprägt hat.

Heute fungiert das Rila-Kloster als Mönchsschule und geistiges Ausbildungszentrum und fühlt sich damit dem Erbe des heiligen Ivan von Rila verpflichtet. Es bewahrt die Ideen seines „Vermächtnisses“, also die Reinheit des christlichen Glaubens, und seine hohen moralischen Vorstellungen, besonders die Gleichheit aller Menschen, die Ablehnung von unrechtmäßig angesammeltem Reichtum, den Schutz und die Unterstützung von Leidtragenden – diese sind es letztlich, die mit ihrem Fleiß und ihrer Demut „das Salz der Erde sind“ (Мt 5,13).

Literaturhinweise:

  • B. Conev: Rakopisnata sbirka v Rilskija manastir (Die handschriftlichen Sammlungen im Rila-Kloster). Sofia 1900.
  • Ivan Dujchev: Rilskijat svetec (Der Heilige von Rila). Sofia 1990.
  • Bojidar Rajkov (u. a.): Slavjanski rakopisi v Rilskija manastir (Slawische Handschriften im Rila-Kloster). Sofia 1986.
  • Milka Terzijska: Knizhovno-prosvetna dejnost na Rilskija manastir (Das literarisch-bildende Werk des Klosters Rila). Sofia 2009.

Fußnoten:


  1. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rila_Monastery,_August_2013.jpg (Autor: Raggatt2000). ↩︎

  2. Unter „Schule von Tarnowo“ ist eine kunst- und kulturgeschichtlich bedeutende Epoche des bulgarischen Mittelalters zu verstehen, die mit dem Untergang des zweiten bulgarischen Reiches 1396 endete. Patriarch Euthymios von Tarnowo (gest. um 1404) spielte eine wichtige Rolle in dieser kulturellen Blütezeit. ↩︎

  3. FIJET steht für „Fédération Internationale des Journalistes et Écrivains du Tourisme“; zur Auszeichnung des Rila-Klosters mit dem „Goldenen Apfel“ vgl. auch http://www.fijet.net/fijet_golden_appel_dyn.php?langue=en↩︎

  4. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rila_04.jpg (Autor: Todor Bozhinov). ↩︎

  5. Reiches Bildmaterial bietet ein virtueller Rundgang auf der Homepage des Klosters unter http://www.rilskimanastir.org/en/about/virtual-tour/↩︎