Die veränderte Rolle der Visegrád-Staaten

Zuzana Stuchlíková ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europapolitik EUROPEUM in Prag. Zuvor war sie wissenschaftliche Assistentin in der Abteilung für Europäische Studien des Instituts für Internationale Studien der Karls-Universität Prag und leitete von 2013 bis 2020 das Brüsseler Büro des EUROPEUM.

Zusammenfassung

Die Visegrád-Gruppe, bestehend auf Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei, wurde lange Zeit als geschlossener Block innerhalb der Europäische Union wahrgenommen, der Einigungen, insbesondere in der Migrationspolitik, blockierte. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Beziehungen unter den vier ostmitteleuropäischen Staaten grundlegend verändert.

Veränderte Dynamik in Mitteleuropa

Während der russische Einmarsch in der Ukraine den Westen und die EU in einer Einigkeit zusammenführte, die viele positiv überrascht hat, war für die Visegrád-Gruppe (V4) das Gegenteil der Fall. Polen und Tschechien forderten die strengsten Sanktionen gegenüber Russland und nahmen die meisten Flüchtlinge auf. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán, der bei den Parlamentswahlen im März 2022 erneut einen überwältigenden Sieg errang, blieb weiterhin der russlandfreundlichste EU-Politiker.

Dies verkompliziert nicht nur die bereits angespannten Beziehungen zwischen Ungarn und der EU1, sondern verändert auch die Dynamik innerhalb Mitteleuropas. Die traditionelle Partnerschaft zwischen Polen und Ungarn wurde auf die Probe gestellt. Viele verkündeten bereits das Ende der V4, nachdem das jüngste Treffen der Verteidigungsminister im März 2022 in letzter Minute abgesagt wurde. Der tschechische und der polnische Minister hatten aufgrund der ungarischen Haltung zur Ukraine ihre Teilnahme verweigert.

Haben die notorischen Pessimisten in der übrigen EU recht, die darin das Ende der Visegrád-Initiative sehen, wie wir sie in den vergangenen Jahren kannten? Oder wird sie weiterhin eine erfolgreiche Plattform für die Zusammenarbeit auf regionaler Ebene sein?

Gemeinsame Herausforderungen standen am Anfang

Die Zusammenarbeit der Visegrád-Staaten entstand Anfang der 1990er Jahre, als die zunächst drei mitteleuropäischen Länder (Ungarn, Polen, Tschechoslowakei) nach dem Ende der kommunistischen Regime auf dem Weg “zurück nach Europa” waren. Ursprünglich als V3 gegründet, wurde die Gruppe 1993 nach dem Zerfall der Tschechoslowakei (Tschechien und Slowakei) zur Vierergruppe.

Der Hauptzweck der Zusammenarbeit in den 1990er Jahren war die gegenseitige Unterstützung bei der Wiedereingliederung in die westlichen Strukturen. Die Länder standen vor ähnlichen Herausforderungen der wirtschaftlichen Umgestaltung und waren sehr daran interessiert, sowohl der NATO als auch der EU beizutreten. Nach dem erfolgreichen Beitritt geriet die Zusammenarbeit vorübergehend ins Stocken.2 Ihr Zweck war plötzlich nicht mehr klar, und es dauerte einige Zeit, bis die Länder erkannten, dass sie selbst innerhalb der EU noch gewisse Gemeinsamkeiten haben, wie die verschiedenen Übergangsfristen. Inhaltlich blieb diese Kooperation jedoch bis 2015 begrenzt, als Europa mit einer Migrationswelle aus dem Nahen Osten konfrontiert wurde.

Die V4 sprachen sich gemeinsam gegen die verpflichtenden Umsiedlungsquoten aus. Stattdessen formulierten sie die Idee einer “flexiblen Solidarität” und schlugen einen freiwilligen Verteilungsmechanismus vor. Für die meisten EU-Länder war die Migrationskrise das erste Mal, dass sie die Existenz der Visegrád-Gruppe wahrnahmen – leider etablierten sich die V4-Länder deshalb aufgrund des Fehlens einer positiven Agenda und der Ablehnung gemeinsamer Lösungen als “unheilbare Neinsager”. Zu dieser Zeit begannen die Staats- und Regierungschefs der V4 auch, die Rhetorik des “wir gegen sie” zu verwenden, wobei mit “sie” die anderen EU-Mitgliedstaaten und europäischen Institutionen gemeint waren.

Das öffentliche Image der V4 in der übrigen EU wurde durch die wachsende Sorge über den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn weiter beschädigt. Die Freiheit der Justiz, der Medien und der Position von Nichtregierungsorganisationen erschienen bedroht. Die EU begann zu erkennen, dass sie wenig bis gar keine Instrumente hat, um gegen demokratische Rückschritte unter ihren Mitgliedsstaaten vorzugehen. Die Skandale um die Ministerpräsidenten Robert Fico in der Slowakei3 und Andrej Babiš in der Tschechischen Republik4 und deren Regierungen haben die Position der V4 als "europäische Unruhestifter" nur noch gefestigt.

Interne Dynamik

Die Visegrád-Zusammenarbeit war von Anfang an nicht institutionalisiert. Sie stützte sich in hohem Maße auf persönliche Beziehungen zwischen Schlüsselfiguren und Personen auf Arbeitsebene. Die einzige formale Struktur der V4 ist der Internationale Visegrád-Fonds (gegründet im Jahr 2000), eine internationale Geberorganisation, die die Zusammenarbeit in der Visegrád-Region sowie zwischen der V4-Region und anderen Ländern fördert. Als solcher unterstützt er verschiedene kulturelle Veranstaltungen, Forschungsprojekte und die Zusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen.

Die fehlende Institutionalisierung führte dazu, dass die Zusammenarbeit nach außen hin nur dann sichtbar war, wenn es eine Vereinbarung gab und diese Vereinbarung auf einem Treffen zwischen Ministern oder Staats- und Regierungschefs erzielt wurde. Aus tschechischer Sicht war die V4 daher während der Regierung von Babiš am sichtbarsten, der bei verschiedenen Gelegenheiten auf die V4 verwies und keine Gelegenheit ausließ, um sie zu fördern.

Intern waren die V4-Länder nie wirklich eine homogene Gruppe. Sie sind sich einig in der Unterstützung der EU-Erweiterung (vor allem um die westlichen Balkanländer), einer ehrgeizigen Kohäsionspolitik und in der Ablehnung obligatorischer Umsiedlungsquoten. Aber die Zahl der Themen, bei denen sich ihre Positionen unterscheiden, reicht von der Haltung zum Euro, der Klima- und Energiepolitik oder den Ansätzen für den Binnenmarkt bis hin zu dem jüngst sichtbarsten und wichtigsten Thema, den Beziehungen zu Russland.

Die Differenzen zwischen den vier Visegrád-Staaten und die sich verändernde interne Dynamik führten dazu, dass Beobachter die V4 in V2+2 umbenannten. Gemeint sind damit Polen und Ungarn auf der einen, Tschechien und die Slowakei auf der anderen Seite. Oder es ist manchmal sogar von V3+1 die Rede, um die Slowakei als das EU-freundlichste Land herauszustellen. Es gab auch Zeiten, in denen die V4 vor allem als Problem erschien; insbesondere 2018, als die Regierung von Babiš in der Tschechischen Republik an die Macht kam und die Slowakei durch die Ermordung des Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová sich im Schockzustand befand.

Wachsende Divergenz zwischen Polen und Ungarn

In der zweiten Hälfte des Jahres 2021 hat sich die Dynamik erneut verändert. Die wachsende Divergenz zwischen Polen und Ungarn – die weiterhin die Grenzen dessen, was der Rest der EU als liberale Demokratie betrachtet, ausreizen – sowie der Slowakei und der Tschechischen Republik macht das V2+2-Narrativ wieder aktueller. Letztere haben sich durch jüngste Regierungswechsel wieder dem EU-Mainstream angenähert. Der slowakische Premierminister Eduard Heger gilt als weniger populistisch als sein Vorgänger im Amt, und der tschechische Premierminister Petr Fiala, der die Parlamentswahlen im Oktober 2021 gewonnen hat, führt eine Koalitionsregierung, die sich von Babiš’ Narrativ abgrenzen will.

In der Praxis lässt sich die Spaltung am Abstimmungsverhalten im Rat der EU ablesen. Eine aktuelle Studie des EUROPEUM-Instituts für Europapolitik und seiner Partner zeigt, dass Deutschland für die tschechischen Interessenvertreter nach wie vor der wichtigste Partner ist. Im Rat haben die Tschechen die meisten Gemeinsamkeiten mit der Slowakei, Frankreich und Finnland. Ungarn steht dagegen am anderen Ende des Spektrums. Bei den meisten Themen verlassen sich die Tschechen auf eine Gruppe gleichgesinnter Länder, wenn es um die Politikgestaltung geht, und konzentrieren sich nicht in erster Linie auf die V4. Polen liegt in Bezug auf den Konsens an 20. Stelle und Ungarn an 21. Stelle der 27 EU-Mitgliedstaaten. Einer der Autoren der Studie, Vít Havelka vom EUROPEUM, schließt daraus, dass die Rolle der V4 in der EU alles andere als entscheidend sei.

Abgleiten in die Bedeutungslosigkeit

Die Bedeutung der Gruppe variiert von Mitglied zu Mitglied. Eine Untersuchung der "Association for International Affairs" (AMO) in allen V4-Ländern zeigt, dass die ungarischen Interessenvertreter der V4 stets mehr Bedeutung beimessen als ihre Kollegen in Polen, der Slowakei oder Tschechien. Die Studie zeigt auch, dass die Gruppe in letzter Zeit Schwierigkeiten hatte, gemeinsame Themen zu finden, die auf der EU-Agenda stehen.5

Die tschechische Außenpolitik sieht sich in einer Tradition, die sie als “pragmatisch” bezeichnet. Deshalb ist ihr Verhältnis zur V4 sehr symbolisch. Tschechische Politiker neigen dazu, die Gruppe zu nutzen, wenn sie zweckdienlich ist, und sie zu ignorieren, wenn es nichts zu besprechen gibt. Als Diskussionsplattform wird V4 zwar geschätzt, aber selten mit Inhalt gefüllt. Dies lässt sich an den Programmen der tschechischen V4-Präsidentschaften erkennen. Bei den meisten Themen, die im Rat erörtert werden, zählt die Tschechische Republik zu verschiedenen Gruppen Gleichgesinnter, die für den jeweiligen Bereich spezifisch sind. Manchmal gehören auch andere V4-Mitgliedstaaten dazu, manchmal nicht.6

Die Hinwendung zu den V4 war seit 2015 eng mit der zunehmenden Kritik von (und an!) den EU-Institutionen verbunden. Ähnlich wie andere V4-Länder hat die Regierung in Prag versucht, die Visegrád-Partner zu nutzen, um sich vor angeblichen Angriffen aus der EU zu schützen. Und eine solche Argumentation ist bei Politikern wie Babiš beliebt. Obwohl die Tschechen von der EU-Mitgliedschaft stark profitiert haben, zeigen Umfragen des Eurobarometers, dass sie die Nation der Euroskeptiker sind.

Wer sich von den illiberalen Demokratien in Polen und Ungarn distanzieren will, betont gerne, dass die Tschechische Republik ihre Verbündeten außerhalb der Visegrád-Gruppe suchen oder sogar austreten sollte. Argumentiert wird damit, dass die V4-Staaten innerhalb der EU zu einer toxischen Marke geworden seien. Es fehle der Gruppe an positiven Zielen und sie schade dem Image Tschechiens im Ausland.

Mangel an gemeinsamen Themen

Die Forderung nach einem Austritt oder einer Auflösung der V4 bedeutet jedoch, dass wir der V4 eine Rolle geben würden, die sie nie wirklich innehatte. Darüber hinaus gibt es derzeit keinen offiziellen Regierungsvertreter, der sich aktiv für einen formellen Austritt aus der V4 einsetzen würde. Da das Hauptmerkmal der Gruppe immer die Flexibilität und das Fehlen formaler Strukturen war, wird der derzeitige Mangel an gemeinsamen Themen wahrscheinlich dazu führen, dass nur noch selten oder vielleicht gar keine Treffen auf höchster Ebene mehr geben wird.

Während der ersten tschechischen EU-Ratspräsidentschaft wurden die Koordinationstreffen der V4-Staats- und Regierungschefs eingeführt. Im April 2022 deuteten Beamte des tschechischen Außenministeriums bereits an, dass während der zweiten tschechischen EU-Ratspräsidentschaft ab 1. Juli diese Gewohnheit unter dem Vorwand des Zeitmangels aufgegeben werden soll. Es ist nicht zu erwarten, dass die Koordinierungstreffen nach dem Ende des tschechischen Ratsvorsitzes wieder aufgenommen werden.

Stattdessen dürfte die V4 ein pragmatisches Instrument der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen zumeist nichtstaatlichen Akteuren bleiben, das durch den internationalen Visegrád-Fonds unterstützt wird. Bislang deutet nichts darauf hin, dass politische Meinungsverschiedenheiten zwischen den Staaten die Finanzierung durch die vier Regierungen gefährden könnten. Es ist daher wahrscheinlich, dass wir weniger Bilder von triumphierenden Staatsoberhäuptern in passenden Fußballtrikots sehen werden, sondern stattdessen unabhängige Denkfabriken in den vier Ländern, die ihre Zusammenarbeit in der Forschung fortsetzen werden. Auch die Rettungsteams in den Bergen der Karpaten werden weiterhin auf grenzüberschreitende Unterstützung angewiesen sein.


Fußnoten:


  1. Aufgrund der Rechtsstaatlichkeit und des systematischen Aufbaus einer illiberalen Demokratie in Ungarn. ↩︎

  2. Ungarn, Polen und die Tschechische Republik traten der NATO 1999 bei, die Slowakei erst 2004. Alle vier Länder traten 2004 der EU bei. ↩︎

  3. Insbesondere nach der Ermordung des slowakischen Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová 2018 und der anschließenden Aufdeckung von Verbindungen zwischen Politikern und der kriminellen Szene. ↩︎

  4. Als ehemaliger Unternehmer befand er sich in einem Interessenkonflikt und wurde in einem Fall von EU-Subventionsbetrug angeklagt. ↩︎

  5. P. Janebova und Z. Végh, “Trends of Visegrád European Policy 2021”, Association for International Affairs (AMO), 2021, zugänglich unter https://trendy.amo.cz/assets/2021/paper_2021_en.pdf ↩︎

  6. Frankreich zum Beispiel ist ein Verbündeter in Sachen Atomenergie, steht aber in der Frage des Binnenmarktes auf der anderen Seite. ↩︎