Im Wasser spiegelt sich das ganze Land

Am Plattensee kann man beobachten, wie sich Ungarns Gesellschaft verändert
aus OWEP 4/2021  •  von Márton Gergely

Der ungarische Journalist Márton Gergely (geb. 1976) verbringt seit seiner Kindheit jedes Jahr einige Wochen am Plattensee. Er studierte Medienwissenschaften und Geschichte in Budapest und andernorts in Ungarn, war Praktikant bei der „taz“ in Berlin und schrieb für die Wochenzeitschrift „Magyar Narancs“. Er arbeitete zwölf Jahre für die auflagenstärkste Tageszeitung, „Népszabadság“, zuletzt als Chefredakteur bis zu deren Einstellung. Heute ist Gergely Chefredakteur der größten ungarischen Wochenmagazin „hvg“.

Zusammenfassung

Freiheit heißt in Ungarn oft, dass der Staat es zulässt, wenn die Regeln nicht eingehalten werden. Jeder kann also Gesetze und Vorschriften für seine Zwecke kreativ interpretieren, und das sieht man eindeutig am Plattensee, wo die kommunistische Kádár-Ära und die Schwerreichen des Orbán-Regimes ihre Spuren hinterlassen haben. Der See muss das ungarische Meer ersetzen, was ihn seiner eigentlichen Schönheit zu berauben droht.

Streifzug durch die Geschichte

Am Plattensee (Balaton)1 sieht man Veränderungen der ungarischen Gesellschaft früher und eindeutiger als anderswo im Land. Wie einst der Kommunismus, so zeigt heute das Orbán-Regime sein wahres Gesicht am See. Trotzdem bleibt er mein See!

Um die Beziehung der Ungarn zu ihrem geliebten Plattensee zu erklären, muss ich eine Passage aus dem 1969 gedrehten und von den Zensoren gleich verbotenen Film „Der Zeuge“ nacherzählen. In einer Szene ist ein tollpatschiger Genosse beauftragt, als Chef des Landwirtschaftlichen Forschungsinstituts die erste ungarische Orange zu züchten. Nach einer Weile schafft er es tatsächlich, und so wird der Große Vorsitzende eingeladen, um die Frucht zu kosten. Der Sohn des Institutsleiters isst aber die einzige Orange vor den Feierlichkeiten auf. Sie wird deshalb heimlich durch eine Zitrone ersetzt. Als der hochdekorierte Gast nach dem Kosten mit verzerrtem Gesicht fragt, ob das tatsächliche eine Orange sei, antwortet der Genosse: „Die ungarische Frucht mag etwas sauer und etwas gelblich sein, aber sie gehört uns.“

Die Ungarn bezeichnen den Plattensee mit ironischem Unterton als „ungarisches Meer“ oder als „unsere Riviera“. Das ehemalige Königreich Ungarn hatte sicher schönere touristische Attraktionen, aber sie gingen nach dem Ersten Weltkrieg an die neuen Nachbarn des Landes verloren. Der seichte See, 100 Kilometer südwestlich von Budapest gelegen, wurde also eher zufällig das Hauptziel der inländischen Touristen. Aus Fischerdörfern entstand an der 200-Kilometer langen Küste innerhalb eines Jahrhunderts eine chaotische Anreihung von Ferienhäusern – von den Schrebergärten der kommunistischen Arbeiterklasse zu den Luxusanwesen der Oligarchen rund um Ministerpräsident Viktor Orbán.

Der Plattensee verhält sich zum Land wie ein Reagenzglas. Hier kann man die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüche früher und eindeutiger beobachten als anderswo. Alle Epochen haben sichtbare Spuren hinterlassen, man muss sie nur wiederentdecken, wie die sieben Schichten, unter denen einst der Archäologe Heinrich Schliemann das antike Troja gefunden hat.

Die Geschichte des Plattensees vor dem Massentourismus kann man schnell abhaken. Es gab eine mittelalterliche Abtei in Tihany, eine Festung in Szigliget und einen Barockpalast in Keszthely. Zweckentfremdet warten sie bis heute auf Besucher. Die ersten, die Erholung suchten, waren Adlige und Gutbetuchte in den letzten Jahren der Habsburg-Dynastie. Die ersten Villen wurden in Füred und Fonyód gebaut. Die Oberschicht suchte nicht die Nähe des Ufers, sondern die Hügel. Strände gab es noch nicht – oder sie hatten nicht das erwünschte Niveau.

Auch die Infrastruktur war kaum entwickelt. Zwar führte entlang der Südküste die wichtige Eisenbahnstrecke von Budapest nach Rijeka an der kroatischen Adria, auf der Waren von der Küste ins Landesinnere transportiert wurden, aber für die Reichen war die flache Uferseite nicht reizvoll genug. Daran änderte auch der Vertrag von Trianon 1920 wenig, der Ungarn radikal schrumpfen ließ. Diejenigen, die Geld hatten, wollten nicht wirklich zum Plattensee, und der Rest war zu arm, um darüber auch nur nachzudenken.

Der „Gulaschkommunismus“ und seine Folgen

Die große Veränderung rund um den See kam erst mit den 1960er Jahren, also nach dem Scheitern des ungarischen Stalinismus. Nach dem niedergeschlagenen Oktoberaufstand 1956 wählte Parteichef János Kádár einen Sonderweg im sowjetischen Block. Er bot etwas mehr Freiheiten und ein bisschen mehr Wohlstand im Gegenzug für die Duldung des Kommunismus durch die Ungarn. Klappe halten und mitprofitieren – so hieß sein Angebot an die Ungarn. Und da der finanziell knappe Staat kaum Möglichkeiten hatte, die Menschen mit Geschenken bei Laune zu halten, wurde stattdessen weggeguckt, wenn es galt, Regeln einzuhalten.

Dieser „Gesellschaftsvertrag“ ist bis heute tief in der ungarischen Seele verankert, und in der Praxis konnte man das zuerst am Plattensee beobachten. Die Leute fingen an, kleine Grundstücke zu ergattern und darauf kleine Häuser zu bauen. Die wenigsten heuerten Fachleute an, es wurde vielmehr „in kaláka“ gebaut. Das Wort führt zurück in die Zeit, als die Dorfbewohner sich gegenseitig aushalfen. Wenn jemand etwas alleine nicht schaffte, kamen die Nachbarn, bezahlt wurde meistens mit Feten für alle Familienangehörigen. Diese Methode wurde am Plattensee wiederbelebt und ergänzt, und auch bei der Beschaffung des Baumaterials wurden unkonventionelle Methoden gefunden: Eisenbahner haben von den Bauarbeiten der Staatsfirma MÁV Material mitgenommen und verwendet. Offiziere der Volksarmee ließen die Rekruten ihre Ferienhäuser als Übungsmaßnahme hochziehen, die Zimmer wurden gleich vermietet und mit anderen Familien geteilt. Diese Beispiele sind belegt, es sind Geschichten auch aus meiner Großfamilie.

In den 1970er Jahren entwickelte sich der „Gulaschkommunismus“ am Plattensee zu voller Pracht. Die kleinen Ferienhäuser waren Privatimmobilien, so etwas gab es in den Städten überhaupt nicht. Bauvorschriften wurden kaum eingehalten – bis heute sieht man das an mehr oder eben weniger kreativen Lösungen an den Häusern. Überall wurde geschraubt. Damals hatten Arbeiter und Intellektuelle das gleiche Einkommen, große Unterschiede gab es nicht. Wer wirklich scharf darauf war, konnte sich den Traum vom Ferienhaus am Plattensee leisten.

Treffpunkt von Ost und West

Mein Großvater war Zeit seines Lebens gehbehindert, so entschied er sich gegen einen Eigenbau und stieg stattdessen in den späten siebziger Jahren bei einem Plattenbau am Plattensee ein. Sieben Häuser stehen dort dicht gedrängt am Ufer und sehen aus wie kleine Kopien der Wohnblöcke in Berlin-Marzahn. Siebzehn Quadratmeter für jede Familie; insgesamt gibt es um die 700 Wohnungen in Balatonfenyves am Südufer gegenüber vom vulkanisch entstandenen Berg Badacsony mit seinen Weingärten. Das war mein Paradies als kleines Kind.

Am Strand von Balatonfenyves, im Hintergrund der Berg Badacsony (Foto: Márton Gergely)

Für meine Eltern war der Plattensee auch ein internationaler Treffpunkt, reisen konnte man in dieser Zeit ja kaum. Sie erzählten mir oft die Geschichte, wie sie die Französin Anne und den aus Prag nach Paris geflüchteten Serge am Ufer unweit der kleinen Wohnung kennengelernt haben. Das Paar war auf der Durchreise und suchte nach einer Unterkunft für die Nacht. Serge spielte Gitarre, was mich als Kleinkind fasziniert hat, die Erwachsenen kamen ins Gespräch – soviel ihre Englischkenntnisse möglich machten. Näher kamen sie sich, nachdem sie begonnen hatten, kommunistische Lieder auf Tschechisch und Ungarisch zu singen; nicht aus Überzeugung, sondern wegen des Verbindenden dieser Lieder. Eine Freundschaft fürs Leben ist daraus entstanden.

Noch wichtiger waren aber Treffen mit anderen ausländischen Gästen, vor allem den Deutschen. In seiner Sonderrolle war Ungarn für Ost- und Westdeutsche gleichzeitig offen. So konnten sich Familien und Bekannte, die durch die innerdeutsche Grenze getrennt waren, am Plattensee treffen. Wir haben das damals gemerkt, als plötzlich unweit von Balatonfenyves ein FKK-Campingplatz öffnete und überall in den Ortschaften am See an den Privathäusern Schilder auftauchten mit den deutschen Worten „Zimmer frei“. Gleichzeitig hat noch vor der Wende ein wilder Kapitalismus Einzug gehalten. Kioske und Langosch-Buden2 wurden geöffnet, Händler zogen den Sommer über an den See, um am Ost-West-Treffpunkt mitzuverdienen. Die Stasi soll erschrocken gewesen sein, welches Beispiel Ungarn den DDR-Bürgern zeigte.

Fragwürdige Entwicklungen seit der Wende

Dann kam die Wende, und man erlebte am Plattensee das Zerbrechen der Illusionen schneller als in Budapest und in anderen größeren Städten. Der See hatte (wie auch Ungarn insgesamt) jahrzehntelang eine Sonderrolle gespielt, also dachte man, dass diese Region und dieses Land auch von der Freiheit und von der Wende mehr und schneller profitieren würden als der Rest des untergehenden Ostblocks. Wie sich herausstellte, war die Pole-Position aber wertlos. Plötzlich konnten die Ungarn auch zum richtigen Meer reisen, und die Ostdeutschen konnten frei Richtung Westen ziehen. Und es stellte sich schnell heraus, dass die Unterschicht, die mit Geschick Ferienhäuser hatte bauen können, sich in den schwierigen 1990er Jahren ihre Zweitimmobilien nicht mehr leisten konnten. Der fast völlig zugebaute Plattensee leidet seither unter vielen halbfertigen und improvisierten Bauten entlang des Ufers; viele von ihnen verlassen und verfallen.

Nur die Gentrifizierung hat den See gerettet, sofern man das eine Rettung nennen will. Eine neue Elite segelt an den Wochenenden auf dem Plattensee. Die Neureichen kaufen die alten Villen auf oder lassen sich neue bauen. Für ihre Bedürfnisse ist gesorgt, es öffnen neue Luxushotels und Fine-Dining-Restaurants entlang des Strands. Die Autobahn Richtung Budapest wurde auf drei Spuren ausgebaut, trotzdem bilden sich jeden Sonntagnachmittag im Sommer kilometerlange Staus.

Dem Staat fehlt das ganz große Geld, um ein Konzept auszuarbeiten, wie sich Natur und Mensch miteinander vertragen könnten. Leider wird der Wildwuchs des Kommunismus nicht beseitigt und durch etwas Nachhaltiges ersetzt. Vielmehr betonieren die Reichen die letzten unberührten Strecken der Küste für sich selbst und als Geldanlage zu. Ganz vorne mit dabei sind die Oligarchen des Landes. Heute erscheint der Plattensee vor allem wegen des Orbán-Regimes in den ungarischen Nachrichten. Lőrinc Mészáros, ein Schulfreund des Ministerpräsidenten, sein Schwiegersohn István Tiborcz und andere Auserwählte kaufen Hotels, Strände und Häfen auf. Sie spekulieren darauf, dass der Plattensee in Zukunft ein Luxus-Reiseziel werden wird.

Der neue Steg in Balatonfenyves (Foto: Márton Gergely)

Die Spuren sieht man auch in Balatonfenyves, wo ein 500-Meter-langer Steg die Uferpromenade abschneidet, um dahinter einen neuen Hafen abzugrenzen. Die beschauliche Ortschaft hat jetzt ein kleines neues Zentrum für die Reichen mit Unterkunft und Verpflegung.

Um den schnellen Ausbau zusätzlich zu verstärken, wurden in den letzten Jahren die Genehmigungsverfahren vereinfacht und abgekürzt. Bei Bauprojekten werden örtliche NGOs und Vereine kaum mehr einbezogen, nicht einmal die Nachbarn müssen in die Pläne eingeweiht werden. Die Kontrolle wird diesmal nicht zum Wohle der Armen, sondern der Schwerreichen abgeschwächt. Nach dem „Gulaschkommunismus“ kann man heute das Aufpäppeln der „nationalen Kapitalisten“ am See beobachten.

Was sie Korruption nennen, ist in Wahrheit die Essenz der Politik der Regierungspartei Fidesz – mit diesen Worten herrschte einmal der Orban-Berater András Lánczi die Kritiker an. Der ehemalige Rektor der Budapester Corvinus-Universität für Wirtschaftswissenschaften und Staatsverwaltung erklärte in einem Interview, nach dem Kommunismus hätte eine neue ungarische Wirtschaftselite aufgebaut werden müssen. So hätte man verhindern können, dass westliche Firmen den Rahm abschöpfen und die neu gewonnenen Profite außer Landes bringen. Statt jedoch den Wettbewerb in Ungarn zu fördern, wollte Orbán namentlich diejenigen unterstützen, die bei der Operation „ungarische Vermögensdynastien“ mitmarschieren dürfen. Statt Talent oder Geschick waren und sind Treue und Gefolgschaft die einzige Voraussetzung.

Der Plattensee als Spiegel der ungarischen Gegenwart

Was hat das alles mit dem Plattensee zu tun? Die meisten Oligarchen machen Extraprofit durch die staatlichen Ausschreibungen, die von der EU mitfinanziert werden. Nur sie dürfen Eisenbahntrassen und Autobahnen bauen und investieren das damit verdiente Geld am Plattensee. Sie hoffen so, aus der vorübergehenden EU-Finanzspritze nachhaltige Geschäfte im Tourismus aufbauen zu können. Da für sie die üblichen Regeln kaum gelten, betonieren sie den See noch stärker zu, obwohl – um ein warnendes Beispiel anzuführen – in den letzten Jahren der 30 Kilometer nordöstlich des Plattensees gelegene Velencer See im Zuge des Klimawandels bereits 40 Prozent seiner Wassermenge verloren hat. Für diese Tragödie ist die extreme Versiegelung durch Zubetonierung der Ufer mit verantwortlich.

Der Plattensee wurde und wird geliebt, aber leider nicht geschützt vor der Bauwut der Menschen. Jeden Sommer komme ich mit meiner Familie nach Balatonfenyves, ich genieße die Aussicht auf den Tafelberg Badacsony und widme mich dem Nationalsport der Ungarn: sich über die Preise für das Fladenbrot Langosch aufzuregen. Ich suche nach Anzeichen neuer Veränderungen, die diesen See so oft treffen. In den beiden Pandemie-Sommern habe ich mitbekommen, dass man wieder vermehrt die deutsche Sprache hört. Vor allem aus den neuen Bundesländern kommen Familien und ältere Paare, um ihre Ferien am Plattensee zu verbringen. Und einigen gefällt – wie schon vor 40 Jahren – die ungarische politische Führung besser als die eigene. Von der zur Staatsdoktrin erhobenen Korruption wissen sie wenig, sie kennen nur die markanten Worte von Viktor Orbán, mit denen er gegen Migranten und die LGBTQ-Community hetzt. Vielen gefällt auch die Unbekümmertheit, mit der die Ungarn ihre Masken abwerfen, und dass sie niemand nach einem Impfnachweis fragt. Wollte ich jetzt provozieren, könnte ich schreiben, dass heute manche Ostdeutschen deshalb so gerne nach Ungarn kommen, um den Westdeutschen aus dem Weg zu gehen.

Es ist noch nicht ausgemacht, was aus „unserem Meer“ einmal werden wird. Welche Langzeitfolgen sind zu befürchten, weil der Staat damals und heute das Befolgen der Regeln bewusst nicht kontrolliert? Kollabieren die Ortschaften schneller als das Ökosystem? Kann man den See noch neu entdecken und nicht nur als Riviera nutzen?

Der Plattensee schaut besser aus, wenn es im Herbst stiller wird, wenn sich das Wetter für das Rad besser eignet als für ein Bad. Auch das Langosch wird dann in unserer Stammkneipe auf wundersame Weise wieder größer, wenn die Besuchermassen heimgefahren sind. Dann kann man trotz all des Wildwuchses die Natur sehen und wirklich erleben. Den See, den ich so liebe.


Fußnoten:


  1. Der ungarische Name „Balaton“ leitet sich vermutlich vom slawischen Begriff „blato“ („sumpfig“ oder „sumpfiges Gelände“) ab, der deutsche Name „Plattensee“ deutet den oft niedrigen Wasserstand des Sees an (durchschnittliche Wassertiefe: drei Meter). Mit knapp 600 Quadratkilometer Fläche ist er der größte See Mitteleuropas. (Anmerkung d. Redaktion) ↩︎

  2. Langosch (ungarisch „Lángos“, tschechisch und slowakisch „Langoš“) ist eine kulinarische Spezialität Ungarns und seiner Nachbarländer. In der Grundform handelt es sich um einen in Fett ausgebackenen kleinen Hefefladen, der sowohl herzhaft als auch süß belegt werden kann. ↩︎