Jarosław Kaczyński

aus OWEP 3/2016  •  von Georges Mink

Georges Mink war Forschungsdirektor am Institut für Politische Sozialwissenschaften der Universität Paris-Ouest und hat seit 2013 eine Gastprofessur am Europa-Kolleg Natolin-Warschau inne. Seine neueste Publikation: La Pologne au cœur de l’Europe. De 1914 à nos jours. Histoire politique et conflits de mémoire. Paris 2015.

Andrzej Urbański, enger Mitarbeiter der Zwillingsbrüder Lech und Jarosław Kaczyński, hat zu dem Biografen des letzteren gesagt: „Jarosław Kaczyński war vor 30 Jahren ein Nichts – heute ist er der Mann, der schon mehrfach den Lauf der Geschichte1 verändert hat. Sie können ihn lieben oder hassen … Sie schreiben über einen großen Mann, der starke Emotionen in Ihnen auslösen muss.“2 Mehr noch: „Es ist wahr, Kaczyński ist ein großer Politiker, meiner Ansicht nach der bedeutendste in der Geschichte Polens seit 1989.“3

In der Tat fasziniert Jarosław Kaczyński alle Beobachter durch eine Art geheimnisvollen Schleier, der ihn persönlich ebenso wie als Vorsitzenden der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) umhüllt, vor allem seit dem letzten Wahlsieg; mehr noch als für die Wahl von Andrzej Duda zum Präsidenten der Republik am 24. Mai 2015 gilt dies für den Erfolg bei den Parlamentswahlen am 25. Oktober 2015. Anstatt sich wie 2010 selbst um das Präsidentenamt zu bewerben oder wie 2005-2007 als Premierminister an die Spitze der Exekutive zu treten, hat er nun diese Aufgaben delegiert, um nicht zu sagen, Personen für diese Aufgaben eingesetzt, die ihm völlig ergeben sind. Er selbst bleibt im Schatten seines Büros in der Parteizentrale, scheint durch Stellvertreter zu regieren, aber in letzter Instanz zu entscheiden. Man hat den Eindruck, er sei ein Bauchredner, der seine Stimmen den Marionetten des Präsidenten und der Premierministerin leiht. Ein weiteres Phänomen fällt auf: Man könnte annehmen, seine gesamte politische Gefolgschaft vom Minister bis zum einfachen Funktionär würde nur Erklärungen des Parteivorsitzenden verlesen.

Wie lässt sich eine solche fast schon sektiererische Geschlossenheit erklären, die von vielen Kommentatoren mit einem religiösen Orden – eine häufig gebrauchte Metapher – verglichen wird?

Grundzüge der Biografie von Jarosław Kaczyński

Leben und Persönlichkeit des Führers der PiS sind untrennbar verbunden mit der Person seines Zwillingsbruders Lech und mit dem familiären Klima, in dem beide aufgewachsen sind. Sie wurden wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in einer patriotischen Familie geboren, in der der Mythos des einmütigen, heroischen und unbesiegbaren Polen gepflegt wurde – dies erklärt ihre unkritische Haltung gegenüber der Geschichte. Im Film über die Brüder Kaczyński, den ich für den Fernsehsender ARTE produziert habe, hat sich ihre frühere Geschichtslehrerin Anna Radziwiłł, Erziehungsministerin der ersten nicht-kommunistischen Regierung nach 1989, erinnert: „Der traditionalistische Patriotismus ist gewiss die Grundlage der Motivation (der Brüder Kaczyński). Ich denke, es handelt sich dabei um eine familiäre Traditionslinie … Sie zeichnen sich durch eine herausragende Kenntnis der Geschichte aus … Sie betonen besonders eine eigentlich überzogene Vorstellung von nationaler Gemeinschaft im Sinne eines dominanten Nationalismus, vergleichbar etwa mit dem polnischen Nationalismus zwischen den beiden Weltkriegen (1918 bis 1939).“4 Die kürzlich verstorbene Mutter hat sich wie folgt geäußert: „Sie waren sehr patriotisch, interessierten sich immer nur für die polnischen Schlachten und letzten Endes nur für die, die mit einem Sieg der Polen endeten. Diese Kinder waren noch nicht einmal sechs Jahre alt, als sie aus eigener Initiative nach dem Abendgebet die Nationalhymne gesungen haben.“

Eine andere Etappe des Lebens von Kaczyński sei geschildert, um seine Sicht auf Antagonismen, Konflikte und Verschwörungen und überhaupt sein ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken zu verstehen. Seiner innersten Überzeugung zufolge muss man Schläge austeilen, um keine einzustecken, und es geht dabei nicht um gleichrangige Teilnehmer, sondern um einen Kampf zwischen unversöhnlichen Feinden. Wie sein Bruder hat Jarosław Kaczyński Jura studiert und war besonders fasziniert von seinem Lehrer Stanisław Erlich, einem heterodoxen Marxisten, dem zufolge die Gesellschaft auf einem Miteinander verschiedener Gruppeninteressen beruht. Das hinderte Kaczyński jedoch nicht daran, nach 1989 eine strikt antikommunistische Haltung einzunehmen. Im Interview zu unserem Film betonte er: „Der Kommunismus war für mich seit meiner frühesten Kindheit inakzeptabel, mein Anti-Kommunismus hat sich allerdings ganz bewusst durch eine starke Anbindung an die Tradition der Heimatarmee herausgebildet.“

Zusammenfassend kann man sagen, dass damit der Platz von Polen in der Welt in der Vision Kaczyńskis beschrieben ist. Zugleich wirft dies aber auch ein Licht darauf, wie er mit seinen Gegnern und Unterstützern umgeht. Manche seiner Todfeinde bezeichnen ihn als zynischen Politiker und skrupellosen Machtmenschen, so etwa Lech Wałęsa: „Die Brüder Kaczyński sind Kämpfer. Ihr ganzes Leben, eigentlich schon im Mutterleib, haben sie gekämpft und schon um die Muttermilch gestritten. Obwohl sie im Laufe der Zeit immer wieder Kompromisse schließen mussten … haben sie weiter gekämpft … Als ich Präsident der Republik Polen war (1990 bis 1995), habe ich sie in meine Kanzlei übernommen, musste sie dann aber beobachten lassen, da ihre Tätigkeit nicht meinen Vorstellungen entsprochen hat. Nach ihrer Entlassung wurde es ruhiger.“ Man kann angesichts dieser Bemerkung besser den Hass nachvollzuziehen, den Jarosław Kaczyński gegenüber seinem früheren Wohltäter und Konkurrenten im Pantheon der Helden Polens hegt und den er als einen Agenten des alten Regimes stigmatisiert: „Er sollte unser Präsident sein, aber er trat auf wie ihr Präsident, also der Präsident der Roten.“

Wie ist er ein charismatischer Führer geworden?

Ziehen wir die Überlegungen des amerikanischen Sozialwissenschaftlers Immanuel Wallerstein über das Phänomen eines charismatischen Führers wie zum Beispiel Hugo Chavez in Venezuela5 zu Rate: „Ein charismatischer Führer? Das ist ein Mann oder eine Frau, der oder die sich durch eine starke Persönlichkeit und eine relativ klare und einleuchtende politische Vision auszeichnet und diese mit großer Energie und großem Durchsetzungsvermögen verwirklichen will. Charismatische Führer verstehen es, zahlreiche Gefolgsleute um sich zu scharen. Zugleich bewirken diese Charaktereigenschaften aber auch, dass sich eine starke Opposition gegen ihre Politik herausbildet.“

Trifft diese Beschreibung von Chavez auch auf Jarosław Kaczyński zu? Was die Sympathie betrifft, sicher. Aber Wallerstein vergisst, was wir seit Max Weber wissen: Das Charisma verdankt sich in hohem Maße auch einer Strategie der Selbstdarstellung des Führers, der „sich aufbaut“, und ebenso dem Umstand, dass viele ihn so sehen wollen, wie er selber gesehen werden möchte. Im Film drückt Jarosław Kaczyński dies so aus: „Politisches Talent ist nicht aus sich heraus an das Amt des Premierministers gebunden, denn Premierminister ist man nur für eine gewisse Zeit, aber Politiker bleibt man ein Leben lang …“6

Es ist unbestritten, dass Kaczyński von eine charismatischen Aura umgeben ist, die letztlich zu dem nicht prognostizierten phänomenalen Wahlerfolg geführt hat. Man kann von einer „trickreichen“ Strategie dieses durch und durch politischen Menschen sprechen, deren Ursprung in der äußerst stabilen und emotional aufgeladenen Zuneigung seiner Gemeinschaft liegt, die seine Unterstützer sogar von einer Art übernatürlicher Intelligenz seiner Person sprechen lässt. Zusätzlich zementiert wird die Gefolgschaft durch eine gemeinsame Leidens- und Trauererfahrung: den Tod von Lech, Zwillingsbruder von Jarosław Kaczyński und Präsident der Republik, der durch eine Katastrophe verursacht wurde, die aber als Komplott des russischen „Erbfeindes“ interpretiert wird. Der Flugzeugabsturz wird mit dem Massaker an polnischen Offizieren durch den sowjetischen Geheimdienst in Katyń während des Zweiten Weltkriegs verglichen, sodass die Katastrophe gewissermaßen zu einer mystischen Solidarität mit Jarosław Kaczyński geführt hat.

Was will Jarosław Kaczyński?

Zwischen 2005 und 2007 amtierte er als Premierminister und hat aus dem damaligen Scheitern einige Schlüsse gezogen. Während der jetzigen Wahlen haben sich seine Kandidaten mit Versprechungen zurückgehalten und nur Folgendes im Falle des Wahlsiegs versprochen: die Senkung des Renteneintrittsalters, ein monatliches Kindergeld für jedes Kind in Höhe von 500 Złoty und kostenlose Medikamente für Senioren. Das Projekt einer Umstrukturierung der Gesellschaft wurde abgemildert zu einer heftigen Kritik am sozialen Egoismus der in den letzten acht Jahren herrschenden Eliten; der Wahlsieg reichte jedoch nicht aus für eine verfassungsändernde Mehrheit. Kaczyńskis Wille zu einem radikalen Wandel wird damit auf eine harte Probe gestellt, und das mag auch die Erklärung für die nächtelangen Sitzungen des Sejm und das Durchpeitschen von Gesetzen sein. So wird das Votum des Verfassungsgerichts übergangen, die Proteste der Opposition werden ebenso ignoriert wie Mahnungen aus dem Ausland. Der Chef der PiS zeigt in einer Art „Revolution aus dem Hinterzimmer“ deutlich, dass es ihm um die Durchsetzung eines umfassenderen Projekts geht: alles das abzuwickeln, was die „Dritte Republik“ (1989-2015) ausmacht, und diese durch eine nach seinen Vorstellungen geformte „Vierte Republik“ zu ersetzen.

Fundament der „Vierten Republik“ soll die Stellung Polens in der Welt sein, und zwar auf Grundlage einer Neuausrichtung der Außenpolitik. Nach diesem Modell handelt jeder Staat für sich in einer anarchischen Welt, die klar in Freund- und Feindstaaten unterteilt ist. In diesem Kontext hat Polen nur einen einzigen Freund: die Vereinigten Staaten von Amerika. Die EU soll sich darauf beschränken, einen gewissen Ausgleich zwischen den Staaten zu gewährleisten, die ansonsten ihre egoistischen Ziele verfolgen. Darüber hinaus soll die internationale Zusammenarbeit auf dem Gleichgewicht regionaler Mächte beruhen. Polen hätte in diesem Konzept die Rolle einer Speerspitze für die „V 4“, also die Visegrád-Staaten, die baltischen Länder und die postkommunistischen Länder Südosteuropas unter dem Schlagwort eines neuen geopolitischen Raums mit Namen „Land zwischen den Meeren“, dem Raum zwischen der Ostsee, dem Schwarzen Meer und der Adria.

Gewicht der „politischen Geschichte“

Jarosław Kaczyński hat persönliche Gründe, seine politische Konzeption durch die Geschichte zu legitimieren. Der Weg führt weit zurück, denn es gilt, den Mythos der Wiedergeburt des unabhängigen Polen nach 1989 zu zerstören: Es war eine unwichtige Periode, in der die Brüder Kaczyński zwar politisch aktiv waren, aber keine wichtigen Positionen innehatten. War diese Zeit für sie nun eine Phase der Enttäuschung, vergleichbar mit der von Viktor Orbán in Ungarn zu einer Zeit, in der seine Bewegung Fidesz nur als eine Art „Kindergarten“ des „Bundes Freier Demokraten“ (SZDSZ) von János Kis und anderen Gründern der demokratischen Opposition der 1970er Jahre angesehen wurde?

Die Umwandlung der „Dritten Republik“ in eine „Vierte Republik“ erfordert eine Umkehrung der Legitimitätsgrundlage, mit anderen Worten: die Ersetzung der historischen Erzählung über das friedliche Ende des Kommunismus durch Verhandlungen um einen so genannten Runden Tisch durch eine andere Erzählung. Mit dieser Absicht wird nun in den Archiven der kommunistischen Geheimpolizei geforscht. Mithilfe des „Instituts für Nationales Gedenken“ (Instytut Pamięci Narodowej, IPN) sollen die damaligen Gestalter des Wandels kompromittiert werden. Von daher kommen dann auch die sukzessiven echten oder gefälschten Verunglimpfungen von Lech Wałęsa, der bisher als personifizierter Held des Sieges über den Kommunismus galt.

Wie tief wird sich das politische System Polens verändern? Die autoritäre Art und Weise, wie die Maßnahmen legalisiert werden, ist besorgniserregend. Man sieht, dass die Mechanismen einer funktionierenden Demokratie der Kontrollinstrumente beraubt und so autoritäre Entscheidungen aus einem Machtmonopol heraus getroffen werden. Mehr als Kritik kann die Opposition kaum mehr äußern, da ihre Gegenanträge durch das autoritäre Auftreten des Sejmmarschalls (Parlamentspräsidenten) ins Leere laufen. Im Gegenteil, die von Jarosław Kaczyński und seinen Gefolgsleuten vorbereiteten Anträge der PiS werden fast ohne Diskussion durchgedrückt, der Opposition bleibt nur noch eine Statistenrolle. Damit schlägt die Stunde der außerparlamentarischen Opposition auf der Straße, die auf Emotionen setzt und in guter Tradition aus der Zeit des Umbruchs versuchen wird, ohne Gewalt eine Veränderung mit dem Ziel eines Kompromisses herbeizuführen, ganz ähnlich wie beim Ende des Kommunismus. Sollte aber die wirkliche Macht in den Händen eines einzigen Mannes konzentriert sein, dann wagt man kaum, sich die weitere Entwicklung des Regimes vorzustellen.

Aus dem Französischen übersetzt von Christof Dahm.


Fußnoten:


  1. Einschneidend für ihn war der Tod seines Bruders Lech (Präsident der Republik 2005-2010) durch den Flugzeugabsturz bei Smolensk am 10.04.2010, zusammen mit zahlreichen hochrangigen Repräsentanten Polens. ↩︎

  2. Andrzej Urbański in: Michał Krzymowski: Jarosław. Tajemnice Kaczyńskiego (Jarosław. Die Geheimnisse Kaczyńskis). Warschau 2015, S. 4. ↩︎

  3. Ebd. ↩︎

  4. Film „Citizens ‚K‘ “, ARTE France 2007, Autoren: Georges Mink und Eyal Sivan (daraus auch die folgenden Zitate). ↩︎

  5. Im Beitrag „Le Leader charismatique n’est plus. Et maintenant?“ (05.04.2013, blog von Immanuel Wallerstein). ↩︎

  6. Zitat aus dem Film (wie Anm. 4, oben S. 226). ↩︎