Kultur in Belarus – raus aus der Nische

aus OWEP 1/2021  •  von Ingo Petz

Ingo Petz arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Journalist und Publizist. Sein Schwerpunktthema sind Protest- und Jugendkulturen in Osteuropa, aber auch die klassische politische und kulturelle Berichterstattung. Vor allem zu Belarus hat er sich mit Reportagen oder Analysen einen Namen gemacht. Seine Webseite: www.ingopetz.com

Zusammenfassung

Über Jahrhunderte existierte die belarussische Kultur in einem Zwischenraum. Sie wurde unterdrückt und an den Rand gedrängt. Genau dadurch aber entwickelte sie eine starke Widerstandskraft, um sich unter den schwierigsten Bedingungen durchsetzen zu können. Bei den aktuellen Protesten hat die junge belarussische Kultur, die lange im Untergrund existierte und von dort gegen den autokratischen Machthaber Alexander Lukaschenko opponierte, ihren Platz gefunden: in der Mitte einer Gesellschaft, die sich neu erschafft.

„Ja vychozhu!”, „Ich gehe hinaus!“ waren seine letzten Worte. Dann verließ er seine Wohnung. Stunden später war Roman Bondarenko tot, totgeschlagen von unbekannten maskierten Männern, die in den Hinterhof gekommen waren, um die weißen und roten Solidaritätsbändchen vom Zaun zu schneiden. Der 31-Jährige wollte die Männer zur Rede stellen. Am 12. November 2020 erlag er in einem Krankenhaus seinen Verletzungen. Schon am nächsten Tag versammelten sich hunderte Menschen an diesem Ort. Sie legten Blumen nieder, zündeten Kerzen an. Wie es während der Proteste gegen das autokratische Regime von Alexander Lukaschenko zur Tradition geworden ist, wurde zusammen gesungen. Der Sonntagsmarsch am 15. November 2020 nach der Ermordung fand im ganzen Land unter dem Motto „Ja vychozhu!” statt. In Minsk wurde die Gedenkstätte, die entstanden war, zum Ziel eines Einsatzes von OMON und anderen Spezialeinheiten. Hunderte Demonstranten und Passanten hatten eine Menschenkette gebildet. Sie hatten keine Chance. Die OMON-Einheiten fielen wie eine schwarze Masse über den Hinterhof her.

Der „Platz des Wandels“ als Ort des Protestes

Am Ende des Tages war der Platz geräumt. Bis spät in die Nacht durchkämmten Milizionäre die anliegenden Häuser, fast 1.000 Demonstranten wurden festgenommen.

Der so genannte „Platz des Wandels“ war seit August zu einem ikonografischen Symbol der Protestkultur und ihrer Werte der Selbstermächtigung, Selbstorganisation und Selbstbehauptung geworden: Werte, die tief in der belarussischen Kultur verwurzelt sind. Sie sind das Lebenselixier einer Kultur, die sich jahrhundertelang gegen fremde Mächte und Usurpatoren behaupten musste.

Der Plošča Peramen (Platz des Wandels) war bereits am 6. August in einem der Minsker Hinterhöfe von Aktivisten eingerichtet worden. Dort wehten weiß-rot-weiße Flaggen, Mauern waren mit entsprechenden Symbolen bemalt und ein Transformatorhäuschen mit einem großen Graffito, das die beiden DJs zeigt, die bei einer Kundgebung von Swetlana Tichanowskaja den legendären Song „Peremen“ der russischen Kultband Kino spielten und eben nicht die Veranstaltung „niederschallten“, wie ihnen von den Behörden aufgetragen worden war. Die beiden wurden verhaftet und ihr Bild, auf dem sie das Victory-Zeichen zeigen, zu einem ikonografischen Symbol der Proteste. Das Bild war immer wieder von Regimeleuten entfernt worden, und immer wieder wurde es neu aufgemalt. Es heißt, Roman Bondarenko sei ebenfalls daran beteiligt gewesen. Nicht zurückweichen, gegenhalten, zueinander stehen, kooperieren, Netzwerke bilden, sich nicht mehr wegducken, sich zeigen, den Mund aufmachen, aktiv werden, das Regime mit den Mitteln der Partisanentaktik schlagen – das alles spiegelt dieser Ort wieder. Einem Ort, an dem nicht nur Konzerte oder Lesungen bekannter Musiker und Schriftsteller stattfanden, sondern Intellektuelle und Aktivisten auch spontan Vorträge hielten.

Das Schicksal selbst in die Hand nehmen

Dabei steht das „Ja vychozhu!”, „Ich gehe hinaus!“ nicht nur für die Überwindung der Angst vor dem repressiven Apparat Lukaschenkos, sondern auch für die Überwindung der eigenen Geschichte. Die Belarussen wollen die Geschicke nun selbst in die Hand nehmen und ihr Schicksal nicht anderen Herrschern oder Besatzern überlassen. Sie wollen heraustreten aus der „Unsichtbarkeit“, die den Belarussen und ihrer Kultur über Jahrhunderte als Makel anklebte. Warum unsichtbar? Der belarussische Philosoph Valentin Akudowitsch hat in seinem Buch „Der Abwesenheitscode“ eine Antwort gefunden. In einem Interview sagte er: „Verdeckt war Belarus, weil es das Land ganz einfach nicht gab. Die ganze Zeit über waren wir verschiedenen politischen Gegebenheiten und kulturellen Einflüssen ausgesetzt. Nie haben wir definiert, wer wir eigentlich sind, die hier auf diesem Territorium leben. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts und der Gründung einer belarussischen Volksrepublik waren wir scheinbar gar nicht da. Zumindest gab es uns nicht als Staat.“

Erst 1991 brachte das Ende der Sowjetunion den Belarussen einen eigenen Staat, nach dem sie sich nie so gesehnt hatten wie beispielsweise die Balten, die Georgier oder die Ukrainer. Die „vorgestellte Gemeinschaft“ (Benedict Anderson), die eine Nation ausmacht, war auch schon Anfang des 20. Jahrhunderts vergleichsweise schwach ausgeprägt gewesen. Für das Belarussische, das in seiner alten Form im 16. Jahrhundert zwar Kanzleisprache des Großfürstentums Litauens gewesen war, konnte man sich im wahrsten Sinne des Wortes nichts kaufen. Um die soziale Leiter hochklettern zu können, musste man Russisch können, zu anderen Zeiten war es Polnisch. Die Belarussen, die vor allem als Bauern auf dem Land lebten, nannten sich „Die Hiesigen“, ein übergeordnetes Zusammengehörigkeitsgefühl, auch im Zeichen einer Religion, existierte lange nicht. Verbunden waren die Belarussen über ihre archaischen Riten und Traditionen, über ihre Erzählungen und über ihre Sprache und deren zahlreichen Dialekte. Aber das Belarussische sollte keine Chance bekommen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. Die Sprache war schon im Russischen Zarenreich verboten worden, zu dem der belarussische Kulturraum seit der letzten Teilung des polnisch-litauischen Doppelstaates 1795 gehörte. Erst mit der vorsichtigen Liberalisierung infolge der Revolution von 1905 konnten auch belarussische Intellektuelle ihrer Kultur neues Leben einhauchen. Darunter waren auch Jakub Kolas und Janka Kupala, die heute als Klassiker der belarussischen Kultur gelten. Kupalas Theaterstück „Tutejschyja“ (Die Hiesigen), eines der Schlüsselwerke der belarussischen Literatur, führt vor, wie die orthodoxe Kirche, wie Katholiken, wie Deutsche, Russen, Polen, Rote oder Weiße an den beiden Protagonisten zerren und einen Weg zu sich selbst unmöglich machen. Das Stück spielt zwischen 1918 und 1920, als zahlreiche nationale, politische, religiöse und kulturelle Kräfte den belarussischen Kulturraum und seine Menschen für sich beanspruchten.

Auch der Zweiten Polnischen Republik, zu dem der Westen des Landes in der Zwischenkriegszeit gehörte, stand es nicht im Sinn, das Belarussische zu fördern und damit einer selbstbewussten Kultur den Weg zu ebnen. Stattdessen wurden belarussische Schulen verboten, Intellektuelle und Lehrer eingesperrt. Nicht besser sah es auf dem Territorium der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) aus: Intellektuelle, Akademiker und Künstler, die in den ersten Jahren der jungen BSSR begonnen hatten, das Belarussische als Nominalkultur zu stärken, wurden ab 1937 zu Tausenden unter Stalin ermordet – und mit ihnen das fragile Geschichts- und Kulturgedächtnis des Belarussischen. Nach dem Krieg, der das Land zusätzlich verwüstete und die reiche jüdische Kultur der belarussischen Städte vernichtete, dominierte schließlich das Russische wie überall in der Sowjetunion. Es war die Sprache des neuen sozialistischen Menschen, dem die Zukunft gehören sollte. Das Belarussische wurde als hinterwäldlerisch diffamiert, als museales Folklorestück, und nur in Nischen der Musik und Literatur geduldet. Die Nische, der Zwischenraum ist also das eigentliche Biotop, in dem das Belarussische sein Überleben sichern konnte.

Belarus selbst liegt mit seiner Lage zwischen Ost und West in einem Zwischenraum unterschiedlicher kultureller und politischer Einflüsse, was sich gerade in der Sprache niedergeschlagen hat, deren Einflüsse aus dem Jiddischen, Polnischen, Ukrainischen und Russischen einen unverwechselbaren poetischen Ton hervorgebracht haben. Die Beschwörung und das Negieren der eigenen Identität, die Zerrissenheit der eigenen Identität sind bis heute auch immer wiederkehrende literarische und künstlerische Motive, ebenso das Ausloten von neuen Räumen, die Dekonstruktion und Umdeutung von Mythen, Formen und Sprache. All das speist sich aus der Lust am Spiel mit dem Eigenen. Die Arbeiten von zeitgenössischen Poeten und Autoren wie Volha Hapeeva, Alhierd Bacharewitsch oder Artur Klinau zeigen dies exemplarisch. Erst mit Perestrojka und Glasnost erlebte die belarussische Sprache und Kultur einen neuen Aufschwung. Sie transportierte die Hoffnung derjenigen, die an das Belarussische glaubten. So erhob sich ab Anfang der 1990er eine neue Generation von jungen Musikern und Schriftstellern, die, gefüttert von den nationalromantischen und freiheitlichen Träumen ihrer Eltern und von ihrer rebellischen Anti-Haltung gegenüber dem Sowjetregime, nach alternativen Identitätsmodellen suchten und so zur belarussischen Kultur kamen.

Existenz in einer Parallelwelt

Konzert im Rahmen der Wiedervereinigung der belarussischen Hardrock-Formation Mroja im Jahr 2009
Quelle: LazyestCC Zero

„Das Belarussische hat einen unbändigen Widerstandswillen. Es konnte sich selbst in den unmöglichsten Situationen und unter sehr feindlichen Bedingungen immer wieder seinen Raum erkämpfen. Dies gilt nicht nur für die Sprache an sich. Der Überlebenskampf, das Ringen mit einer Umgebung, die nicht die unsere ist, ist Teil unserer Identität geworden.“ Das sagt Ljavon Volski, Sohn des berühmten Dramatikers Artur Volski. Volski gelang es sogar mit der Hardrock-Formation Mroja (Traum), ein erstes belarussischsprachiges Rockalbum beim Sowjetlabel „Melodija“ zu veröffentlichen. Die Band gründete er 1981. Heute gilt er als Ikone der Protestkultur, der er nicht nur unzählige Hymnen beschert, sondern auch zu einem starken Selbstbewusstsein verholfen hat. „Wir haben begonnen, Rockmusik auf Belarussisch zu machen, weil das damals keiner machte. Wir wollten beweisen, dass das Belarussische sehr wohl Kunst hervorbringen kann.“ Die „Unabhängige Republik der Träume“, die sich kritisch gegen die Autokratie von Präsident Alexander positionierte, wurde zum Sammelbecken für Jugendliche, die anders sein wollten, die sich gegen die Re-Sowjetisierung des Landes stemmten, das ihnen Werte wie Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung verwehrte. Zusammen mit vielen anderen Musikern und Bands wie Kasia Kamockaja, Deviation, Palac, Nejro Djubel, Krambambulaj oder Novae Neba entwickelte sich die Musik zur subkulturellen Speerspitze.

Das Belarussische existierte seitdem lange in einer durch das Regime weitgehend regulierten Parallelwelt, in der es sich trotz aller Repressionen zum kulturellen Kodex für das Anders- und Dagegen-Sein manifestierte. Der Underground wurde zum Hort dieser aufmüpfigen Kultur – nicht nur in Form von Musik, sondern auch für die Literatur, für das Theater oder für die Kunst. Dem in altbackenen neosowjetischen Mustern verhafteten Regime wurde spätestens Mitte der 2000er klar, dass es der quicklebendigen und hippen Bild-, Formen- oder Musiksprache nichts entgegen zu setzen hat, denn die Sowjetnostalgiker, die bisher als traditionelle „Wähler“ die Machtbasis des Präsidenten bildeten, starben weg und es wuchs eine neue Generation heran. Sie ließ sich kaum noch mit dem Mythos der Partisanen, mit Paraden zum „Tag des Sieges“ und mit dem Sowjetkult begeistern. Also überließ man den jungen Kulturleuten gewisse Räume, in denen sie sich austoben konnten. Gleichzeitig aber verfolgte das Regime weiterhin die Politik der Repression, indem es die kulturellen Räume zwar duldete, ihre Ausweitung aber immer wieder zu verhindern versuchte. Der einstige Underground drängte an vielen Orten immer mehr an die Oberfläche der Öffentlichkeit und riss bunte Löcher in den immer noch monotonen, sowjetisch geprägten Alltag. Die Oktober-Straße in Minsk, die sich in den vergangenen sechs Jahren zum Sammelort von Cafés, Hubs, Kulturprojekten oder Bars für Hipster und Kulturschaffende entwickelt hat, ist das offensichtlichste Phänomen dieser Entwicklung.

Auf zu einer neuen Gesellschaft

Mit dem Euromajdan in der Ukraine und dem Eingreifen Russlands in der Ostukraine wuchs die Sehnsucht junger Belarussen nach kultureller Eigenständigkeit weiter, was das Regime Lukaschenko einerseits immer wieder durch das Vorgehen gegen die weiß-rot-weiße Symbolik zu unterbinden versuchte, andererseits aber selbst politisch förderte. Denn es war Lukaschenko selbst, der sich bei den Präsidentschaftswahlen 2015 als Garant der belarussischen Souveränität präsentierte. Aber eine der größten Schwächen des verknöcherten technokratischen Systems Lukaschenko blieb das Fehlen eines eigenen neuen Kulturmodells. Die rot-grüne Staatssymbolik, die Lukaschenko 1995 als verkappte Form des Wappens und der Fahne der BSSR hatte einführen lassen, steht vielen für eine Rückwärtsgewandtheit. Die weiß-rot-weiße Symbolik, die eigentlich aus dem Großfürstentum Litauen stammt und die 1991 zur offiziellen Staatssymbolik wurde, bevor sie Lukaschenko abschaffen ließ, verkörpert für viele Belarussen einen starken Unabhängigkeitswillen und eine progressive Kulturausrichtung.

„Das ganze Land ist zur politischen Bühne geworden“, schreibt die Essayistin Iryna Herasimowitsch. „Auf den Straßen spielen nicht nur alternative Musiker …, sondern auch das Orchester und die Solisten des Bolschoi-Theaters. Und die Philharmoniker treten Tag für Tag vor ihrem Konzerthaus auf, zu ihnen gesellen sich Dichter und Philosophen mit eigenen und fremden Texten, in denen es um den Menschen, seine Verletzbarkeit und seine Würde geht.“ Die Kultur ist mittendrin, sie fordert den Platz ein, den sie so lange angestrebt hat: in der Mitte einer neuen Gesellschaft, die sich neu erfindet. Dichter, Musiker, Künstler und Schauspieler machen sich sichtbar, ihre Kunst wird sichtbar – dank der Belarussen, die sich nicht mehr wegducken wollen. Sie alle gehen hinaus.