„Montenegro ist ein kleines Balkanland, das es trotz aller Probleme verdient, Mitglied der EU zu werden.“ Ein Gespräch mit Botschafterin a. D. Gudrun Steinacker

aus OWEP 4/2018  •  von Konrad Clewing

Gudrun Steinacker war von Juli 2014 bis Juli 2016 deutsche Botschafterin in Montenegro; insgesamt hat sie 13 Jahre als Studentin und Diplomatin an verschiedenen Orten auf dem Balkan verbracht. – Die Fragen stellte Dr. Konrad Clewing (IOS, Regensburg).

Frau Botschafterin, viele kritische Beobachter erachten Montenegro als einen seit einem guten Vierteljahrhundert von Milo Đukanović und seiner Umgebung quasi dynastisch, ja in den Worten mancher als mafiös geführten Staat. Wie berechtigt oder unberechtigt finden Sie derartige Zuschreibungen?

Botschafterin a. D. Gudrun Steinacker (Foto: privat)

Auch in anderen Balkanstaaten gab es die langjährige Herrschaft einer Person bzw. einer Partei. Aber die Situation in Montenegro ist speziell. Der mächtigste Politiker in dem kleinen Land und im April zum Präsidenten gewählte Milo Đukanović ist in verschiedenen Funktionen seit fast dreißig Jahren an der Macht, erst als strammer Anhänger von Milošević, dann als Freund des Westens, der plötzlich die von anderen schon länger geforderte Unabhängigkeit Montenegros anstrebte. In einem Referendum hat sich eine knappe Mehrheit der Montenegriner 2006 dafür entschieden. Die Machtbasis von Đukanović ist die aus der ehemals kommunistischen Partei hervorgegangene DPS mit etwa hunderttausend Mitgliedern, darunter einige in den vergangenen Jahrzehnten sehr reich gewordene Geschäftsleute, einschließlich Đukanović und seiner Familie: ein klassisch klientelistisches Regime. Đukanović hat alle Krisen und Anklagen wegen seiner Verbindung zur organisierten Kriminalität überstanden und seine beiden engsten Weggefährten „überlebt“, mit denen er sich an die Macht geputscht hatte. 1990 galten sie als die „Jungen, Schönen und Gescheiten“. Bulatović blieb Milošević treu und lebt seit 1997 im Exil in Belgrad. Svetozar Marović, von 2003 bis 2006 Präsident von Serbien-Montenegro, wurde 2015 verhaftet, weil er in der Tourismushochburg Budva viele Millionen Euro veruntreut hatte. Nach einem „Deal“ mit der Staatsanwaltschaft pflegt er jetzt seine „angeschlagene“ Gesundheit in Belgrad, gewissermaßen auch im „Exil“. Nur Đukanović ist nach wie vor in Amt und Würden und gilt in der EU als zuverlässiger Partner.

Damit sind wir bei den mafiösen Strukturen. Im letzten und diesem Jahr ist es in dem kleinen Land mit 622.000 Einwohnern zu zahlreichen gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen kriminellen Banden gekommen, mit mindestens zehn Auftragsmorden. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sprechen von der Herrschaft krimineller Strukturen, in die der Präsident, seine Familie und Freunde verstrickt seien. Diesen NGOs und seriösen Medien ist es zu verdanken, dass es in Montenegro zumindest eine Debatte darüber gibt. Sie sind aber Angriffen ausgesetzt, in den regierungstreuen Medien, in sozialen Netzwerken, seitens der Behörden und bis hin zu Mordanschlägen. Bisher hat die EU keinen Weg gefunden, diese Verstrickung von politischen, wirtschaftlichen und mafiösen Strukturen aufzulösen.

Montenegro hat sich nach anfänglicher Beteiligung am Krieg im weiteren Konfliktverlauf im ehemaligen Jugoslawien recht rasch von Belgrad emanzipiert, lange vor Erreichung der Unabhängigkeit im Jahre 2006. Kann es deshalb und zumal mit Blick auf die Rechte und die Integration der ethnischen Minderheiten als Vorbild für die interethnische Aussöhnung in der Region fungieren?

Montenegro ist wie fast alle Nachfolgestaaten Jugoslawiens ein multiethnischer Staat. Während des Bosnienkriegs ist es in Montenegro zu Übergriffen auf Kroaten und vor allem auf Muslime und bosniakische Flüchtlinge gekommen. Etliche wurden ermordet. Bis heute wurden solche Verbrechen nicht aufgearbeitet. Die Muslime in Montenegro, die sich heute meistens als Bosniaken bezeichnen, die albanische Minderheit, die muslimisch und katholisch ist, und die Kroaten unterstützten die Unabhängigkeit Montenegros. Leider blieb die Belohnung dafür aus. Vor allem die Bosniaken im Norden des Landes, aber auch die Albaner leben oft in prekären Verhältnissen. Đukanović ist es gelungen, die Parteien dieser Minderheiten durch Pöstchen und Pfründen an sich zu binden, sodass er sich auf deren Unterstützung verlassen kann. Montenegro ist formal ein säkularer Staat. Allerdings vertritt die mächtige und reiche serbisch-orthodoxe Kirche, zu der sich die Mehrzahl der Montenegriner bekennt, oft extremistische, nationalistische und homophobe Positionen. Die Regierung reagiert kaum darauf. 2015 haben über 3.000 Personen aus dem Norden, überwiegend Muslime, in Deutschland aus wirtschaftlichen Gründen Asyl gesucht, das sie nicht erhalten konnten. Viele sind zurückgekehrt. Ich hätte Bedenken, Montenegro als ein Vorbild für interethnische Versöhnung zu bezeichnen. Für eine interethnische und interreligiöse Versöhnung bedürfte es viel mehr Engagement auf allen Ebenen der Gesellschaft, besonders an der Spitze des Landes. Die Zivilgesellschaft und einige Vertreter der Religionsgemeinschaften bemühen sich darum. Parteien, vor allem die an der Regierung, instrumentalisieren leider bei Bedarf die unter der Oberfläche gärenden interethnischen und interreligiösen Konflikte für ihre Machtspiele.

Wie würden Sie die Grundzüge der jüngeren deutschen und europäischen Politik gegenüber Montenegro skizzieren?

Es gibt kaum mehr Belastungen als Folge der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs, währenddessen es deutscherseits auch zu Verbrechen gekommen ist. In den achtziger Jahren war Montenegro, vor allem das überwiegend albanisch besiedelte Ulcinj/Ulqin mit der Velika Plaza, Plazha e Madh, dem 13 km langen Sandstrand an der Grenze zu Albanien, ein sehr beliebtes Reiseziel. Heute stellen Deutsche mit knapp 50.000 Besuchern nur ca. 3 Prozent der Touristen im Jahr. In den neunziger Jahren bis zur Unabhängigkeit hatte Deutschland wenig Interesse an Montenegro und bewegte sich im Mainstream der EU-Politik gegenüber Montenegro. In den zweitausender Jahren hat Deutschland Montenegro mit umfangreichen Mitteln und mit Projekten von u. a. KfW und GTZ auf dem Weg in die Unabhängigkeit und danach wirtschaftlich und sozial unterstützt. Dennoch, und nicht nur weil Montenegro ziemlich klein ist, sind die Beziehungen weniger ausgeprägt als zu anderen Balkanstaaten. Es gibt immerhin einige entsandte Deutschlehrer an montenegrinischen Schulen, einen DAAD-Lektor sowie deutsche integrierte Experten bei verschiedenen Behörden und Ministerien. Insgesamt sind die deutsch-montenegrinischen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen unproblematisch.

Der Umwelt- und Naturschutz in Montenegro zählte und zählt zu Ihren besonderen persönlichen Anliegen. Was wurde dort in jüngerer Zeit erreicht, was liegt im Argen, und was bedeutet dieser Stand der umweltpolitischen Dinge für die allgemeinere gesellschaftliche Wirklichkeit des Landes?

Leider kann man kaum behaupten, dass die montenegrinische Regierung an Umwelt- und Naturschutz besonders interessiert sei und viel dafür tue. Teilweise mit ausländischer Hilfe wurden sechs Nationalparks eingerichtet. Deren Schutz ist aber aufgrund fragwürdiger wirtschaftlicher Nutzung, von der nur eine kleine Clique profitiert, zunehmend bedroht. Dazu gehört in letzter Zeit der Bau wirtschaftlich zweifelhafter kleiner Wasserkraftwerke, die der Natur und der Biodiversität enormen Schaden zufügen. Die montenegrinische Küste ist durch planlose Überbebauung schon weitgehend zerstört. Der Status der Bucht von Kotor als UNESCO Weltnatur- und Kulturerbe ist bedroht. Abwasser- und Abfallentsorgung liegen im Argen.

Ich engagiere mich seit Jahren für die ehemalige Saline Ulcinj/Ulqin, ein einzigartiges Vogelschutzgebiet und wichtiges Ruhegebiet für Zugvögel, wo man viele oft seltene Vögel, sogar Flamingos und Pelikane, findet. Ich kannte den zu früh verstorbenen deutschen Biologen Dr. Martin Schneider-Jacoby, der dort maßgeblich geforscht hat. Die Salzproduktion wurde kriminell in den Ruin getrieben. Seitdem versucht man das Gebiet ganz oder teilweise zum Bauland zu erklären. Lokale und internationale Naturschützer konnten das bisher verhindern. Aber durch ein unzureichendes Wassermanagement der seit 2015 von der Nationalparkbehörde verwalteten Saline mit ihren 1.500 Hektar verschlechtert sich die Biodiversität kontinuierlich. Die EU-Kommission und das Europaparlament haben in ihren jährlichen Berichten und Resolutionen den Schutz der Saline Ulcinj gefordert. Die Regierung hat außer hohlen Versprechen bisher nichts zustande gebracht. Dies ist ein weiterer Beweis, dass die Personen, die in Montenegro die politische Verantwortung haben, an einer nachhaltigen Entwicklung ihres Landes, von der alle profitieren würden, nicht interessiert sind, sondern nur am eigenen Profit. Zum Glück halten eine ganze Reihe kompetenter und engagierter NGOs die Fahnen hoch. Sie setzen sich mit ihren internationalen Partnern für den Schutz der Umwelt und den Erhalt der wichtigsten Ressource Montenegros, der Natur, ein. Es wäre wichtig, dass die EU viel entschiedener von der Regierung Montenegros die Einhaltung ihrer Verpflichtungen und Versprechen forderte und mit Konsequenzen nicht nur droht.

Dennoch kann ich allen Lesern nur empfehlen, einmal in dieses wunderschöne kleine Land mit seiner einzigartigen Natur, großen Kulturschätzen und seinen liebenswürdigen, gastfreundlichen Bewohnern zu reisen. Montenegro ist ein kleines Balkanland, das es trotz aller Probleme verdient, Mitglied der EU zu werden. Die von mir skizzierten Probleme sind Teil der Probleme der ganzen Balkanregion und können dauerhaft nur für die ganze Region gelöst werden. Sie erfordern eine Abkehr von der bisherigen neoliberalen Transformation zu einer neuen, nachhaltigen Entwicklung zugunsten der Menschen. Renovabis leistet seit Jahrzehnten einen wichtigen Beitrag dazu, wofür ich sehr dankbar bin.