Zu Dumpinglöhnen kreuz und quer durch Europa (Reportage)

aus OWEP 3/2021  •  von Gemma Pörzgen

Gemma Pörzgen (geb. 1962 in Bonn) ist freie Journalistin mit Osteuropa-Schwerpunkt. Sie arbeitet in Berlin als Autorin und Veranstaltungsmoderatorin sowie in der Redaktion von Deutschlandfunk Kultur. Davor war sie als Auslandskorrespondentin für verschiedene Zeitungen in Belgrad und Tel Aviv tätig. Seit April 2020 ist sie Chefredakteurin von „OST-WEST. Europäische Perspektiven“.

Zusammenfassung

Die Ausbeutung von Lkw-Fahrern aus Osteuropa hat sich im wachsenden Transportverkehr während der Corona-Pandemie weiter verschärft. Sie sind monatelang auf den Fernstraßen in Europa unterwegs und werden schlecht bezahlt.

Die Motorhaube des riesigen Lkws auf dem Parkplatz der Autobahnraststätte Michendorf ist hochgeklappt. In der Pfanne auf dem Gaskocher brutzelt das Mittagessen. Drei ukrainische Fernfahrer haben es sich in der Sonne gemütlich gemacht und ihre Hocker aufgeklappt. Es ist Sonntag und damit Ruhetag am Rande der Autobahn rund 30 Kilometer südlich von Berlin.

Auf dem Parkplatzgelände stehen Hunderte von Lastwagen, die meisten mit polnischen Kennzeichen. Viele Fahrer ruhen sich im Wageninnern von der anstrengenden Woche aus, aber die drei Ukrainer lassen Musik erklingen, eine Flasche Schnaps kreisen und feiern. „Wir sind Freunde und kommen alle aus Mykolajiw“, sagt einer der Männer, die ihre Namen lieber nicht nennen wollen. „Wir arbeiten alle für dieselbe polnische Spedition, aber dass wir zusammen auf dem gleichen Parkplatz landen, das gab es noch nie.“

In ihrer Heimatstadt mit rund 500.000 Einwohnern in der südlichen Ukraine haben die meisten Fabriken geschlossen, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Deshalb ist der Fernfahrerjob kreuz und quer durch die Europäische Union (EU) für viele verlockend. „Die bezahlen uns gut“, sind sich die Männer einig. Sie bekämen etwa 60 Euro Lohn am Tag, die Fahrzeuge seien gut in Schuss und die Spedition besorge ihnen die nötigen Visa für die EU. „Der Durchschnittslohn in der Ukraine liegt bei 200 bis 300 Euro im Monat, aber die Preise sind bei uns so hoch wie bei euch.“

Sehr viel kritischer beurteilt die Arbeitsbedingungen der Gewerkschaftler Michael Wahl. Er arbeitet für das Beratungsnetzwerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) „Faire Mobilität“ und ist bundesweit auf Autobahnraststätten und Parkplätzen unterwegs, um osteuropäische Lkw-Fahrer über ihre Rechte zu informieren. Dabei geht es um ausreichende Ruhezeiten, aber vor allem um angemessene Entlohnung.

Wahl beobachtet einen neuen Trend, dass polnische, litauische oder lettische Transportunternehmen immer öfter Fahrer aus den Nicht-EU-Staaten Belarus, Ukraine oder Moldawien zu Dumpinglöhnen beschäftigen. Die Unternehmer wüssten, dass sich diese Fahrer nur in der EU aufhalten dürfen, wenn sie ein Arbeitsvisum hätten. „Sie drängen die Fahrer dadurch in noch stärkere Abhängigkeiten und nutzen gnadenlos aus, dass die Menschen keine echte Alternative haben“, sagt Wahl und spricht von einem „System der organisierten Verantwortungslosigkeit.“

Schwierige Arbeitsbedingungen

Tausende von Lkw-Fahrern sind oft über Monate zu Dumpinglöhnen innerhalb der EU unterwegs, schlafen nachts in der hinteren Nische der Fahrerkabine und campieren auf den Rastplätzen. Im Corona-Winter war die Lage für sie noch schwieriger als sonst. Viele Raststätten waren geschlossen, die Möglichkeit zu duschen fiel damit oft ebenso weg wie der Weg zur Toilette.

„Es ist schon ein sehr einsamer Job“, sagt Igor Kaminski, der ebenfalls aus der Ukraine kommt und gerade vor seinem Lkw eine Zigarette raucht. „Seit drei Monaten bin ich nun auf Tour“, so der 34jährige, der einen Möbeltransport nach Dortmund bringt. „Meine Familie ist schon kaputt, weil ich immer unterwegs bin.“ Seine Frau habe ihn deshalb verlassen, die kleine Tochter sehe er jetzt noch seltener, wenn er überhaupt mal wieder zu Hause in Kirowohrad sei.

In der Industriestadt mit rund 200.000 Einwohnern gibt es für ihn keine berufliche Perspektive. Seit fünf Jahren hat Kaminiski deshalb den Fernfahrerjob, ist damit aber kreuzunglücklich. Außer flüchtigen Begegnungen mit anderen LKW-Fahrern gebe es in seinem Leben kaum noch soziale Kontakte. „Fremdsprachen spreche ich leider nicht, deshalb bin ich eigentlich immer allein.“

In der Pandemie ist der Lkw-Verkehr nicht weniger geworden, denn die großen Internet-Versandhändler wie Amazon waren gut im Geschäft. „Als Pandemie der Ausbeutung im europäischen Güterverkehr“ kritisierte die Internationale Transportarbeiterföderation (ITF) schon im Sommer 2020 die Zustände auf den Straßen. Die Unternehmen hätten sich Corona zunutze gemacht, um ihre Trucker noch stärker auszubeuten, Transportpreise und Löhne weiter zu senken sowie die Beschäftigungsbedingungen und Arbeitsschutzmaßnahmen in ganz Europa zu verschlechtern, beklagte die ITF in einem Bericht.1

Die Firmen zögen Vorteile aus den mangelnden Überprüfungen und Kontrollen während der Pandemie, lautete ein Vorwurf. So würden Fahrer zu osteuropäischen Vertragsbedingungen beschäftigt, obwohl sie in Westeuropa arbeiteten. „Fahrer werden gezwungen, Verträge zu unterzeichnen, die in Sprachen verfasst sind, die sie nicht verstehen“, listet der Bericht weiter auf. Das durchschnittliche Festgehalt liege oft bei nur 100 bis 600 Euro im Monat.

Unter dem Deckmantel der Covid-19-Krise senkten multinationale Kunden und Verkehrsunternehmen Transportpreise und Fahrerlöhne. „Wir dürfen nicht vergessen, dass Lkw-Fahrer die europäische Wirtschaft in Bewegung halten, 75 Prozent des Binnenverkehrs der EU abwickeln und für unser Überleben und den Aufschwung nach Corona unverzichtbar sind“, mahnt die ITF. „Lieferketten sind nur so stark wie ihr schwächstes Glied, und diese Ausbeutung ist untragbar.“

Ärger über Billigkonkurrenz

Auf diese Weise können die polnischen und baltischen Unternehmen ihre Transporte viel billiger anbieten als deutsche oder französische Konkurrenten. Auf den Parkplätzen stoßen die Osteuropäer deshalb auch durchaus auf Ablehnung bei anderen Fahrern. „Ihr macht uns die Preise kaputt, hat mich kürzlich ein Deutscher beschimpft“, erzählt ein ukrainischer Fahrer. Er fahre für einen polnischen Arbeitgeber und habe deshalb auch schon Ärger mit polnischen Truckern gehabt, die ihrem Ärger über die billige Konkurrenz freien Lauf ließen.

„Das ganze Ausbeutungssystem wird in der Pandemie noch auf die Spitze getrieben“, sagt DGB-Aktivist Wahl. Zahlreiche Transportunternehmen hätten ihren Fahrern die Spesen zusammengestrichen, wie das DGB-Beratungsnetzwerk beobachtet hat. Wer vor Corona 23 Euro Lohn und 45 Euro Spesen als Tagespauschale erhielt, bekam jetzt nur noch 30 Euro Spesen am Tag.

Die Fahrer versuchten deshalb erst recht, so viele Spesen wie möglich zu sparen. „Sie schlafen während ihrer wochen- oder monatelangen Touren in ihren Kabinen, waschen per Hand ihre Wäsche im Freien, erhitzen auf Campingkochern mitgebrachte Konserven und vermeiden oft die kostenpflichtigen Sanitäranlagen“, beschreiben die DBG-Berater die Lebensumstände auf den Raststätten und Parkplätzen, an denen sie ihr Informationsmaterial verteilen.

Lkw-Fahrer aus Osteuropa seien aber schon vor Corona um Teile ihres verdienten Lohnes gebracht worden, denn eigentlich gelte auch für sie in Deutschland der gesetzliche Mindestlohn, sagt Wahl. Die Transportunternehmen müssten ihren Fahrern deshalb für 40 Wochenstunden etwa 1.600 Euro zahlen, tun es aber nicht.

Auf dem Parkplatz von Michendorf wissen die ukrainischen Fahrer nichts über den deutschen Mindestlohn und winken ab. „Das gilt für Deutsche, aber doch nicht für uns“, sagen viele. Jeder Fahrer erzählt von einem anderen Lohnmodell seiner Firma. Mal sind es 60 Euro Tagespauschale, dann eine geringere Tagespauschale plus Spesen, andere bekommen einen Monatslohn. „Wir sind prozentual an der Ladung beteiligt“, sagen die drei Freunde aus der Ukraine.

Einig sind sich die Fahrer darin, dass sie höhere Löhne bei ihren Arbeitgebern ohnehin nicht durchsetzen könnten. „Was helfen mir diese Informationen, wenn mein Chef mich jederzeit rausschmeißen kann“, sagt einer der Männer. „Mein EU-Visum ist dann auch gleich weg.“ Die Trucker wissen auch, dass sie sehr leicht zu ersetzen sind. Es gebe Hunderte von Ukrainern oder Belarussen, die für einen solchen Fernfahrerjob Schlange stünden, sagt ein Ukrainer. „Oder es kommen die Kirgisen und Usbeken, die sind noch billiger als wir.“

Europäische Lösungsversuche

„Weil sie für ihre Unternehmen signifikant günstiger sind als westeuropäische Fahrer, geraten die Löhne in der Branche insgesamt unter Druck“, kritisiert auch Ismail Ertug, verkehrspolitischer Sprecher der Sozialdemokraten im Europaparlament. Das sei ein „Teufelskreis, der die gesamte Branche immer weiter nach unten zu ziehen droht“. Auf der EU-Ebene einen Kompromiss zu finden, sei allerdings schwierig.

Im Sommer 2020 hatte das Europäische Parlament ein Mobilitätspaket beschlossen, an dem Ertug vier Jahre lang mitgearbeitet hat. Er sieht darin einen „Paradigmenwechsel“, wenn es auch nicht alle Probleme löse. „So müssen Fahrer in Zukunft nach dem Prinzip ‚gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort‘ entlohnt werden“, erläutert er die wichtigsten Punkte. Außerdem solle mit einer verbindlichen Rückkehrpflicht der Fahrzeuge in das Ursprungsland alle acht Wochen die bisherige Praxis eingedämmt werden, dass ganze osteuropäische Lkw-Flotten ausschließlich in West- und Nordeuropa unterwegs seien, um die niedrigeren Arbeits- und Sozialstandards auszunutzen.

Doch wie es zukünftig weitergeht, ist bisher ungewiss. „Natürlich werden die nationalen Regierungen angeben, dass auch sie gegen Sozialdumping kämpfen wollen“, sagt Ertug. Aber an der echten Bereitschaft der Regierungen in Polen, Litauen und Lettland hat er eher Zweifel. Auf EU-Ebene klagten sie bereits gegen wichtige Bestandteile des neuen Mobilitätspaketes. „Gerade das Prinzip der gleichen Entlohnung am gleichen Ort lehnen sie ab, weil dies aus ihrer Sicht Protektionismus darstellt“, sagt er.

Sorge bereitet dem SPD-Politiker deshalb, dass die EU-Verkehrskommissarin Adina Vălean nicht zuletzt auch auf Druck einiger osteuropäischer Länder ernsthaft überlege, einen neuen Vorschlag zu machen, der einige Elemente des erreichten Mobilitätspaketes bald wieder infrage stellen könnte.

Die Brüsseler Debatte der EU-Politiker ist von der Lebensrealität weit entfernt. Sie sind schon froh, wenn sie auf einem der überfüllten Rastplätze noch einen Standplatz finden. „Jetzt sind wenigstens die Toiletten und Duschen überall wieder offen“, sagt ein Trucker. Er hat noch eine lange Tour vor sich, bevor er wieder nach Hause kann.


Fußnote: