03. November 2015

„Großmachtträume: Russland zwischen Anspruch und Wirklichkeit“

Bericht zur Podiumsdiskussion der Redaktion der Zeitschrift "OST-WEST. Europäische Perspektiven" in Kooperation mit dem Katholischen Bildungswerk Köln und dem Lew Kopelew-Forum e.V. (Köln, Domforum, 28. Oktober 2015) von Dr. Christof Dahm, Renovabis.

Vielerorts im Westen wird die Entwicklung in Russland mit großer Besorgnis beobachtet. Seit der Annexion der Krim im April 2014 und dem kriegerischen Konflikt in der Ostukraine wachsen die Befürchtungen, dass die aggressive Politik Putins zu einem neuen „Ost-West-Konflikt“ führten könnte. Die europäische Sicherheit und Zusammenarbeit, aber auch die globale Friedensordnung könnten hierdurch in Frage gestellt werden. Diese Zusammenhänge waren Anlass für die Podiumsdiskussion, über deren Verlauf der folgende Bericht informiert.


Die Europäische Union steht zwar gegenwärtig durch die Flüchtlingskrise vor einer Zerreißprobe – das „Phänomen“ Russland bietet dennoch immer wieder Stoff für Schlagzeilen. Besonders an der Person des Präsidenten Wladimir Putin scheiden sich die Geister: Außerhalb Russlands reichen die Urteile von „unberechenbar“ bis hin zu „dämonisch“, innerhalb Russlands erfreut er sich hoher Popularität, wobei als ein Wendepunkt die Annexion der Krim im Frühjahr 2014 genannt wird, mit der er ganz offensichtlich dem Selbstbewusstsein der meisten Russen entgegengekommen ist. Ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kann, um es sehr verkürzt auszudrücken, „der“ Russe“ nun wieder stolz auf sein Vaterland sein, das „dem Westen“ die Stirn geboten hat. Dass jedoch im „System Putin“ die Menschenrechte immer wieder verletzt werden, sei es durch Pressezensur oder durch fragwürdige Gerichtsurteile, und das Regierungssystem immer autoritärere Züge annimmt, wird in Russland zwar vielfach beklagt, von der Mehrheit der Bevölkerung jedoch in Kauf genommen. Ebenso sprechen alle verfügbaren Daten dafür, dass die wirtschaftliche und finanzielle Situation des Landes infolge der westlichen Sanktionen immer schwieriger wird und der Lebensstandard der Bevölkerung mehr und mehr sinkt; dies ändert aber nichts an der unverändert breiten Zustimmung für Präsident Putin und seine „Politik der Stärke“ in der russischen Bevölkerung. Die aktuelle politische Entwicklung im Nahen Osten scheint den Erfolg dieser Politik zu bestätigen, denn ohne die Einbindung Russlands ist keine Lösung des Syrienkonflikts möglich.

Auf dem Podium (v.l.n.r.): Prof. Dr. Michael Albus, Dr. Irina Scherbakowa, Oleksandr Zabirko und Prof. Dr. Hans-Henning Schröder (Foto: Burkhard Haneke)

Vor dem Hintergrund dieses Szenariums trafen sich am Abend des 28. Oktober 2015 im Foyer des Domforums in Köln Experten aus Russland, der Ukraine und Deutschland, um über die Rolle Russlands in der gegenwärtigen europäischen Krise zu diskutieren. Die Veranstaltung war von der Redaktion der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven in Kooperation mit dem Katholischen Bildungswerk Köln und dem Lew Kopelew-Forum e.V. organisiert worden und knüpfte an Heft 3/2015 der Zeitschrift mit dem Titel „Russland – Bedrohung oder Partner?“ an. Mitwirkende waren Dr. Irina Scherbakowa, Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ in Moskau, die seit vielen Jahren Erinnerungsarbeit in Russland betreibt und zu den schärfsten Kritikern des zunehmend autoritären Kurses der russischen Regierung zählt, weiterhin Prof. Dr. Hans-Henning Schröder, langjähriger Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und einer der profundesten deutschen Russlandexperten, und der junge ukrainische Germanist Oleksandr Zabirko, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Münster, der aufgrund biografischer Verwurzelung in der Ostukraine auch einige Überlegungen zum ukrainisch-russischen Konflikt mit einbringen konnte.

Schon mit der Eingangsfrage setzte der Moderator Prof. Dr. Michael Albus, verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven, ein deutliches Signal: Ist die Fokussierung der russischen Politik auf Wladimir Putin richtig? Kann man sein Handeln noch als rational einordnen? Vom Podium wurde mit unterschiedlicher Akzentuierung widersprochen. Nach Ansicht von Frau Dr. Scherbakowa muss man ihm eine persönliche Entwicklung zugestehen, deren weiterer Verlauf nicht abzusehen sei. Professor Schröder wies auf Unstimmigkeiten in jüngsten politischen Entscheidungen hin, die darauf hindeuten, dass es neben und hinter Putin einflussreiche Kräfte gibt, mit denen in Zukunft noch stärker als bisher zu rechnen sei. Die weitere Diskussion knüpfte an die grundlegende Frage an, ob Russland tatsächlich wieder als Großmacht ernst genommen werden müsse oder eher einem „Koloss auf tönernen Fußen“ gleiche, analog der Sowjetunion in den letzten Jahren ihres Bestehens. Anspruch und Wirklichkeit klaffen nach Ansicht von Herrn Zabirko erheblich auseinander, die schiere Größe des Landes und das militärische Potenzial dürften nicht darüber hinweg täuschen, dass Russland wirtschaftlich seit einigen Jahren immer schwächer werde; sein Bruttoinlandsprodukt entspreche z. Zt. dem Italiens. Hinsichtlich der militärischen Stärke bestehen nach Ansicht von Professor Schröder im Westen falsche Vorstellungen: De facto verfüge Russland nur über maximal 40.000 einsatzfähige Soldaten und sei daher zu einem Kampfeinsatz an mehreren Fronten, etwa in der Ostukraine und gleichzeitig in Syrien, gar nicht in der Lage. Seit kurzem gebe es bei den von Russland unterstützten Kämpfern in der Ostukraine Anzeichen von Verhandlungsbereitschaft mit Kiew, ein deutlicher Hinweis darauf, dass Moskau seine dortigen Aktivitäten zugunsten des Syrieneinsatzes reduziere.

Prof. Dr. Michael Albus und Dr. Irina Scherbakowa (Foto: Burkhard Haneke)

Muss man – so der Moderator – angesichts dieser offensichtlichen Zeichen von Schwäche Angst vor Russland haben? Frau Dr. Scherbakowa warb um Verständnis für die Enttäuschung ihrer Landsleute, deren private Lage heute häufig schlechter ist als vor zwanzig Jahren. Statt aber die Ursache im Versagen der eigenen Führung zu suchen, werde der „Westen“ verteufelt, vor allem die USA, obwohl man von den Technologien des Westens lebe. All das habe zu einem Minderwertigkeitskomplex geführt und sei der Nährboden für Fremdenhass, Homophobie und letztlich auch grundsätzliche Ablehnung des „dekadenten Westens“, der hinter dem „faschistischen Umsturz“ auf dem Majdan in Kiew 2014 stecke; leider bediene auch die Russische Orthodoxe Kirche viele dieser negativen Klischees. Der Grundzug, der die russische Gesellschaft derzeit ihrer Ansicht nach kennzeichnet, ist Resignation – die kurzzeitige Aufbruchstimmung der neunziger Jahre ist verflogen, die meisten Bürger ziehen sich zurück ins Privatleben und überlassen leider den radikalen Nationalisten, die die aggressive Politik der Regierung Putin gutheißen, das Feld. Der Alltag mit seinen Problemen, z. B. Lohnkürzungen, Einfrieren der Renten, Preissteigerungen (u. a. Ölpreis um 50 Prozent!) mache die Menschen mürbe und verstärke die Angst vor dem „Anderen“, vor einem Umsturz durch die „Faschisten“ nach dem Vorbild der Ukraine – genau diese Lethargie sei die größte Stütze für das System Putin.

„Atomisierung der Gesellschaft“ (so Herr Zabirko) und tiefe Verunsicherung der Bevölkerung gegenüber einem System, das nach außen wie eine Großmacht agiert und im Innern mit eiserner Hand die Opposition mehr und mehr zum Verstummen bringt: Muss man dieses Land, etwa als Bewohner der baltischen Staaten oder der Ukraine, ernsthaft fürchten? Professor Schröder verwies darauf, dass die militärische Stärke Russlands überschätzt werde, selbst wenn man das Atomwaffenpotenzial Russlands berücksichtige; man müsse bedenken, dass Russland durch den Konflikt in der Ostukraine bereits 8.500 Tote und eine hohe Zahl von Binnenflüchtlingen zu verzeichnen habe. Es gelte, die Situation im Lande weiter zu beobachten und die vorhandenen demokratischen Kräfte zu unterstützen. Frau Dr. Scherbakowa beschrieb als Beispiel die Bildungs- und Informationsarbeit von „Memorial“, die trotz mancher Einschränkungen immer noch funktioniere. Auch wies sie darauf hin, dass nach neuesten Umfragen ca. 15 Prozent der russischen Bevölkerung die Forderungen der demokratischen Kräfte unterstützen – und das mache ihr doch Hoffnung für die Zukunft.

Oleksandr Zabirko und Prof. Dr. Hans-Henning Schröder (Foto: Burkhard Haneke)

Professor Albus fragte abschließend, wie man sich ein Russland „nach“ Putin vorzustellen habe. Leider wird das Land nach Meinung der Experten ein Unsicherheitsfaktor auf der weltpolitischen Bühne bleiben, da viele Vorgänge intransparent seien und daher aktuell kaum vorherzusehen sei, wer Putin 2018 nachfolge. Die USA und die Europäische Union hätten, wie Professor Schröder und Herr Zabirko bemerkten, Russland gegenüber auch Fehler begangen; wichtig sei es, das Land künftig als gleichberechtigten Partner bei der Lösung der globalen Probleme anzuerkennen. Vielleicht könne man – so Herr Zabirko – an die „Zauberformel“ des „Gemeinsamen Hauses Europa“ (Michail Gorbatschow) anknüpfen? Frau Dr. Scherbakowas Position war verhalten optimistisch: Die Pandorabüchse sei zwar mit der Okkupation der Krim geöffnet worden, es gebe aber eine starke und selbstbewusste Opposition im Lande, die sich zu Wort melde und dank der neuen Medien auch auf die Entwicklung der Gesellschaft weiterhin Einfluss nehmen könne. Russland habe Ende der achtziger Jahre unglaubliche Chancen gehabt, denn die Sowjetunion habe sich, anders als Jugoslawien, unblutig aufgelöst. Trotz des Niedergangs der letzten Jahre gebe es Spielräume, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft des Landes machten, sowohl im Blick auf die Innen- als auch auf die Außenpolitik.

Über 100 Teilnehmer verfolgten die anregende und zeitweise recht kontroverse Diskussion, in der auch die Möglichkeit zu Nachfragen an die Experten bestand. Als Fazit bleibt festzuhalten: Russland spielt in der Weltpolitik nach wie vor eine wichtige Rolle. Selbst wenn die Modernisierung der Gesellschaft und die demokratische Entwicklung im Innern ins Stocken geraten sind, werden die oppositionellen Kräfte auch künftig in der Lage sein, die Geschicke des Landes und seine Zukunft mitzugestalten.