„Wir müssen dringend mehr wissen, um besser helfen zu können.“ Ein Gespräch mit Michaela Huber

aus OWEP 2/2015  •  von Burkhard Haneke

Michaela Huber ist psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin und Ausbilderin in Traumabehandlung. Sie gilt als eine Pionierin in der Arbeit mit komplex traumatisierten Menschen und hat zahlreiche Bücher und Fachartikel veröffentlicht. Frau Huber ist seit 1995 die 1. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Trauma & Dissoziation, einer Trauma-Fachgesellschaft (DGTD, www.dgtd.de), und erhielt für ihre Arbeit zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen.

Das Gespräch mit ihr führte Burkhard Haneke.

Michaela Huber (Foto: Renovabis-Archiv)

Frau Huber, was hat Trauma überhaupt mit Prostitution zu tun?

Die Frage, was Trauma mit Prostitution zu tun hat, würde ich gerne umkehren: Was hat Prostitution mit Trauma zu tun? Trauma ist ja eine Wunde oder Verletzung, und Prostitution ist Gewalt. Immer. Und deshalb, weil Prostitution Gewalt ist, sind wir als Trauma-Therapeutinnen und -Beraterinnen in diesem Feld überwiegend der Ansicht, dass Prostitution tiefe Wunden hinterlässt. Und das heißt, dass jede Prostituierte, egal ob Kind oder Frau, traumatisiert ist. Oder dies gilt wahrscheinlich doch für die meisten.

Aus unserer Erfahrung wissen wir zudem, dass die meisten Menschen, die ihren Körper verkaufen, in ihrer eigenen Biografie mit missbräuchlichen Situationen und demnach potenziell traumatischen Erfahrungen zu tun haben. Sie kennen es oft schon lange, ihren Körper hergeben zu müssen.

Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrer Praxis mit Opfern von Frauenhandel gemacht?

Wissen Sie, wir ambulant und stationär arbeitende Psychotherapeutinnen erleben nicht Klientinnen, die sagen: „Ich bin ein Opfer von Frauenhandel.“ Wir erleben Frauen, die depressiv sind, die Angststörungen oder Süchte haben, die sich selbst verletzen, die sehr durcheinander sind, die unterschiedliche Selbstanteile haben, die sie teilweise selbst nicht verstehen und koordinieren können. Wir erleben sie in seelischer Not, körperlicher Not, wir erleben sie teilweise mit sexuell übertragbaren Erkrankungen oder auch Autoimmunerkrankungen, in einem manchmal sehr schlechten körperlichen Zustand durch Selbst- oder Fremdverletzung. Wir untersuchen die Frauen körperlich, wenn das überhaupt geht. Viele lassen sich kaum körperlich berühren, weil sie unter großen Ängsten leiden. Wenn wir sie seelisch anschauen können, dann sehen wir in der Regel ein Bild von extremer Not, von psychischen Störungen aller Art, und erst ganz allmählich, wenn das Vertrauen gewachsen ist, ermöglichen die Frauen uns auch, einen Blick darauf zu werfen, in welchen Abhängigkeitsverhältnissen sie sich befinden. Sie wollen oft nicht wahrhaben, vor sich selbst nicht und auch nicht vor anderen, dass sie in irgendwelchen Zwangskontexten leben.

Welche Hilfe brauchen die Frauen konkret, die als Opfer von Zwangsprostitution identifiziert werden?

Da möchte ich fünf Antworten betroffener Frauen nennen. Was am häufigsten genannt wird, ist der Umstand, dass einem geglaubt und man ernst genommen wird. Und Schutz ist ganz wichtig. Verlässliche Helferinnen, die nicht ausbrennen! Daher gegebenenfalls auch Helfernetze! Das Gefühl von Sicherheit. Fluchtwohnungen – oder noch besser: freie Plätze in betreuten Wohngemeinschaften. Mutige Helferinnen, die aufrichtig und authentisch sind!

Fangen wir damit an, dass einem geglaubt wird. Häufig erleben wir, dass überhaupt nicht nachgefragt wird, wenn deutlich wird: Da ist ein multidimensionales Ausbeutungsverhältnis im Hintergrund. Wer sind überhaupt die Täter? Wir kommen häufig mit Zwangsprostitution oder sexualisierter Ausbeutung erst einmal so in Kontakt, dass wir mitbekommen, dass die Frauen sexualisierte Gewalterfahrung haben. Wenn dann deutlich wird, dass sie auch jetzt noch ausgebeutet werden, ist das für die Betreuer, Berater und Therapeuten ein großer Schock. Dann heißt es oft: „Wenn Sie noch Täterkontakt haben, dann können wir Sie nicht behandeln.“ Viele schieben die Patientinnen dann sozusagen aus der Tür, was sehr dramatisch ist und sich unbedingt ändern muss. Wie sollen sie dort herauskommen, wenn wir ihnen nicht helfen?

Dann folgt häufig eine Phase, in der sich die Fachleute Unterstützung holen, weil sie mitbekommen haben: Ich habe hier eine Frau in einem Zwangsausbeutungsverhältnis. Dann findet Ausstiegsberatung oder Ausstiegsbegleitung statt. Das ist etwas, was lange dauert und häufig damit zu tun hat, dass zuerst einmal Schutz organisiert werden muss. Das ist der zweite Punkt: Schutz organisieren! Da fehlt uns noch ganz viel, um diesen Schutz zu gewährleisten. Wir haben Frauen, die sind obdachlos. Wir haben Mädchen und Frauen, Jungen auch, ja Kinder, die auf der Straße leben, die so scheu sind, dass sie immer wieder überall abhauen, sobald sie in irgendwelche engeren Betreuungs- oder andere Kontexte kommen. Teilweise werden sie auch abgeholt, werden besucht und von Täterseite beeinflusst, damit sie schnell wieder zurückkehren zu den Tätern, denn die verdienen ja Geld mit ihnen. Wir erleben, dass die Berater, Betreuer und Therapeuten für die notwendige Ausstiegsbegleitung und -beratung nicht ausgebildet sind, dass sie häufig zu früh versuchen, psychotherapeutisch zu arbeiten. Das heißt: Die Klientinnen sind noch längst nicht in Sicherheit und es wird bereits versucht, Traumatherapie mit ihnen zu machen. Das ist natürlich zum Scheitern verurteilt. Deswegen ist Schutz ein ganz entscheidender Punkt!

Gebraucht werden verlässliche Helferinnen, die nicht ausbrennen! Das kann ich nur unterstreichen. Ganz häufig gibt es am Anfang ein Überengagement, und hinterher brennen die Helferinnen aus. Das ganze Helfernetz brennt aus, weil sich häufig zeigt, dass es sehr lange dauert – wenn es überhaupt gelingt –, dass aus solchen Zwangskontexten ausgestiegen werden kann. Und dass hier viel Vertrauen und langfristige Bindung oder Beziehung nötig sind und ein Verteilen der Arbeit auf mehrere Schultern.

Wenn die Betroffenen nicht fliehen können, brauchen sie Sicherheit, Fluchtwohnungen, damit sie abtauchen können, damit sie sich in Ruhe überlegen können, ob sie bei der Polizei Aussagen machen. Viele wollen das nicht. Sie haben panische Angst, denn die Bedrohungen von Täterseite sind extrem. Deswegen wollen sie am Anfang nichts anzeigen, weil sie ja auch für sich selbst noch gar keine Perspektive haben.

Wichtig ist die Authentizität bzw. Aufrichtigkeit der Helferinnen, die zeigt, dass sie selbst auch manchmal nicht weiter wissen. Wir müssen die Betroffenen selbst als Expertinnen ihres Lebens wahrnehmen und sagen: „Komm, ich muss Dich ganz viel fragen, und Du wirst mich beraten. Hast Du Kinder? Hast Du Schwestern? Werden die auch von den Tätern bedroht? Magst Du die, liebst Du die Täter? Hast Du Dich dort in irgendjemanden verliebt? Oder hast Du nur Angst vor denen? Kommen sie zu Dir nach Hause? Hast Du ein Handy von denen? Hast Du eine Scheckkarte von denen?“ Wir müssten permanent solche Fragen stellen, um überhaupt einen Einblick in den Kontext dieser Ausbeutungsverhältnisse und dann einen Fuß in die Tür zu bekommen. Was die Betroffenen stattdessen häufig erleben, ist ein System von Beratung, Betreuung und Therapie, das überhaupt nicht auf sie zugeschnitten ist. Es gibt leider viel zu wenig Professionelle, die darauf vorbereitet sind, mit diesen Opfern von Zwangsprostitution zu arbeiten.

Welche Voraussetzungen braucht es auf der Seite der Patientinnen, um ihnen überhaupt helfen zu können?

Der allererste Punkt ist Ehrlichkeit mit sich selbst. Ich finde das sehr bedeutend. Es kann eine Phase geben, in der es in Bezug auf Aufrichtigkeit lange hin- und hergeht. Wir schaffen es nur bei den Betroffenen, die entweder so verzweifelt und in Not sind, dass ihnen alles egal ist, sie da heraus zu bringen, oder bei denen, die sich so eine Ecke bewahrt haben, aufrichtig mit sich selbst zu sein. Es wird ihnen ja sehr leicht gemacht sich zu belügen. „Bei uns gibt es Sekt statt Selters“, sagen die Täter, „bei den anderen, da bist Du Sozialhilfeempfänger, bei uns kriegst Du Halli-Galli“, zumindest ab und zu. Es wird ihnen leicht gemacht, nicht aufrichtig mit sich zu sein. Aber diese Aufrichtigkeit ist absolut notwendig, um sich da heraus zu arbeiten.

Der nächste Punkt, der auch von Betroffenen genannt wird, ist die Entscheidung für das Leben. Das ist sehr wichtig, weil es eine Gleichgültigkeit geben kann, sich ausbeuten zu lassen, sich benutzen zu lassen, zu sagen, es ist mir eh alles egal, ich sterbe über kurz oder lang sowieso. Denn man erlebt, dass andere draufgegangen sind, dass andere gestorben sind, entweder im Zuge der Ausbeutung oder in dem sie sich selber getötet haben. Der Zwangsprostitutionsbereich ist teilweise extrem hart, da sterben Menschen, die man kennt, Freundinnen, die man gewonnen hat – entweder durch fremde oder durch eigene Hand. Viele glauben an eine Art Suizidpakt: Entweder wir leben zusammen oder wir sterben zusammen. Und wenn die anderen schon tot sind, dann gibt es einen enormen Sog, es auch selbst zu tun. Also eine Entscheidung für das Leben ist hier sehr wichtig.

Eigenverantwortung bzw. die Motivation, das eigene Leben zu ändern und dem entsprechend notwendige Schritte auch umzusetzen, sind weiterhin wichtig. Eigenverantwortung bedeutet, dass es noch Reste gibt, die nicht nur durch die Täter bestimmt sind. Die Täter nehmen einem ja alles ab, Papiere, Geld, Kleidung häufig alles, und man ist in absoluter in Abhängigkeit von diesen unberechenbaren Menschen. Es ist aber ganz wichtig, dass ein Stückchen in den Betroffenen erhalten bleibt, wo sie selbst eigenverantwortlich handeln können. Dass sie zum Beispiel auch barfuß auf die Straße laufen können, um Hilfe rufen können, dass sie jemanden ansprechen können, egal in welcher Sprache, dass sie irgend eine Art von Charme haben, jemanden so um den Finger zu wickeln, dass der anfängt, sich für sie zu interessieren, zu spüren, dass sie in Not sind und ihnen Hilfe anbietet. Dass es bei den Betroffenen also etwas gibt, was sich in der Persönlichkeit noch nicht total aufgegeben und den Tätern angepasst hat. Deswegen ist ein weiterer Punkt auch logischerweise Mut. Wer da raus will, braucht eine ganze Menge Mut. Und es ist oft der Mut der Verzweiflung.

Warum haben die Frauen so wenig Selbstschutz und können sich nur selten selbst aus der Situation befreien?

Weil sie wie Sklaven gehalten werden, das Ganze ist ja ein moderner Sklavenmarkt. Die Frauen werden auch psychisch in Abhängigkeit gehalten, indem man so tut, als würde man sie mögen. Immer wieder wird versucht, ihre seelische Situation auszunutzen. Oder man macht ihnen Hoffnungen und Versprechungen. Sie erhalten gelegentlich eine größere Summe Geld, verfügen über ein gewisses Maß an Luxus, bekommen plötzlich ein Auto und so weiter und so weiter. Sie kriegen Goldkettchen geschenkt, sind dann ganz gerührt und finden es hinreißend, verstehen aber nicht, dass das nur ein Miniprozentsatz dessen ist, was die Täter mit ihnen verdient haben. Das gehört zu der psychischen Manipulation, und sehr viele Frauen sind hochdissoziativ, also krankhaft gestört, sind in sich gespalten, sodass sie von Zustand zu Zustand wechseln und nicht über ein durchgängiges Alltagsbewusstsein verfügen. Sie haben sozusagen Prostituierten-Anteile in sich, die nur dafür da sind, sich angeblich gern und freiwillig zu prostituieren. Sie können das tun, sie spüren nichts, haben dabei keine Schmerzen.

Studien mit Prostituierten haben gezeigt, dass sie im Vergleich zu Frauen, die sich nicht prostituieren, Abschalteffekte im Gehirn haben, sodass sie, während sie körperlich von den Kunden oder den Tätern traktiert werden, gar nichts spüren. Das bedeutet aber nicht, dass der Schmerz nicht da ist, sondern er ist nur woanders. Und eines der größten Probleme, das wir haben ist, besteht darin, dass dieser Abschalteffekt, sobald die Frauen aussteigen, nicht mehr funktioniert. Dann werden sie überflutet von Schmerzsyndromen. Diese Zustände halten aber viele nicht aus, und sie spüren, wenn sie wieder zurückkehren, dann funktioniert das Abschalten wieder. Dann können sie im Alltag wieder besser funktionieren. Das ist auch einer der wichtigen Gründe, weshalb die Frauen zurückgehen – auch eine Form der psychischen Abhängigkeit.

Was wären bezüglich des Umgangs mit Trauma-Opfern von Frauenhandel und Zwangsprostitution besondere Anliegen an Politik und Gesellschaft?

Wir brauchen ein Bewusstsein, dass sich viele der Trauma-Patienten, ob einheimische oder solche, die aus anderen Ländern zu uns kommen, in Ausbeutungsverhältnissen befinden. In seelischen, körperlichen oder sexualisierten Ausbeutungsverhältnissen. Danach muss ganz schlicht gefragt werden, wobei man lernen muss, wie man und wann man wie fragen kann. Und sobald man weiß, dass das der Fall ist, braucht es umfangreiche Hilfen. Es ist ein Elend und eine Schande für ein reiches Land wie Deutschland, dass es diesen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen keine oder kaum koordinierte Hilfen zur Verfügung stellt, sobald deutlich wird, dass sie sich in Ausbeutungsverhältnissen befinden. Es fehlen Fluchtwohnungen, es fehlen niedrigschwellige Angebote, jemanden in Sicherheit zu bringen, sie oder ihn mit Geld auszustatten. Es fehlt eine 24-Stunden-Intensivbetreuung; ohne diese schaffen es die Betroffenen oft nicht, dem Drängen der Täter zu widerstehen und ihre seelische Not zu beruhigen.

Weitere wichtige Fragen, die aber oft nicht gestellt werden, sind: Wer ist außen herum gefährdet, Geschwister oder andere Angehörige? Wer bedroht sie? Gibt es Täternetzwerke im Hintergrund? Die Berater, Betreuer oder Therapeuten kommen manchmal gar nicht auf die Idee, dass hier systematische Ausbeutungsverhältnisse vorliegen könnten. Es fehlt an Fortbildungen und es fehlt an Koordination, um herauszufinden, wer überhaupt der oder die Täter sind. Und schon gar fehlt es an Wissen über internationale und multidimensionale Täterringe.

Fast immer geht es darum, Geld zu generieren für eine Gruppe. Diese Gruppe kann zum organisierten Verbrechen gehören, zum Rotlichtmilieu, es kann sich um Kinderprostitution handeln. Es können Hard-Core-Sadisten im Spiel sein oder Sekten, ein destruktiver Kult. Manchmal sind es auch Verwandte, geldgierige oder psychisch kranke Angehörige, manchmal auch nur psychotische Menschen, die sie ausbeuten und im Keller gefangen halten oder extrem bedrohen.

Das Spektrum von Ausbeutung ist riesig. Es gibt einen multidimensionalen Ausbeutungshintergrund bei vielen von Zwangsprostitution Betroffenen, und den müssen wir ausleuchten. Wir müssen wissen, mit wem wir es auf der anderen Seite, bei den Tätern, zu tun haben. Wir müssen kooperieren mit Strafverfolgungsbehörden, die aber oft erschreckend ahnungslos sind. Die Kripo vor Ort weiß manchmal nur das, was im Rotlichtmilieu passiert. Die kennt den größeren Ausbeutungs-, den internationalen Täterring gar nicht oder kaum, oder es interessiert sie nicht. Das heißt, wir müssen auch die Strafverfolgungsbehörden, die Kriminalpolizei, die international agierenden Polizeibehörden besser schulen. Wir wissen als Therapeuten und Berater oft viel mehr als die Polizei, weil die meisten Betroffenen ihr Wissen niemals der Polizei anvertrauen würden. Aber wir wissen ganz viel. Und allmählich versteht die internationale Polizei erst, dass sie uns fragen muss, wenn sie irgendwas über diese Täterringe und ihre Arbeitsweise verstehen will.

Und wir müssen schließlich Helfernetzwerke aufbauen, die verlässlich sind, die vertrauenswürdig sind, und wo die Betroffenen wirklich Hilfe und Unterstützung bekommen. Denn es geht, und damit ende ich, um sehr viel Geld. Jemanden aus der Zwangsprostitution herauszuholen, individuell, ist die eine Sache. Sich insgesamt darüber klar zu werden, dass wir uns, wenn wir das tun, mit dem größten Geldgeschäft weltweit anlegen, ist eine andere Sache.