Wende? Revolution? Umsturz? Krise? … und was danach kommt

Zur historischen „Normalität“ der Veränderung
aus OWEP 1/2014  •  von Hans Hecker

Prof. Dr. Hans Hecker war von 1982 bis 2007 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte Ost- und Ostmitteleuropas in Mittelalter und Neuzeit und die Beziehungen Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn.

Zusammenfassung

Geschichte ist eine unaufhörliche Abfolge von Veränderungen der Lebens- und Organisationsformen der Menschen. Zugleich steckt in jeder Veränderung mehr Bleibendes, als es scheint, und die Entwicklung verläuft niemals gleichförmig. Aus den gleichen Ursachen wie Krieg, innere Unruhen, schwindende Legitimität der Macht resultieren unterschiedliche Folgen – Bewertungen und Begriffe bleiben in der Diskussion.

Ursprünglich lautete der Themenvorschlag „Die Wende und die Transformation von 1989/90“. Da der Schwerpunkt des Heftes dem Themenfeld hundert Jahre Europa, 1914 bis 2014, gewidmet ist, versucht der folgende Beitrag, den Untergang der DDR und die staatliche Einheit Deutschlands in einen größeren historischen Zusammenhang zu stellen.

Veränderung und Beharrung

Zunächst zeigt ein nachdenklicher Blick in die Geschichte eine unaufhörliche Abfolge von Veränderungen der Lebens- und Organisationsformen der Menschen. Nichts bleibt, wie es ist. So scheint es, aber was verändert sich unterhalb der Oberfläche der sicht- und greifbaren Dinge wirklich? Steckt nicht in allem, was wie eine Veränderung aussieht, noch mehr von dem, was bleibt? Der Erfolg eines jeden Geschichtsunterrichts sollte darin bestehen, erkennbar und bewusst zu machen, dass Gegenwart und Zukunft aus der Vergangenheit hervorgehen. Und sieht man genauer hin, findet man, dass es nicht den einen Strom der Geschichte gibt, sondern viele Ströme, die zwar gleichzeitig fließen, aber mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und nicht unbedingt in die gleiche Richtung. Es gibt Konjunkturen der Beschleunigung und Phasen der scheinbaren Stagnation. So müssen wir uns auch bei unserem Thema stets fragen: Was wirkte bei den Ereignissen von 1989/90 zusammen? Welche Kräfte, Interessen, Traditionen traten da zutage, und wie könnte der vergleichende Zusammenhang aussehen?

Staaten vergehen, Staaten entstehen

Am 22. August 1990 beschloss das Parlament der Deutschen Demokratischen Republik, die Volkskammer, mit Wirkung vom 3. Oktober gleichen Jahres dem Geltungsbereich des Grundgesetzes, der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, beizutreten. Ein erstaunlicher Vorgang: Ein international anerkannter Staat löste sich auf und gliederte sich in einen anderen Staat ein. Ähnliche Vorgänge hatte es vorher schon gegeben. So beschlossen z. B. die Parlamente der baltischen Staaten 1940, der UdSSR als Sowjetrepubliken beizutreten. Dies geschah jedoch, im Unterschied zur DDR, unfreiwillig in aussichtsloser Lage und unter stärkstem Druck.

Häufiger findet man jedoch den umgekehrten Vorgang: Ein Staatsverband zerfällt, und seine Teile erklären sich zu selbstständigen Staaten. Beispiele dafür sind das Osmanische Reich, Österreich-Ungarn oder auch, zumindest teil- und zeitweise, das Russische Reich am Ende des Ersten Weltkrieges. Zum ersten innereuropäischen Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg führte anfangs der 1990er Jahre der Zerfall Jugoslawiens in sieben Republiken, die sich z. T. heute noch feindselig gegenüberstehen. Friedlich ging hingegen die Teilung der Tschechoslowakei mit Beginn des Jahres 1993 vonstatten, ebenso die Auflösung der Sowjetunion am Ende des Jahres 1991.

Die Grenzen sind also, wie diese Beispiele zeigen, in ganz Europa in Bewegung, und der Prozess geht weiter. So streben starke Kräfte die nationalstaatliche Unabhängigkeit an: Schotten wollen nicht mehr der Londoner, Katalanen nicht mehr der Madrider Zentrale zugehören. Grenzen verschwinden, Grenzen werden neu gezogen. Speziell am Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ist die zweifache Grenzveränderung: Die Volkskammer beschloss den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland für die ganze DDR, wodurch die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten aufgehoben wurde. Dann aber blieb das Staatsgebiet der nunmehr ehemaligen DDR keine geschlossene Einheit. Vielmehr wurde es aufgegliedert, und zwar in fünf Bundesländer, die im Wesentlichen der Situation vor der Aufteilung der DDR in Bezirke 1952 entsprechen. Berlin bildet insofern eine Besonderheit, als sein West- und sein Ostteil zusammengefügt wurden und Gesamtberlin nunmehr in erweiterter Form zu den „neuen“ Bundesländern hinzugezählt wird. Somit zog man innerhalb des „Beitrittsgebiets“ neue Grenzen, die aus der Sicht wirtschaftlicher Potenz und administrativer Effektivität nicht unbedingt sinnvoll sind, aber dem Selbstverständnis der Bewohner Rechnung tragen sollen. Beides haben sie übrigens mit den Bundesländern der „alten“ Bundesrepublik gemein. Es ging neben der Angleichung an die westdeutschen Strukturen darum, die Spuren der DDR-Zeit auch auf dieser Zwischenebene der deutschen Staatsverwaltung so weit wie möglich zu verwischen.

Ursachen des Wechsels

Fragt man danach, wie und warum es zu derartigen Veränderungen kommt, stößt man auf eine Reihe von Ursachen. Wenn es sich um den Zerfall von Staatsverbänden handelt, liegen die Gründe meistens in ethnisch-nationalen Unterschieden bzw. Gegensätzen. Vielvölkerreiche bringen es zwar häufig zu einer beachtlichen Lebensdauer, so etwa das Osmanische und das Russische Reich sowie die Donaumonarchie, aber sie tragen doch den Keim ihrer Auflösung in sich. Das Osmanische Reich schrumpfte zu der nationalstaatlich konzipierten türkischen Republik, die sich der griechischen und der armenischen Minderheiten entledigte und sich „nur“ noch, dafür lang anhaltend, mit dem kurdischen Volk auseinanderzusetzen hat. Im Falle Russlands verhält es sich so, dass es in zwei Schüben nichtrussische Nationalitäten aus seinem Verband hat entlassen müssen: Polen und Finnland sowie zeitweise die baltischen Republiken nach dem Ersten Weltkrieg; 1991 im Zuge der Auflösung der Sowjetunion wurde eine Reihe von Republiken, die ihre Peripherie gebildet hatten, unabhängig: Estland, Lettland, Litauen, Weißrussland, Ukraine, Republik Moldau, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan und Kirgistan. Immerhin existiert die Russländische Föderation weiterhin als multinationaler Staat. Das Habsburgerreich hatte sich lange Jahrhunderte behaupten können, auch dank einer gewissen Elastizität in seiner Nationalitätenpolitik, bis die Siegermächte des Ersten Weltkrieges ihm ein definitives Ende setzten.

Die nationalpolitischen Probleme und Spannungen unter den freigesetzten Völkern konnten jedoch bis jetzt nicht wirklich beigelegt werden. Das zeigt sich am Beispiel Jugoslawiens, das sich im 20. Jahrhundert nur für eine begrenzte Zeit am Leben zu halten vermochte, bis es durch die scharfen nationalen Gegensätze in seinem Innern regelrecht gesprengt wurde. Dieser Aspekt spielte nun bei der DDR gar keine Rolle. Die ethnisch-nationale Einheit beider deutscher Staaten war trotz aller Unterschiede eine unbestreitbare Tatsache, und die Bemühungen der SED-Führung, eine „sozialistische“ Nation zu kreieren, waren derart künstlich, dass sie ins Leere laufen mussten.

Kriege und ihre Folgen

Unter den Anlässen für derartige Änderungen staatlicher Strukturen sticht, hier bereits mehrfach genannt, der Krieg hervor. Der Erste Weltkrieg führte, wie erwähnt, im Ergebnis vollständig oder teilweise zum Zerfall bzw. zur Aufteilung der europäischen Vielvölkerreiche und damit zur Bildung etlicher national nominierter Einzelstaaten. Ähnliches lässt sich, wenn auch wesentlich geringer dimensioniert, vom Jugoslawienkrieg sagen. Allerdings lagen bei ihm Ursache und Ergebnis, die Spannungen zwischen den Nationalitäten, viel näher beieinander als beim Ersten Weltkrieg. Der Zweite Weltkrieg war unter dem Anspruch auf Eroberung und Unterwerfung anderer Völker vom nationalsozialistischen Deutschland herbeigeführt worden. Mit seinem Ende entstanden die vergewaltigten und zum Teil aufgelösten Staaten erneut, wenn auch nicht immer mit vorherigem territorialem Bestand, wie das Beispiel Polen zeigt. Für die kriegsauslösende Macht Deutschland endete der Krieg mit der Dreiteilung: im Osten die Übernahme der Reichsgebiete bis zur Oder und Neiße durch die Sowjetunion und Polen, in der Mitte die sowjetische Besatzungszone und im Westen die bald zusammengeführten britischen, amerikanischen und französischen Besatzungszonen. Diese Dreiteilung ging in eine faktische Zweiteilung über, deren konfrontativer Charakter aus dem globalen Ost-West-Gegensatz resultierte.

Weltweit handelte es sich dabei nicht um die einzige derartige staatliche Zweiteilung: Sowohl China und Korea als auch Vietnam bildeten zwei Staaten unter amerikanischer und sowjetisch-chinesischer Patronage, von denen bisher nur Vietnam die staatliche Einheit wiedererlangte – nach einem endlos langen, fürchterlichen Krieg zunächst gegen Frankreich, dann gegen die USA und deren Verbündete.

Innerer Widerstand

Damit sind wir bei einer anderen Möglichkeit der Veränderung politischer Strukturen: der Lösung von Kolonialvölkern aus der Herrschaft der jeweiligen Vormacht. In etlichen Fällen gelang sie auf dem Wege politischer Verhandlungen und Übereinkunft, in anderen Fällen durch hartnäckigen, aber friedlichen Widerstand wie in Indien dank des Wirkens Mahatma Gandhis. Schließlich kam es, wie in Indochina, wie Vietnam damals genannt wurde, zu Kriegen, die nach schweren Opfern zulasten der Kolonialmacht endeten.

Nicht direkt um Kolonialreiche, sondern um Machtbereiche ging es bei den Bestrebungen der ostmittel- und südosteuropäischen Völker, sich unter dem harten Zugriff der Sowjetunion Eigenständigkeit und Selbstbestimmung, zumindest mehr eigene Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Das war am 17. Juni 1953 in der DDR der Fall, 1956 in Polen und Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei, 1970 und danach wieder in Polen. Es ging dabei anfänglich nicht um Änderungen der staatlichen Strukturen, sondern um Verbesserungen der materiellen und zivilen Lebensbedingungen. Das Problem entstand dadurch, dass die sowjetische Führung darin einen Angriff auf ihre Vormachtstellung und den Fortbestand des von ihr geführten weltpolitischen Lagers sah. Deswegen zerschlug sie immer wieder diese Bewegungen, so lange sie dazu in der Lage war. Gleichzeitig konnte der von den USA geführte politische „Westen“ aus Rücksicht auf die fragile politisch-militärische Balance nichts unmittelbar unternehmen. In diesen Komplex war auch die DDR eingebunden, mehr noch: Da die DDR ohne die Bundesrepublik Deutschland nicht zu denken war, beide Staaten in der „deutschen Frage“ über alle Gegensätze hinweg letztlich auf Gedeih und Verderb aneinander gebunden waren, beeinflussten diese globalen Bedingungen auch die politischen Möglichkeiten der Bonner Republik und darüber hinaus die Politik der jeweiligen Bündnissysteme.

Unzufriedenheit, Empörung, Selbstbestimmung

Wenn wir noch einmal nach den Ursachen und auslösenden Momenten der hier knapp und unvollständig umrissenen Veränderungen und Bewegungen fragen, dann finden wir eine ganze Reihe recht unterschiedlicher Antworten. An vorderer Stelle wäre gewiss die in der Bevölkerung verbreitete Unzufriedenheit mit wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen zu nennen. Dies zeigt schon die Mutter aller Revolutionen, die Französische Revolution von 1789 und in den folgenden Jahren. In der jüngst vergangenen Zeit verbindet sich damit ein weiteres Motiv, das erst in den letzten Jahrzehnten ins öffentliche Bewusstsein gelangt ist: die umweltpolitischen Belastungen, die sich zu Gefahren für die Gesundheit, für die Natur und in kaum abzuschätzender Weise für die Zukunft unserer Zivilisation auswachsen. Dieses Motiv trug wesentlich zur Empörung der Menschen in den baltischen Sowjetrepubliken bei, die der von Moskau betriebenen Wirtschaftspolitik erhebliche ökologische Schäden verdankten, ohne wenigstens eine ökonomische Gegenleistung zu erhalten: die Verwüstung der Heimat, die man im historischen Zusammenhang mit der nationalen Unterwerfung und Drangsalierung durch die Sowjetunion sah. Auch in der DDR spielte die Kritik an der Industrie- und Umweltpolitik der SED mit ihren katastrophalen Wirkungen eine immer wichtigere Rolle.

Die kritische Auseinandersetzung der Menschen mit den politischen Verhältnissen korrespondiert mit der Forderung nach politischer Teilhabe. Die wirtschaftlich-technische Entwicklung erfordert hochwertig ausgebildete Menschen, die sich jedoch auf die Dauer nicht auf ihre Rolle als Arbeitskräfte reduzieren lassen, sondern ihrem Bildungsstand und Leistungsvermögen entsprechend ihre Lebensbedingungen aktiv und verantwortlich gestalten wollen. Diese Folgewirkung zunehmender Qualifizierung, die sich mit nationalem Selbstbewusstsein verbinden kann, ist von den diktatorisch, autoritär oder zumindest paternalistisch gesinnten Führungsgruppen lange übersehen oder verdrängt worden. Auch in der DDR ließ sich der Anspruch wachsender Kreise auf Selbstbestimmung immer schwerer ignorieren oder unterdrücken.

Versagende Bindekräfte

Unter den Ereignissen, die zu staatlich-territorialen Veränderungen führen können, haben wir den Krieg genannt, zu dem die folgende friedensvertragliche Neuregelung gehört. Was kann jedoch in Friedenszeiten eine emanzipatorische Bewegung fördern und die mehr oder minder eruptive Entladung aufgestauter Spannungen auslösen? Da fällt der Blick auf Josip Broz Tito als Muster eines Staatsmanns, der es verstand, sein Jugoslawien durch persönliches Charisma, das von einem zunehmenden Persönlichkeitskult unterfüttert und durch innenpolitischen Druck stabilisiert wurde, zusammenzuhalten. Sein Tod löste diese personenzentrierte Bindekraft auf, nicht ohne Grund hatte seine Umgebung ihm den endgültigen Abschied nicht gegönnt. Danach brachen sich die lange unterdrückten zentrifugalen Kräfte ihre Bahn.

In der Sowjetunion schwand die Kraft, das gewaltige Imperium zu führen, mit der abnehmenden Fähigkeit, den wirtschaftlichen, technischen und militärischen Wettlauf mit den USA durchzuhalten. Die politischen und wirtschaftlichen Lasten des Bündnissystems waren nicht mehr zu schultern, und die sozialökonomische Infrastruktur verfiel. Die Erstarrung des politischen Systems und die ideologische Leere waren schon längst nicht mehr zu übersehen. Es kennzeichnete die Verhältnisse, dass es kein Verfahren gab, Führungspersonal, das regierungsunfähig geworden war, auf zivile, verfassungsmäßige Weise auszuwechseln. Breschnew und seine beiden Nachfolger ließ man wie Monarchen sterben, ehe man daran ging, den nächsten Generalsekretär zu inthronisieren. Ähnlich waren die Verhältnisse in den anderen Ländern des „real existierenden Sozialismus“. Die substanzielle Schwäche dieser Regime trat zutage, als Michail Gorbatschow, der als neuer starker Mann zur Stabilisierung des maroden Systems angetreten war, unter dem Druck der Verhältnisse die Unterstützung und Verantwortung für die Partnerländer aufgab und sie sich selbst überließ.

Wende? Umsturz? Revolution?

Wie kann man bezeichnen, was dann geschah? Gängig ist die Rede von der „Wende“. Wende bedeutet, wenn man es genau nimmt, dass eine Bewegung in die entgegengesetzte Richtung umgelenkt wird. Dies kann gelten, selbst wenn die erste Bewegung schon längst vor die Wand gefahren war. Im Grunde handelt es sich aber um einen ziemlich harmlosen und an Aussage schwachen Begriff. Vor allem legt er die Vorstellung nahe, dass dieselben Personen, die bisher das Steuer in Händen hielten, nun auch in die „Wende“ umsteuern. Es scheint völlig berechtigt, dass Menschen, die in der DDR auf eine Veränderung der Verhältnisse hingearbeitet hatten, sich auf die „Wende“ nicht einlassen mochten.

War es ein Umsturz? Dieser Begriff enthält ein Element der Gewalttätigkeit, das in der DDR wie in den meisten anderen sozialistischen Staaten nicht oder nur in Einzelfällen zu beobachten war. In der DDR sackte das Regime irgendwie hilflos in sich zusammen und musste sich an den Runden Tisch bequemen, an den in Polen die Solidarność die Regierung gezwungen hatte. Der Druck der demonstrierenden Massen und der Mut der Wortführer und öffentlichen Unterstützer ermöglichten die Verhandlungen, die schließlich zu einem Systemwechsel ohne Blutvergießen führten.

War es denn eine Revolution? Für diese Deutung sprechen die Spontaneität der Menschen, ihre zahlreiche aktive Beteiligung und die beachtliche Geschwindigkeit, mit der die Krise des Systems aufbrach und zum Sturz der Regime führte. Allerdings changiert auch „Revolution“ zwischen vielen inhaltlichen Möglichkeiten. Sie kann, muss aber nicht blutig sein, was sie 1989/90 in der Regel auch nicht war. Die eigentliche Bedeutung einer Revolution resultiert aus dem, was ihr folgt, und das ist selten eindeutig. (Die Historiker der Französischen Revolution streiten immer noch darüber, ob es eine fortschrittliche oder eine konservative Revolution war.) Es ist nicht einmal gesagt, dass diejenigen, die von der Revolution an die Macht gebracht werden, sich wirklich von den früheren Machthabern unterscheiden.

Veränderung und Fortbestand

Auch dort, wo der Systemwechsel geglückt zu sein scheint, wirkt die Vergangenheit weiter fort. Da kommt neben allerlei Interessen beispielsweise die Frage der Fachleute ins Spiel. Als exemplarisch kann hier ein radikaler Systemwechsel gelten: Als die westlichen Siegermächte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herrschaft mit der Implementierung der Demokratie und der Reeducation der Deutschen begannen, blieben doch viele Diener des Regimes im Amt, weil sie als Fachleute für unentbehrlich gehalten wurden. Man nahm erhebliche Rücksichten, weil man die (West-)Deutschen in der Konfrontation mit der Sowjetunion für sich gewinnen wollte. Die Folgen wie die Fortdauer konservativ-reaktionären Denkens und Verhaltens oder der – nunmehr in das westliche Werte- und Interessensystem integrierte – militante, zumindest sterile Antikommunismus wirkten sich bis in die 1970er Jahre und länger aus.

Transformation: Rückschläge, Widersprüche

Was auf die Revolution folgt, ist die Umgestaltung der politischen und sozialökonomischen Verhältnisse, eine Transformation. Dieser langwierige und mühselige Prozess ist von Widersprüchen und Rückschlägen gekennzeichnet. Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion haben sich, abgesehen von den baltischen Republiken, zu mehr oder minder autoritären Regimen entwickelt, die Ukraine taumelt von einer Krise in die nächste. Das ehemalige Jugoslawien ist derzeit eine von außen aufgesetzte fragile Konstruktion, eine institutionalisierte Dauerkrise. In etlichen Ländern ist die Gesellschaft gespalten in eine kleine Oberschicht, die sich am ehemaligen Staatsbesitz maßlos bereichert hat, und eine verarmte Masse der Unterschichten, wo man angesichts ihrer elenden Lage von der bescheidenen Sicherheit früherer Zeiten zu träumen anfängt. Hier ist der Prozess der „Transformation“ noch lange nicht abgeschlossen und im Ergebnis offen.

DDR – ein Sonderfall?

In dem Kontext der kursorischen Überlegungen steht die DDR und was aus ihr wurde allein. Sie lebte stets mit der Bundesrepublik als dem erfolgreichen Gegenmodell gleicher Nation und Geschichte. In ihrer übergroßen Mehrheit schlugen die Menschen mit ihrer Revolution der friedlichen Demonstrationen den Weg in dieses Gegenmodell ein. Sie bekamen materielle Hilfe und politische Stabilität, uneingeschränkt willkommen aber waren sie nicht. Immerhin ist Deutschland seit der Einheit ein wohlgelittener Nationalstaat in Europa, derzeit regiert und repräsentiert von zwei Persönlichkeiten, die aus der ehemaligen DDR hervorgegangen sind.