Deutsch-polnische Doppelstädte
Zusammenfassung
Die deutsch-polnischen Grenzstädte sind ein Mikrokosmos nachbarschaftlicher Beziehungen in Europa. Sie haben sich von ehemals "Wunden der Geschichte" zu europäischen Doppelstädten entwickelt, die gegen Krisen gewappnet zu sein scheinen. Aber es mangelt auch nicht an Herausforderungen.
Grenzstädte mit bewegter Geschichte
Die Europäische Kommission veröffentlichte im Sommer 2021 den Bericht "Grenzregionen in der EU: Reallabors der europäischen Integration". Darin wurden vier Bereiche identifiziert, die für die Verbesserung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit entscheidend sein könnten: eine vertiefte institutionelle Zusammenarbeit, mehr und bessere grenzüberschreitende öffentliche Dienstleistungen, dynamische, grenzüberschreitende Arbeitsmärkte sowie Grenzregionen für den europäischen "Green Deal". Wichtige Akteure für diese nachbarschaftliche Zusammenarbeit sind die deutsch-polnischen Doppelstädte, die infolge der Grenzverschiebung nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind.
Das Jahr 1945 war für die deutschen Städte Görlitz, Guben und Frankfurt/Oder, die an den Flüssen Oder und Neiße liegen, ein Wendepunkt und der Anfang einer neuen Geschichte. Gesprengte Brücken, Bombardements und Plünderungen hatten dazu beigetragen, dass die Stadtsubstanz in Frankfurt/Oder und in Guben stark zerstört war. Görlitz blieb dagegen samt seiner historischen Altstadt wie eine Insel von der Verwüstung verschont. Nur die Neiße- und Eisenbahnbrücken waren zerstört. In allen drei Städten wurden sowjetische Stadtkommandanturen eingerichtet und provisorische Brücken über die Flüsse gebaut. Von allen Seiten strömten Flüchtlinge herbei, die in der Hoffnung, in die Heimat zurückkehren zu können, an der Grenze blieben. Es herrschte Chaos, Hunger und Überfüllung.
Noch bevor die Potsdamer Konferenz im Juli 1945 begann, versuchten die kommunistischen Machthaber, in den Nord- und Westgebieten, die offiziell "wiedergewonnene Gebiete" genannt wurden, eine Politik der "vollendeten Tatsachen" umzusetzen. Anfang Mai kamen im östlichen Teil aller drei Städte Vertreter der polnischen Verwaltung zusammen, um diese Stadthälften von der sowjetischen Kommandantur zu übernehmen und jeweils eine polnische Stadt einzurichten. Nun wurde die angekündigte Teilung der Städte an Oder und Neiße Realität. So sollten sich die Städte östlich des Flusses zu einem selbstständigen Stadtorganismus entwickeln, während sie von ihrer wirtschaftlichen Basis abgeschnitten wurden. Mit der Einrichtung der polnischen Verwaltung erhielten die östlichen Städte ihre neuen Namen – Słubice, Gubin und Zgorzelice, das später in Zgorzelec umbenannt wurde. Die Grenze wurde abgeriegelt, die Stadthälften isoliert. Während die westlichen Stadtteile mit Flüchtlingen und Aussiedlern überfüllt waren, wurde im jeweiligen Ostteil erst eine Ansiedlungsaktion organisiert.
Infolge der Grenzziehung an Oder und Neiße wurden rund 50 Dorfgemeinden und sieben Städte geteilt, wovon drei von da ab als Doppelstädte fungierten, aber Doppelstädte wider Willen.

Zwangsverordnete Freundschaft
Unter dem Druck der Kremlführung in Moskau musste die DDR die Grenze an Oder und Lausitzer Neiße akzeptieren. Am 6. Juli 1950 wurde in Zgorzelec der Grenzvertrag unterschrieben, der von einer starken Propaganda über Freundschaft und Frieden begleitet wurde. Anfang der 1950er Jahre begann der Wiederaufbau von Brücken und Eisenbahnviadukten. Die Stadtverwaltungen knüpften notwendige Kontakte, um Wasser- und Gaswerke gemeinsam nutzen zu können.
Auf das politische „Tauwetter“ nach 1956 folgte eine gesteuerte Liberalisierung der Grenze. Es kam zu offiziellen Treffen von Parteisekretären, und Delegationen von Arbeitern und Jugendlichen begegneten sich. Die Grenze durfte nur mit Einladungsschreiben überquert werden, während gleichzeitig Kultur- und Sportveranstaltungen organisiert wurden.
Für die propagierte Freundschaft zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen bildete sich im Volksmund in den folgenden Jahren der Begriff von der "zwangsverordneten Freundschaft" heraus. Dennoch bedeutete erst die nächste Etappe in der Geschichte der Grenze, also die Jahre 1972-1980, einen Durchbruch in den Beziehungen zwischen den Nachbarn. Dass die deutsch-polnischen Grenze am 1. Januar 1972 für den pass- und visafreien Verkehr geöffnet wurde, galt vielen als "Wunder an der Oder". Diese Periode brachte für die Grenzgebiete eine neue Realität mit sich: Die Einwohner der geteilten Städte erlebten erstmals über die Grenze hinweg ein nachbarschaftliches Miteinander. Doch führte die wachsende Bedeutung der Gewerkschaftsbewegung Solidarność in Polen dazu, dass am 20. Oktober 1980 die Grenze wieder geschlossen wurde.
Der politische Wandel in Polen und Deutschland eröffnete ab 1990 neue Chancen für die Grenzstädte. Am 14. November wurde der deutsch-polnische Grenzvertrag unterzeichnet, ein Jahr später folgte der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. Beide Dokumente legten das Fundament für die künftige grenzüberschreitende Zusammenarbeit.
Suche nach europäischer Identität
Anfang der 1990er Jahre kamen rasch weitere Partnerschaftsabkommen dazu, die eine Zusammenarbeit zu Themen der Bildung und Gesundheit ermöglichten. Auch Feuerwehren sollten nun grenzüberschreitend zusammenarbeiten, ebenso die Kommunalwirtschaft für Wasser- und Energieversorgung und die Umwelt- und Stadtplanung.
Wenig später wurden Euroregionen gegründet: Am 21. Dezember 1991 entstand die Euroregion Neiße, der Zgorzelec und Görlitz angehören. Am 21. September 1993 folgte die Euroregion Spree-Neiße-Bober mit den Städten Guben und Gubin. Am 21. Dezember 1993 kam die Euroregion Pro Europa Viadrina dazu, zu der Słubice und Frankfurt/Oder gehören. Durch die europäische Integration und die EU-Förderprogramme für Grenzregionen, wie beispielsweise Interreg sowie das Schengen-Abkommen im Jahr 2007, wurden viele Grenzbarrieren abgebaut.1 Die Doppelstädte versuchten, in der europäischen Identität einen Ausweg aus nationalen Antagonismen zu finden. Während der Europawoche vom 2. bis 9. Mai 1998 wurde in einer gemeinsamen Stadtratssitzung die Europastadt Görlitz/Zgorzelec proklamiert. Ihr Ziel sollte "eine Stadt – zwei Völker" sein. Im selben Jahr entstand auch die Eurostadt Guben-Gubin. Eine europäische Identität wurde als neues Identifikationsmuster für die Stadtbewohner beiderseits des Flusses angeboten. Durch die EU-Osterweiterung 2004, den Beitritt zum Schengener Abkommen 2007 sowie die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für polnische Arbeitnehmer 2011 schienen die letzten Hürden der deutsch-polnischen Nachbarschaft auch in den Doppelstädten wegzufallen. Nichtdestotrotz mussten sie weiterhin mit wirtschaftlichen, politischen sowie gesellschaftlichen Asymmetrien kämpfen.
Heute sind einige sichtbare Hürden, wie Grenzposten und Grenzkontrollen, in den Doppelstädten nicht mehr sichtbar. 2014 hat der Deutsch-Polnische Raumordnungsausschuss das "Gemeinsame Zukunftskonzept für den deutsch-polnischen Verflechtungsraum – Vision 2030" ausgearbeitet, in dem die Grenze nicht mehr als eine Trennlinie zwischen zwei Staaten abgebildet ist. Sie ist stattdessen nur noch durch die Grenzflüsse Oder und Neiße sichtbar. Diese Vision eines integrierten europäischen Lebensraums war für viele Bewohnerinnen und Bewohner der Doppelstädte schon längst Alltag geworden. Obwohl sich die zwischenstaatlichen Beziehungen seit dem Regierungswechsel in Polen 2015 zeitweise deutlich abgekühlt hatten, entwickelte sich die grenzüberschreitende Kooperation rege weiter.
Das historische Erbe schien in der Gegenwart kaum noch eine Rolle zu spielen, die Grenze wurde eher als Ressource betrachtet. Die EU-Förderprogramme setzten gute Rahmenbedingungen für grenzüberschreitende Projekte und eine vertiefte Integration. Sie waren eine wichtige Triebkraft für transnationales Handeln. Der Ausdruck, "im selben Boot sitzen", spiegelt die Denkweise vieler lokaler Akteure sehr gut wider. Bei der Erarbeitung grenzüberschreitender Projekte scheint nicht mehr wie in den 1990er Jahren die Idee der Versöhnung oder einer europäischen Integration im Vordergrund zu stehen. Vielmehr dominieren heute gemeinsame Interessen und die Praxisorientierung.
Grenzschließungen durch Corona
Ein Schock waren deshalb die im März 2020 wegen der Covid-19-Pandemie eingeführten Grenzkontrollen und Grenzschließungen zwischen Polen und Deutschland. Plötzlich durften Grenzpendler nicht mehr zur Arbeit fahren, Schülerinnen und Schüler mussten zu Hause bleiben, viele Familien und Freunde wurden voneinander getrennt. Zahlreiche jüngere Menschen, für die offene Grenzen im Schengenraum bis dahin eine Selbstverständlichkeit waren, erlebten in ihrer Heimat erstmalig mit Zäunen versperrte Brücken und Posten der Grenzpolizei. Die ältere Generation fühlte sich bei dieser Erfahrung an den Kalten Krieg erinnert.
Die Entscheidung, die deutsch-polnische Grenze zu schließen, wurde auf nationaler Ebene getroffen. Bei vielen Grenzbewohnern führte sie zu Empörung. In einigen Doppelstädten wurden Proteste gegen die Grenzschließung organisiert. Sie drückten einerseits Solidarität mit den Nachbarn aus, waren aber auch ein Appell an die polnische Regierung, die Besonderheit der Grenzregionen stärker zu berücksichtigen. Die Proteste wollten auch auf die negativen wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Grenzschließung aufmerksam machen. Dabei berief man sich auf die "offenen Grenzen in Europa" als Grundlage der europäischen Integration und betonte den Wert transnationaler Beziehungen.
Der Vorstandsvorsitzende der Föderation der Euroregionen der Republik Polen, Czesław Fiedorowicz, appellierte an den damaligen polnischen Premierminister Mateusz Morawiecki, die Grenzbeschränkungen in den Euroregionen aufzuheben: "Wir leben in einer starken Symbiose und brauchen uns gegenseitig", sagte er. "Guben für Gubin, Löcknitz für Szczecin, Zgorzelec und Görlitz, Cieszyn und Český Těšín, Nový Targ und Kežmarok, Suwałki und Marijampole sind scheinbar 'im Ausland', aber die Bindungen, die die Menschen, ihren Arbeitsort, ihren Wohnort, ihre familiären Bindungen, ihre Schul- und Universitätsausbildung, die medizinische Behandlung, die Gesundheitsversorgung und die alltäglichen Kontakte betreffen, sind oft sehr intensiv."
Die deutsch-polnische Grenze wurde in der Nacht vom 12. Juni auf den 13. Juni 2020 wieder geöffnet. In einigen Doppelstädten versammelten sich Menschen auf den Brücken und feierten enthusiastisch die Öffnung. Obwohl die nächsten Pandemiewellen erneut zu zeitweiligen Grenzkontrollen führten, wurde die besondere Situation der Bewohner der Doppelstädte, insbesondere die der Grenzpendler und Schüler, von nun an wieder stärker berücksichtigt.
Mit dem Regierungswechsel 2023 wurde unter Ministerpräsident Donald Tusk "ein neues Kapitel in den deutsch-polnischen Beziehungen" aufgeschlagen. Dieser Wechsel wirkte sich auch auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in den Doppelstädten aus. Das Klima für deutsch-polnische Initiativen und innovative Projekte hat sich seither positiv weiterentwickelt, wie aus der Grenzregion zu hören ist.
Das zeigt sich beispielsweise im Aktionsplan, der am 2. Juli 2024 beim deutsch-polnischen Regierungstreffen in Warschau gemeinsam verabschiedet wurde. Neben Sicherheitsfragen, der Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Energie, Industrie sowie ökologischer und digitaler Transformation wurde auch der grenzübergreifenden Zusammenarbeit eine wichtige Rolle bei der "Förderung der Kontakte zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der Stärkung der europäischen Integration" zugesprochen. Darüber hinaus wurden die drei Partnerstädte Frankfurt/Oder-Słubice, Görlitz-Zgorzelec und Guben-Gubin als wichtige Akteure der deutsch-polnischen Zusammenarbeit hervorgehoben und ermutigt, den Dialog zu vertiefen und Hindernisse bei der Umsetzung grenzüberschreitender Projekte zu überwinden.
Doch dieser positive Wandel hat erneute Grenzeinschränkungen nicht verhindert. Die Krise an der polnisch-belarussischen Grenze führte im Oktober 2023 dazu, dass die Bundesregierung vorübergehende Grenzkontrollen wiedereinführte. Es kam zu großen Staus auf den Grenzbrücken. Längere Fahrten zur Arbeit oder zur Schule gehörten nun zum beschwerlichen Alltag in den Doppelstädten. Auch die Ergebnisse der Bundestagswahl im Februar 2025 könnten zu einer weiteren Herausforderung werden, denn in allen drei deutschen Grenzstädten - Frankfurt/Oder, Guben und Görlitz - lag die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) weit vorne.
Dennoch lassen sich die lokalen Entscheidungsträger und die Bewohner nicht entmutigen. Ihre Lebenswirklichkeit ist grenzüberschreitend organisiert. Täglich in der Schwesternstadt zur Arbeit zu gehen, zur Schule, zum Frisör oder ins Restaurant ist für die Bevölkerung selbstverständlich geworden. Weder die nationalen Politiker noch vorübergehende Grenzkontrollen können diese Entwicklung rückgängig machen. Obwohl der Transport, das Gesundheitswesen, das Schulwesen oder die Umwelt immer noch viel Arbeit und Investitionen erfordern, ist das transnationale Denken in den Doppelstädten fest verankert.
Fußnote:
-
Interreg ist eine Gemeinschaftsinitiative des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), welche auf die Förderung der Zusammenarbeit zwischen EU-Mitgliedstaaten und benachbarten Nicht-EU-Ländern abzielt. Die Programme sind dabei eingebettet in die Europäische Territoriale Zusammenarbeit (ETZ). ↩︎