Die Neue Rechte in Deutschland und ihre populistischen Einpeitscher von der AfD

aus OWEP 3/2017  •  von Andreas Püttmann

Dr. Andreas Püttmann ist Politikwissenschaftler und freier Publizist. Er lebt in Bonn. Jüngst erschien im Bonifatius-Verlag sein Buch „Wie katholisch ist Deutschland – und was hat es davon?“, 2010 bei Gerth Medien „Gesellschaft ohne Gott. Risiken und Nebenwirkungen der Entchristlichung Deutschlands“.

Zusammenfassung

Der deutsche Rechtspopulismus, dessen parteipolitischen Arm gegenwärtig die „Alternative für Deutschland“ (AfD) repräsentiert, beruht auf Traditionslinien, die weit in die europäische Geistesgeschichte zurück reichen. Der folgende Beitrag vermittelt Einblicke in Strukturen und Gedankenwelt dieser Bewegung, gegen deren menschenverachtende Thesen Christen deutlich Position beziehen müssen.

Ein Phänomen und seine Merkmale

Europa erlebt eine Zeitenwende. Die nach der katastrophalen Herrschaft des Nationalsozialismus und Faschismus nachhaltig diskreditierte nationalistisch-autoritäre Rechte ist 70 Jahre später dabei, die kulturelle Hegemonie von Sozialdemokraten und Liberalen zu beenden, unter Mithilfe gesellschaftspolitisch dauerfrustrierter Konservativer, die in jahrzehntelanger Übung im Feindbild einer nur linken Gefahr erstarrt sind. Am besten gelingt die rechte Renaissance in Mittel- und Osteuropa, wo keine lange liberal-demokratische Tradition besteht und bis 1990 der Kommunismus herrschte, sowie in Ländern, die rechtsautoritäre Herrschaft seit Generationen nicht kennen. Am wenigsten anfällig sind jene Gesellschaften Südeuropas, die bis in die Siebzigerjahre unter rechten Regimes litten, hier ist der Linkspopulismus erfolgreicher.

Typische Kennzeichen des Rechtspopulismus sind:

  • die antipluralistische Fiktion eines genuinen Volkswillens (den man selbst verkörpert) mit exzessiver Eliten-, Parteien- und Medienkritik sowie der Forderung nach mehr Plebisziten;
  • völkischer Nationalismus mit Ablehnung supranationaler Strukturen wie der Europäischen Union oder internationaler Verträge zur gemeinsamen Verteidigung oder zum Handel (Protektionismus);
  • die Betonung kultureller Identität, des „Eigenen“ gegen alles Fremde: derzeit vor allem Muslime und Migranten, potenziell auch Minderheiten wie Homosexuelle, Juden oder Obdachlose (Sozialdarwinismus);
  • eine „Law-and-Order“-Attitüde mit Forderung nach härteren Strafen – allerdings selektiv, denn eigene Regelverstöße und „Widerstand“ werden gerechtfertigt;
  • plakative Maximalforderungen und Suggestionen einfacher Lösungen für komplexe Probleme;
  • eine Rhetorik der Übertreibung und des Alarmismus zum Schüren von Ängsten und Ressentiments;
  • positive und negative Personalisierung: eigene demagogisch begabte Führer werden idealisiert, wichtige „System“-Vertreter verächtlich gemacht;
  • kulturelle Reduktion und Verzweckung der tradierten Mehrheitsreligion als Ordnungsfaktor und Identitätsmarker bei gleichzeitiger Polemik gegen religiöse Autoritäten, die sich dem widersetzen, als korrumpiert;
  • Kreation bzw. Usurpation von Symbolen (z. B. Schwarzer Haken der „Identitären“, „Wirmer-Flagge“1 bei „Pegida“-Demonstrationen);
  • Rekrutierung von Anhängern aus verschiedenen Parteien und Schichten, vornehmlich bildungsfernen Unter- und unteren Mittelschichten, aber auch aus „gut bürgerlichen“ Kreisen, meist der „technischen Intelligenz“;
  • hybride Selbstheroisierung und Selbstbezeichnung als Unterdrückte oder gar „Verfolgte“ des „Systems“ und seiner „Politischen Korrektheit“.

Die den Rechtspopulismus inspirierende „Neue Rechte“ grenzt sich von der faschistischen „alten Rechten“ ab, gibt sich ein intellektuelles Image, sucht Verbindungen ins bürgerlich- und christlich-konservative sowie nationalliberale Spektrum und betreibt dessen Radikalisierung. In klarer Erkenntnis dessen, dass damit noch keine Mehrheit zu erreichen ist, werden neben Elitenschelte und Ressentimentpflege gegen vermeintliche innere und äußere Feinde sozialpolitische Köder und psychologische Placebos ausgelegt, die es auch „Unteren“ erlauben, sich als Herkunfts- oder Gesinnungselite über andere zu erheben. So bricht man nicht nur ins konservative, sondern auch ins sozialdemokratische und noch linkere Wählerreservoir ein. Die ängstliche, trotzige oder aggressive Abgrenzung des „Eigenen“ vom „Andersartigen“ wird zum Kitt zwischen den sozialen Schichten: „Letztendlich lässt sich alles auf einen Satz reduzieren: Die da oben sind für Immigration, und wir da unten müssen diese ertragen. Wir gegen die. Ein Klassenkampf, der längst klassenübergreifend funktioniert. Auf diesem Level verträgt sich das Großbürgertum glänzend mit dem Proletariat. Rassismus und Xenophobie schweißen die Milieus zusammen“ (David Schalko).

Geistiger Hintergrund und Leitmotive

Geistesgeschichtlich steht die Neue Rechte, explizit an die „Konservative Revolution“ der Zwischenkriegszeit anknüpfend, gegen die Prinzipien der Aufklärung, also gegen Rationalismus, Pluralismus, Liberalismus und die Idee der Gleichheit aller Menschen, die den universellen Menschenrechten zugrunde liegt. Man verfolgt statt des „klassischen“, biologischen Rassismus das Konzept eines „Ethnopluralismus“ ethnisch oder kulturell homogener Nationalstaaten. Die wahre Demokratie werde nicht von gleichberechtigten Individuen, sondern durch die geeinte „Volksgemeinschaft“ konstituiert. Dieses Konzept wirkt als „Scharnier“ zwischen Konservativismus und Rechtsextremismus.

Gegen die egalitären und liberalen Postulate des Feminismus sowie die angebliche „Homosexualisierung“ – ein in Osteuropa und der religiösen Rechten zentrales Thema – setzt die Neue Rechte eine Dominanz „männlicher“ Werte und Tugenden. Die parlamentarische, liberal-rechtsstaatlich beschränkte Demokratie wird als verweichlicht und pervertiert verschrien. Zur Stärkung der „nationalen Identität“ gehört der geschichtspolitische Revisionismus: ein „Schuldkult“ unterminiere die Vitalität eines Volkes und seine Selbstbehauptung. Ein Beispiel dafür ist Björn Höckes Charakterisierung des Berliner Holocaust-Mahnmals als „Denkmal der Schande“ und Forderung nach einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“, weg von der „dämlichen Bewältigungspolitik“.2 Durch den Bezug auf organische Vorstellungen von Nation und Volk, auf die eigenen „Wurzeln“, könne ein Umschwung und eine neue Ära in einem gesunden „Volkskörper“ erreicht werden – ein faschistisches Gedankengebilde, das an den konservativen Wertediskurs anknüpft, aber utopisch akzentuiert über diesen hinaus geht.

Aufstieg und Radikalisierung der AfD

Die Neue Rechte hat nach der Analyse des britischen Faschismusexperten Roger Griffin „die gleichen Feinde wie der Faschismus“, während „ihre Lösungsansätze, die Organisationsformen und ihr Diskurs sich deutlich unterscheiden“. Hierbei ist schwer zu erkennen, was überzeugte, stabile und was bloß taktische, vorläufige Mäßigung ist. Geschichte und Gegenwart autoritärer Herrschaft zeigen, dass Radikalisierungen immer möglich sind. Davon legt in Deutschland auch die Entwicklung der im Februar 2013 gegründeten Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) Zeugnis ab, deren nationalliberaler Flügel unter dem Gründungsvorsitzenden Bernd Lucke im Sommer 2015 großenteils entnervt aus der Partei austrat und zugab, man habe „ein Monster geboren“ (Hans-Olaf Henkel). Das irrige Kalkül, ein größerer Teil der Anhängerschaft werde diesen Schritt mit vollziehen und in die moderatere Partei-Neugründung „ALFA“ (inzwischen: „Liberal-konservative Reformer“, LKR) eintreten, erhellt die politisch-historische und anthropologisch-sozialpsychologische Realitätsferne der „technischen Intelligenz“ – hier in Gestalt zweier Wirtschaftsexperten (Professor und früherer BDI-Chef), die meinten, ihre Sachkompetenz auf den politischen Bereich übertragen zu können. Sie fanden sich in den Rollen des „Zauberlehrlings“ und des „nützlichen Idioten“ wieder.

Die im ersten Quartal 2016 erhobenen Befunde der neuesten „Leipziger Mitte-Studie“ über „autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland“ arbeitet mit Indikatoraussagen wie: „Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland“, „Das oberste Ziel deutscher Politik sollte es sein, Deutschland die Macht und Geltung zu verschaffen, die ihm zusteht“ (für Chauvinismus); „Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken“, „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“ (für Ausländerfeindlichkeit); „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“, „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“ (Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur); „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß“, „Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen“ (für Antisemitismus).

Nach diesen und weiteren Kriterien zeigen bekennende AfD-Wähler etwa dreimal so oft wie die Gesamtbevölkerung Ausländerfeindlichkeit (53 gegenüber 20 Prozent), Chauvinismus (48 gegenüber 17 Prozent), Diktaturneigungen (18 gegenüber 5 Prozent) und Antisemitismus (17 gegenüber 5 Prozent). Noch deutlicher sticht die Wählerschaft der AfD von der aller anderen parlamentarischen Parteien ab, von CDU/CSU-Wählern nicht weniger als von SPD-Wählern – ein Hinweis darauf, dass wir es nicht bloß mit einer konservativeren CDU oder der „CDU der 50er Jahre“ zu tun haben. Jost Kaiser bemerkt dazu: „Die CDU gründete sich programmatisch gerade nicht auf den Trümmern des diskreditierten deutschen Konservativismus, sie stellte eine Volkspartei ‚neuen Typs‘ dar: ultrapragmatisch, programmatisch verortet in der nun nicht unbedingt als konservativ einzuordnenden katholischen Soziallehre“ und mehr europäisch als national gesinnt; selbst „die Strauß-Dregger-Rechten stellten etwas völlig Neues dar: Ihr Konservativismus war, eine Neuheit in der deutschen Geschichte, amerikanophil“.3 Nur etwa jedes zehnte AfD-Mitglied war früher in der CDU.

Im Vergleich zu 2014 ist die Radikalisierung der AfD-Anhänger besonders in den Kategorien Chauvinismus (+19 Prozent), Befürwortung einer Diktatur (+10 Prozent) und Sozialdarwinismus (+6 Prozent) ersichtlich, und zwar ohne dass die Zustimmung zu diesen Haltungen in der Bevölkerung signifikant gewachsen wäre. Es scheint sich eine radikale Polit-Großsekte am rechten Rand der Gesellschaft gebildet zu haben, die anders als alle anderen „tickt“ und den Namen „Alternative für Deutschland“ wirklich verdient: im Sinne eines radikalen Gegenentwurfs zu dem, was bislang als „Grundkonsens“ galt und heute rechts als „Mainstream“ verächtlich gemacht wird. Insofern fand eine regelrechte „Sezession“ (so auch der Titel einer neurechten Zeitschrift) von der herkömmlichen Bundesrepublik statt. Ihr bizarrster Ausdruck ist die sektiererische „Reichsbürger“-Bewegung.

Einblicke in die Programmatik der AfD

Neurechte Ideologen und rechtspopulistische Demagogen treten gern als Vorkämpfer der durch „politische Korrektheit“ geknebelten Meinungsfreiheit auf. Sie meinen damit aber, wie die Regierungen Polens und Ungarns zeigen, nur die eigene Meinungsfreiheit. An die Macht gelangt, betreiben sie nicht bloß eine inhaltlich andere Politik (Policy), sondern versuchen die Regeln der Politik (Polity) zu ihren Gunsten zu manipulieren. Typisch ist der Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz, speziell des Verfassungsgerichts, sowie die öffentlich-rechtlichen und zum Teil sogar die privaten Medien. Im Kern geht es um einen Kampf gegen die Freiheit im Namen der Freiheit, um Selbstermächtigung. Damit ist für den Fall, dass trotz Propaganda die Wählermehrheit den Rechtspopulisten wieder das Vertrauen entzieht, die mentale Voraussetzung für Wahlmanipulation gegeben. Dies ist die größte Gefahr durch den Rechtspopulismus: Dass es nicht bei einem demokratisch korrigierbaren Politikversuch bleibt, sondern zu einem Abgleiten in Diktatur kommt, zunächst einer Mehrheit über Minderheiten und schließlich einer Minderheit über die Mehrheit.

Der autoritäre Kern rechtspopulistischer Parteien verbirgt sich unter einem Programmangebot, dass in vieler Hinsicht konservativen, teilweise sogar linken Parteien ähnelt. Wer sich von einem „Wahlomaten“ beraten lässt – der auf dem Policy-Angebot einer Partei laut ihrem Programm basiert –, kann daher annehmen, es mit einer normalen Partei zu tun zu haben, die viele richtige Einzelpositionen im Angebot hat. Das demokratisch-rechtsstaatliche Risiko des Rechtspopulismus lugt eher aus seiner Sprache und seinen Zustandsbeschreibungen hervor. So definiert sich die AfD in ihrem Grundsatzprogramm polemisch als „Alternative zu dem, was die politische Klasse glaubt, uns als ‚alternativlos‘ zumuten zu können. Dem Bruch von Recht und Gesetz, der Zerstörung des Rechtsstaats und verantwortungslosem politischen Handeln gegen die Prinzipien wirtschaftlicher Vernunft konnten und wollten wir nicht länger tatenlos zusehen. … Heimlicher Souverän ist eine kleine, machtvolle politische Führungsgruppe innerhalb der Parteien. Sie hat die Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte zu verantworten. Es hat sich eine politische Klasse von Berufspolitikern herausgebildet, deren vordringliches Interesse ihrer Macht, ihrem Status und ihrem materiellen Wohlergehen gilt. Es handelt sich um ein politisches Kartell, das die Schalthebel der staatlichen Macht, soweit diese nicht an die EU übertragen worden ist, die gesamte politische Bildung und große Teile der Versorgung der Bevölkerung mit politischen Informationen in Händen hat. Nur das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland kann diesen illegitimen Zustand beenden.“4

Das bestehende politische System wird delegitimiert durch Vokabeln wie „heimlich“, „eine kleine Gruppe“, „Kartell“, „illegitim“ sowie einseitige Schuldzuweisungen für Probleme und die Unterstellung niederer Motive; durch die Behauptung, Bundespolitik sei ohne Berufspolitiker denkbar; durch die Behauptung eines quasi-totalitären Informationsmonopols, einer Art Erziehungsdiktatur. Notwendige, grundlegende Gesetzmäßigkeiten von Politik werden verkannt. Die maßlose Denunziation der Bundesrepublik als Unrechtsstaat und die Ignoranz gegenüber der international vorbildlichen Verfassungsgerichtsbarkeit setzt sich im Kapitel Justiz fort: „Zweitens müssen sich die Organe und Institutionen des Staats wieder an das Recht halten. Vor einem Staat, der das Recht mit Füßen tritt, sind auch die Bürger nicht sicher.“

Im Selbstbild der feierlichen Präambel: „Als freie Bürger treten wir ein für direkte Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit, soziale Marktwirtschaft, Subsidiarität, Föderalismus, Familie und die gelebte Tradition der deutschen Kultur“ fehlt bezeichnenderweise der Dreh- und Angelpunkt des grundgesetzlichen Normengefüges: die Menschenwürde. Stattdessen verortet man Demokratie und Freiheit „auf dem Fundament gemeinsamer kultureller Werte und historischer Erinnerungen“ und zieht die anmaßende, Demokratie als Diktatur diffamierende Parallele: „In der Tradition der beiden Revolutionen von 1848 und 1989 artikulieren wir mit unserem bürgerlichen Protest den Willen, die nationale Einheit in Freiheit zu vollenden“. Was „Vollendung“ sein soll, bleibt unklar; am ehesten wohl die Fiktion einer Identität von Regierenden und Regierten und ein Ende der repräsentativen parlamentarischen Demokratie. Dem entsprechen die Forderungen: „Wir wollen dem Volk das Recht geben, über vom Parlament beschlossene Gesetze abzustimmen“ und „Ohne Zustimmung des Volkes darf das Grundgesetz nicht geändert und kein bedeutsamer völkerrechtlicher Vertrag geschlossen werden“ – Ausdruck einer Kompetenz- und Partizipationsillusion, denn die Komplexität heutiger Gesetzes- und internationaler Vertragswerke würde sich nur eine kleine Minderheit der Bürger überhaupt als Leser zumuten, geschweige denn sie beurteilen können.

Die Behauptung: „Die Machtverteilung entspricht nicht mehr den Grundsätzen der Gewaltenteilung“ ist eine Absage an das klassische parlamentarische System, in dem die Mehrheitsfraktionen die Regierung hervorbringen und stützen, so wie es seit Jahrhunderten in einem Großteil aller Demokratien üblich ist, ohne dass die Gewaltenteilung in Abrede zu stellen wäre – von der Dritten Gewalt ganz abgesehen. Für die Machtstatik des Grundgesetzes systemwidrig ist auch die Aufwertung des Staatsoberhaupts: „Die Auswahl des Kandidaten findet hinter verschlossenen Türen durch Absprachen der Parteien statt. Um die Wahl des Bundespräsidenten transparenter und parteienunabhängiger zu machen, bedarf es einer Änderung des Art. 54 des Grundgesetzes für die Direktwahl durch das Volk“. Abgesehen von der Unwahrheit, dass es regelmäßig nur einen Kandidaten gegeben habe, sind vertrauliche Gespräche zur Kandidatenfindung völlig normal und die Ausstattung des fast nur repräsentativen Amtes mit einer Direktlegitimation unsinnig sowie aufgrund der Polarisierung in Wahlkämpfen sogar kontraproduktiv für die spätere Amtsführung.

Christentum und AfD

Christen sollten aufhorchen, wenn es heißt: „Grundlage unserer politischen Überzeugungen ist ein differenziertes Menschenbild“. Ausgerechnet hier wird der christliche Bezug vermieden, den man bei Fragen der kulturellen Identität reklamiert. Die „Kirchen“ werden als eigenständige gesellschaftliche Kräfte nicht gewürdigt, sondern nur im anti-islamischen Kontext erwähnt: „Das Minarett lehnt die AfD als islamisches Herrschaftssymbol ebenso ab wie den Muezzinruf, nach dem es außer dem islamischen Allah keinen Gott gibt. Minarett und Muezzinruf stehen im Widerspruch zu einem toleranten Nebeneinander der Religionen, das die christlichen Kirchen in der Moderne praktizieren“. „Der Religionsausübung“ will die AfD „durch die staatlichen Gesetze, die Menschenrechte und unsere Werte Schranken setzen“, als dürften subjektive und wandelbare „Werte“ das Grundrecht der Religionsfreiheit einschränken. Zudem gibt es auch für Juden und Christen gemäß dem Buch Exodus (20,3) außer dem Herrn „keinen Gott“. Hier liegt also ein falsches Verständnis von Toleranz zugrunde: Sie verlangt keinen Verzicht auf den religiösen Wahrheitsanspruch.

Nach Umfragen wollten 2016 etwa je zwei Millionen Katholiken und Protestanten in Deutschland die AfD wählen (11 Prozent), prozentual weniger als Konfessionslose (18 Prozent); bei kirchennahen Katholiken (8 Prozent) und Protestanten (9 Prozent) sogar nur halb so wenige. Der „sensus fidelium“ – die katholische Version von „Schwarmintelligenz“ – weist also von den Rechtspopulisten weg. Schon begrifflich sollte der Kult des „Eigenen“ Christen fremdeln lassen, muss ein Jünger Jesu doch immer auch vom Anderen her denken. Empathie in Form von Einfühlung, Mitleid und Hilfsbereitschaft ist gleichsam die DNA des Christentums. Weitere schöne Früchte christlicher Frömmigkeit sind Demut und Gelassenheit – den typischen Rechtspopulisten zeichnet das Gegenteil aus: selbstdistanzlose Wahrheitsgewissheit, Alarmismus, Übertreibung, Wut.

Christen können „unmöglich schweigen“ (Apg 4,20) zu einem Denken, das statt der gottgegebenen Würde jeder Person das Pathos der Volksgemeinschaft oder das Kalkül des Wohlstandsegoismus ins Zentrum der Politik stellt. Indem sich die Kirche der rechten Re-Ideologisierung durch falsche Propheten „christlicher Kultur“ entgegenstellt, kann sie ihr Menschenbild und ihre Sozialethik, deren Kern nach der Überzeugung Konrad Adenauers und Papst Johannes Pauls II. die Freiheit ist, klarer herausarbeiten – insbesondere gegenüber der Unterstellung, christliche Religion sei nur schmückendes Beiwerk eines bürgerlichen Konservativismus. Die deutschen Bischöfe hielten in der Anbrandung fremdenfeindlicher Affekte menschenrechtlich Kurs und brachen eine Lanze für den humanitären Auftrag Europas. Allerdings fehlt noch ein kraftvolles kirchliches Wort zur Verteidigung der liberalen Demokratie gegen das autoritäre Rollback, das in den orthodoxen und katholischen Kirchen Osteuropas viel Unterstützung findet. Günstigenfalls kann der Rechtspopulismus auch theologisch zu einer Unterscheidung der Geister beitragen, die in den Kirchen immer wieder läuternd und befreiend ist.


Fußnoten:


  1. Diese geht auf den Widerstandskämpfer Josef Wirmer (1901-1944) zurück und setzt sich zusammen aus den Farben Schwarz, Gold und Rot in Gestalt eines liegenden Kreuzes (nach dem Vorbild der skandinavischen Flaggen). ↩︎

  2. Dresdner Rede vom 17. Januar 2017; ausführliche Hinweise dazu unter http://www.tagesspiegel.de/politik/hoecke-rede-im-wortlaut-gemuetszustand-eines-total-besiegten-volkes/19273518.html (letzter Zugriff: 02.11.2020). ↩︎

  3. Jost Kaiser: Rechts der CDU. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 05.06.2016, S. 45. ↩︎

  4. Vgl. zum Folgenden besonders https://www.afd.de/wp-content/uploads/sites/111/2017/01/2016-06-27_afd-grundsatzprogramm_web-version.pdf (letzter Zugriff: 02.11.2020). ↩︎