„Amselfelder revisited“

Beziehungsgeschichten zwischen Populismen in Exjugoslawien und Westeuropa
aus OWEP 3/2017  •  von Nenad Stefanov

Dr. Nenad Stefanov ist wissenschaftlicher Koordinator des Interdisziplinären Zentrums „Crossing Borders“ an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Zusammenfassung

Oftmals wird Populismus in Südosteuropa als Charakteristikum dieser Region betrachtet und als tief in deren Geschichte „verwurzelt“ wahrgenommen, womit auch eine Form der Normalität von Populismus in diesem Teil Europas suggeriert wird. Der folgende Beitrag versucht hingegen, Gemeinsamkeiten zu den populistischen Bewegungen in Westeuropa herauszuarbeiten, und vergleicht dabei Krisenerfahrungen in Gesellschaften, deren politische Ordnungen sich im Umbruch befinden.

I.

Vor nicht allzu langer Zeit erwarb ich im Buchladen meines Vertrauens, der bestimmt auch zu den bestsortiertesten der Stadt zählt, das imposante Werk „Geschichte Russlands“ von Manfred Hildermeier. Ich kam mit der Buchhändlerin ins Gespräch über das Buch, das sie noch nicht kannte. Beeindruckend war für sie vor allem der lange Zeitraum, den diese Synthese russischer Geschichte umfasste (vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution). Unvermittelt schloss die Buchhändlerin daran die Feststellung an, dass es dort eben immer schon eine starke Hand der Herrschenden gebraucht hätte, so sei eben die Mentalität der Leute dort, die wären damit auch einverstanden. Ich war für den Moment so verdutzt, dass ich nichts zu erwidern hatte, und nur etwas davon murmelte, dass man da verschiedener Ansicht sein könnte. Verblüfft hatte mich, dass die bestimmt linksliberal orientierte Buchhändlerin zu einem solchen Schluss kommen konnte, der zu dieser Gesinnung nicht zu passen schien: ganzen „Völkern“ bestimmte überhistorische Eigenschaften zuzuschreiben. Auf den zweiten Blick begriff ich allerdings, dass auch im linksliberalen Milieu solche Zuschreibungen gar nicht so ungewöhnlich waren. Schon seit langem und immer öfter konnte man hören und lesen, dass Demokratie jenseits von Mitteleuropa schwächer ausgebildet sei, Herrschaft hingegen würde dort durch eine symbiotische Beziehung zwischen Volk und Führer geprägt. Das könnte man zwar bedauern, doch dort sei es eben normal. Die Menschen dort würden es angeblich nicht anders kennen.

II.

Populismus in Südost- oder Osteuropa ist demnach in einer solchen Wahrnehmung etwas ganz Normales. Tritt dagegen Populismus in westlichen Gesellschaften auf, dann ist es nicht normal, eher ein Skandal, wie die Reaktionen aktuell ganz besonders gegenüber dem neuen US-amerikanischen Präsidenten zeigen. In einer solchen Perspektive sind Autoritarismus und Populismus gleichsam mit geographischen Zuschreibungen identisch, im Süden und Osten Europas endemisch, in dessen Mitte und im Westen aber gleichsam eingeschleppt und damit Ausnahmen. Solche „mental maps“ sind nicht unbedingt einer Denkströmung zuzuschreiben. Sie finden sich in konservativen, liberalen, sozialdemokratischen Orientierungen. Charakteristisch ist für ein solches „mental mapping“ Europas von offenen und nicht so offenen Gesellschaften, dass eine solche Kartierung sich den genauen Blick auf die jeweiligen gesellschaftlichen Konstellationen ersparen kann, aus denen Gemeinsamkeiten und Unterschiede überhaupt erst herausgearbeitet werden könnten.

Insbesondere aber erliegen solche Wahrnehmungsformen gerne dem Schein, den die populistischen Akteure selbst vermitteln wollen: dem Schein von der Geschlossenheit und volkstümlichen Verwurzelung ihrer Macht. Gerade im Vorfeld der Jugoslawienkriege wurden Bilder von „Volk und Führer“ für bare Münze genommen, die mediale Inszenierung mit gesellschaftlicher Wirklichkeit bereitwillig identifiziert. Symptomatisch dafür war die Rede des damals in Serbien herrschenden Slobodan Milošević auf dem Amselfeld anlässlich des sechshundertsten Jahrestages der Schlacht auf dem Amselfeld 1989, wo dem nationalen Narrativ zufolge das serbische mittelalterliche Reich 1389 unterging und die fünfhundert Jahre währende Herrschaft der Osmanen begann. Nach westlichen Medien sollen es etwa 600.000 Menschen, nach serbischen mehr als eine Million gewesen sein, die den Worten ihres Führers lauschten. Aus der eingangs genannten Wahrnehmungsperspektive, die im Populismus in Südosteuropa den Normalfall sieht, kamen dabei drei wichtige Elemente gleichsam natürlich zusammen:

  • es spricht erstens der Führer,
  • zweitens zu seinem Volk, dass sich in großer Zahl versammelt hat,
  • drittens an einem geschichtsträchtigen Ort über „ihre“ Geschichte.

In einer solchen Wahrnehmung ist es die Geschichte, die den ultimativen Kitt zwischen Volk und Führer bildet: Sie zeige die tiefe Verbundenheit zwischen Herrschaft und Volk und deren Wurzeln in der Vergangenheit. Nicht zufällig kam die Buchhändlerin mit Blick auf den Untertitel von Hildermeiers Werk (vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution), zu dem Schluss (an dem der Untertitel natürlich ganz unschuldig war), „das“ sei „dort“ schon immer so gewesen.

Slobodan Milošević ist auf dem Amselfeld vor „seinen“ Serben gleichsam ikonisch geworden, ein visualisierter Idealtyp dessen, was Populismus in diesem Teil Europas sei. Nicht zufällig begegnete dann in den folgenden Jahren dem Nachrichtenzuschauer das offensichtlich ohne jede weitere Erklärung einleuchtende Wort „Serbenführer“, wenn von jenen politischen Akteuren die Rede war, die sich entschlossen hatten, mittels Gewalt ethnisch homogene Territorien zu schaffen.

III.

Die jüngsten Debatten über den neuen Populismus in den westlichen Gesellschaften zeigen indes, dass trotz unterschiedlicher Ausgangskonstellationen viele Gemeinsamkeiten sichtbar werden. Zu betonen ist, dass in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Populismus in Südosteuropa schon lange dessen „Modernität“ konstatiert und dieser vor allem als Reflex auf gesellschaftliche Krisensituationen begriffen wurde, die wenig mit Mythen der verschiedenen nationalen Amselfelder (die auch Kopfschmerzen verursachen können) und anderen Schlachtplätzen zu tun haben, wie es der publizistische Mainstream oft zu berichten weiß.

Die kritische Auseinandersetzung mit dem Populismus, der Jugoslawien in den Krieg stürzte, setzte nahezu zeitgleich mit dessen Entwicklung ein. Der renommierte Belgrader Soziologe Nebojša Popov beschäftigte sich 1993 – auf dem vorläufigen Höhepunkt von Krise und Krieg – mit der Frage, wie ein in der bisherigen Geschichte Serbiens eher marginales Phänomen zu einer dominanten Erscheinung werden konnte, die zur Grundlage des Herrschaftserhalts eines Teils der bisherigen realsozialistischen politischen Elite wurde. Popov fragte sich, warum sich zudem eine beachtliche Zahl von Menschen dem Vertreter einer im Grunde delegitimierten Elite anschloss und auf „Meetings der Wahrheit“ (ähnlich den aktuellen Pegida-Protesten in Deutschland) in ganz Serbien gegen die „Lügen“ aus den anderen Republiken und das Verschweigen der Unterdrückung der Serben im Kosovo protestierte.

Zwei Faktoren kamen dabei zusammen, die dies begünstigten – erstens eine tiefe wirtschaftliche Krise, in der der bescheidende Wohlstand der Jugoslawen zusammenschmolz, und zweitens die damit verbundene Legitimationskrise des politischen Systems, das im Vergleich zu anderen realsozialistischen Staaten als relativ liberal galt. Mitte der 1980er Jahre häuften sich Streiks und Unzufriedenheit in der Arbeiterschaft, gerade angesichts der Tatsache, dass es doch offiziell „ihr“ Staat war, in dem sie immer schlechter lebten. Während der größte Teil der Funktionäre paralysiert auf den wachsenden Unmut schaute, griff einer aus ihren Reihen diese Unzufriedenheit auf, indem er den Arbeitern eine „antibürokratische Revolution“ versprach und gegen das „Establishment“ wütete. Slobodan Milošević machte sein Versprechen auch wahr, jedoch anders als vielleicht von vielen Unzufriedenen erwartet. Erstens säuberte er tatsächlich den Parteiapparat – aber von den reformorientierten und auf demokratische Veränderungen abzielenden Funktionären und stabilisierte gleichzeitig die konservativen Kräfte in Partei und Staat. Zweitens gelang es ihm mithilfe der Medien sowie zahlreicher vorher „kritischer“, nun „patriotischer“ Intellektueller, den diffusen sozial induzierten Unmut zu kanalisieren und in eine andere Richtung zu lenken. Darin wurde Kosovo zu einer zentralen Metapher der Krise. Die wirtschaftliche und politische Krise wurde umgedeutet in eine nationale und staatliche Krise: Solange Serbien in drei Teile zersplittert war (die beiden autonomen Provinzen Vojvodina und Kosovo sowie Zentralserbien), würde der schlechte Zustand anhalten; insbesondere die Untaten der (muslimischen) Albaner gegenüber der (christlichen) serbischen Minderheit in der Provinz Kosovo würden mit der Abschaffung der Autonomie des Kosovo ein Ende haben. Die Frage der Reformbedürftigkeit von Wirtschaft und Politik verwandelte sich in eine Frage der Reform der Staatsorganisation und immer pathetischer in eine Frage des Fortbestands der Nation. Der Kulturanthropologe Ivan Čolović hat für diese Verwandlung die Formulierung geprägt: „Sie kamen als Arbeiter (zu den Protesten) und gingen als Serben auseinander.“

Für den Erfolg Miloševićs war dann vor allem Repression entscheidend: Im Unterschied zu Pegida kamen nicht alle Teilnehmer der „Meetings der Wahrheit“ freiwillig zu diesen Veranstaltungen. Die Menschen wurden betriebsweise mit Bussen abgeholt, wie sie es schon von den sozialistischen Feiertagen her kannten. Gleichzeitig wurden abweichende Meinungen, die 1987 und 1988 noch zu hören waren, immer weiter in den Hintergrund gedrängt. In den wichtigsten Tageszeitungen und den elektronischen Medien hatten mittlerweile Gewährsleute von Milošević das Sagen. Hierin liegt ein wichtiger Unterschied zu den Populismen der Gegenwart, die einer solchen massiven Unterstützung zu ihren Gunsten gesteuerter Medien nicht bedürfen.

Zugleich ist zu betonen, dass diese Protagonisten der gesteuerten Medien nicht als Teil der Macht in Erscheinung traten, sondern ganz im Gegenteil sich als Kämpfer gegen das gesamtjugoslawische „Establishment“ inszenierten, als „Underdogs“, die sich für eine gerechtere Position Serbiens in der jugoslawischen Föderation einsetzten und anprangerten, dass Serbien – wie es heute heißen würde – „unfair“ behandelt und seine Wirtschaft zugunsten der anderen Republiken ausgebeutet würde. In einer solchen gesamtjugoslawischen Konstellation gerierten sich die Protagonisten des neuen Populismus als Vertreter eines Volkes, das ungerechtfertigt zu den Verlierern in diesem Staatenbund gehörte, von dem nur die Republiken im Norden profitierten. Die Parallelen zu den Polemiken gegen die EU brauchen an dieser Stelle nicht gesondert hervorgehoben zu werden.

IV.

Das Ende der Kriege im zerfallenen Jugoslawien sowie der autoritären Regierungen insbesondere Kroatiens und Serbiens um die Jahrhundertwende brachte zunächst ein Ende der vollständigen politischen Hegemonie eines solcherart skizzierten Populismus. Doch die Krisen, die seit zwei Jahren nahezu alle Nachfolgestaaten Jugoslawiens aus unterschiedlichen Gründen erfasst haben, zeigen, dass gerade in Krisenzeiten die Vorstellung von „Volk“ als homogener und schützender Ganzheit immer wieder als scheinbarer Machtstabilisator wirkungsmächtig werden kann. Das dem so ist, hat weniger etwas mit einer angeblichen balkanischen „Mentalität“ zu tun, sondern mit den schwindenden Aussichten auf eine prosperierende Zukunft, die lange Zeit mit der Integration in die EU verbunden wurden. Als diese Perspektive ab 2008 immer unwahrscheinlicher schien, kam es etwa in Makedonien zu jener autoritären Kehrtwende, die das Land in eine tiefe politische Krise stürzte. Das wiederum der Beitritt zur EU nicht automatisch den Bruch mit populistischen Praktiken beinhaltet, zeigt die seit zwei Jahren fortdauernde politische Instabilität in Kroatien und das Kokettieren von Teilen des politischen Establishments mit rechtsextremer Symbolik.

Bei all diesen in ihrer Entstehungsgeschichte durchaus unterschiedlichen Spielarten von Populismus zeigen sich wesentliche Gemeinsamkeiten, die im Übergang aus dem „Goldenen Zeitalter“ (Eric Hobsbawm) während der 1960er und 1970er Jahre in zugespitzter Form in den 1980er Jahren dann zum ersten Mal im Hinblick auf Europa in Jugoslawien sichtbar wurden. Zusammenfassend seien hier vier charakteristische Elemente genannt, die auch in Westeuropa zum Vorschein kommen.

  • Erstens: In diesen Krisensituationen wird die Vorstellung von einem ethnonationalen Kollektiv als Ersatz für gescheiterte gesamtgesellschaftliche Prosperität dominant. Wenn schon ein allgemeines Versprechen von Prosperität nicht mehr einlösbar scheint, dann sollen wenigstens nicht die „Anderen“ von den Resten des Wohlfahrtstaates profitieren, sondern nur die Angehörigen des „eigentlichen“ Volks.
  • Zweitens: Es handelt sich nicht in erster Linie um einen Führerkult. Vielmehr ist ein Kult des Volkes, der vox populi, wie es Ivan Čolović genannt hat. Milošević inszenierte sich nicht als Führer, sondern als Sprachrohr der überhistorisch geltenden Wahrheiten, die immer aus dem Volk kommen. Was volkstümlich (narodno) war, war authentisch und damit wahrhaftig. Kritiker der Verhältnisse konnten dagegen keine echten Serben (Kroaten, Albaner usw.) sein, waren vielmehr „nicht-volkstümliche“ (nenarodni) Elemente.
  • Drittens: Abgrenzung und Ausgrenzung sind in dieser Konzeption von systematischer Bedeutung. Treibstoff für den Populismus war wie angedeutet die Beschwörung einer islamischen Bedrohung, die im Kosovo ihren Ausgangspunkt hatte. Die 1990er Jahre waren geprägt von einer antimuslimischen Rhetorik, in der Serbien und den Serben die Aufgabe zukam, Europa vor der islamischen Gefahr zu warnen und gerade im Bosnien-Krieg zu schützen, was in den Augen der Protagonisten dieser Rhetorik vom Westen tragischerweise nicht erkannt worden sei.
  • Viertens: Es ist deutlich geworden, dass für die Dominanz des Populismus als Herrschaftsform die skizierte Zurichtung der öffentlichen Sphäre eine Grundbedingung war. Der kanadische Forscher Chip Gagnon hat betont, dass es irreführend sei, von populistischer Mobilisierung zu sprechen. Was tatsächlich geschehe, sei die Demobilisierung der Öffentlichkeit, das Wirken aller anderen gesellschaftlichen Akteure wird blockiert, marginalisiert und so der Raum für die Dominanz populistischer politischer Praktiken geschaffen.

Ein besonderes Moment aber ist die im Populismus – egal wo er in Erscheinung tritt – als Herrschaftsform notwendig innewohnende Eskalationsdynamik. Populistische Bewegungen, populistische Regimes können nicht die Versprechen einer völkisch gewendeten Prosperität einlösen. Die Erwartungen jener gesellschaftlichen Segmente, die diese Bewegungen unterstützen, werden damit notwendig permanent frustriert. Dadurch bedarf Herrschaftserhalt unter solchen Bedingungen immer neuer Formen der Eskalation. In Jugoslawien führte dieser Versuch des immer tiefer destabilisierenden Machterhalts von populistischen Regimes in den Krieg der 1990er Jahre.


Literaturhinweise:

  • Thomas Bremer (u. a., Hrsg.): Serbiens Weg in den Krieg. Kollektive Erinnerung, nationale Formierung und ideologische Aufrüstung. Berlin 1998.

  • Ivan Čolović: Bordell der Krieger: Folklore, Politik und Krieg. Osnabrück 1994.

  • Ders.: The Politics of Symbol in Serbia: Essays in Political Anthropology. London 2002.

  • V. P. (Chip) Gagnon: The Myth of Ethnic War. Serbia and Croatia in the 1990s. Ithaca/London 2004.