Die albanische Jugend, die Zukunft des Adlerlandes!

Gjergj Guri war von 2002 bis 2004 bei der Caritas in Shkodra (Albanien) als Projektkoordinator tätig und studiert seit Herbst 2004 in Trient (Italien) Wirtschaftswissenschaften. Auch Sonia Resuli hat diesen Studiengang seit Herbst 2004 in Trient belegt; sie war vorher als Assistentin für die AFTD (Albanische Stiftung für Ausbildung und Entwicklung) tätig.

Über die albanische Jugend zu schreiben ist nicht leicht, denn es gibt vieles, worüber man schreiben müsste. Wir werden versuchen, die wichtigsten Jugendprobleme darzustellen.

Flucht aus der Hoffnungslosigkeit

Viele albanische Jugendliche haben nach dem Ende der kommunistischen Zeit ihre Heimat verlassen, um in andere Länder Europas zu emigrieren, etwa nach Griechenland, Italien oder Deutschland. Einige wanderten aus, um zu studieren, andere, um zu arbeiten und damit ein besseres Leben zu haben. Es ist sehr schwierig, in ein Land zu gehen, wo niemand dich erwartet, wo du niemanden kennst und wo du auch nicht die Sprache sprichst. Viele Leute sind illegal über die Grenze nach Griechenland gegangen und waren oft zwölf Tage lang zu Fuß, aber nur in der Dunkelheit, denn während des Tages war es gefährlich, ja eigentlich unmöglich – hätte es die Polizei bemerkt, wären sie vielleicht erschossen worden und ihre Leichen sogar verschwunden. Manche bezahlten große Summen, um mit einem Gummiboot nach Italien zu fahren. Einige sind mehrmals innerhalb einer Woche gefahren, wenn es ihnen beim ersten Mal nicht gelungen ist. Dabei ist es immer wieder zu Unglücksfällen gekommen. So sind am 9. Januar 2004 mehr als zwanzig Jugendliche aus Nordalbanien ertrunken, weil das Gummiboot eine Panne hatte.

Während der 50jährigen kommunistischen Zeit konnte man es sich nicht vorstellen, ins Ausland zu gehen. Das war kein Thema für die Albaner, denn alle, die es versucht hatten, sind von der Polizei erschossen worden. Die heutige Jugend kennt viele der Gefahren, die ihnen drohen, will aber trotzdem in die europäischen Nachbarländer gehen.

Wenn wir im Ausland mit Einheimischen ins Gespräch kommen, geschieht es oft, dass wir gefragt werden, wer wir sind und was wir in ihrem Land machen. Da die Presse immer nur die dunklen Seiten von Albanien und von den Albanern betrachtet, machen die Ausländer keine Unterschiede zwischen den Albanern. So geht es den Albanern überall, egal ob in in Griechenland, Italien oder Frankreich. Sie werden als Räuber und Verbrecher der übelsten Art angeschwärzt, weil sie in den Zeitungen und im Fernsehen nur schlecht dargestellt werden.

Es gibt ca. drei Millionen Albaner, die außerhalb Albaniens in anderen Ländern wohnen, und die Vorstellung vom Ausland ist folgende: Ausland ist das Land, wo man schnell reich werden und ein besseres und sicheres Leben haben kann, wo Arbeitskräfte immer gesucht und gebraucht werden, und – am wichtigsten – ist die Tatsache, dass man so auch die zurückgelassene Familie in Albanien unterstützen kann.

Auch ein Albaner, der sich für ein schnelles Reichwerden durch Drogenhandel, Prostitution oder Schwarzarbeit entscheidet, will seine Familie zuhause unterstützen. Die Anzahl der Jugendlichen, die diese Wege gehen, ist zum Glück nicht so hoch, wie es oft dargestellt wird. Solche Jugendlichen haben eine falsche Vorstellung vom Ausland.

Trotzdem müssen wir das Thema „Prostitution“ genauer ansprechen. Wieviele albanische Mädchen bieten sich auf den Straßen überall in Europa Freiern an, weil sie von albanischen Jungen dazu gezwungen werden? Wieviele haben sich geirrt und an Versprechungen geglaubt, dass das Leben dort besser ist und sie sich im Land ihrer Träume die Wünsche erfüllen können, die in Albanien unerfüllt bleiben? Wieviele Mädchen aus den Dörfern haben in Albanien geheiratet, sind danach ins Ausland zu ihren eigenen Männern gereist und wurden dann zur Prostitution gezwungen?

Traditionelle Strukturen

Das alles ist in den Dörfern passiert, wo die Menschen nicht gut informiert waren und wo die alte Meinung existiert, dass die Mädchen zwischen 15 und 20 heiraten sollen, weil sie sonst zu alt für die Heirat werden und nicht mehr soviele Chancen haben. Viele Mädchen sind „Opfer“ der Meinung ihrer Eltern, denn die Konflikte zwischen den beiden Generationen führen manchmal auch dazu, dass die Eltern die Entscheidung für die Jugendlichen treffen anstatt sie selbst.

Der Unterschied zwischen den beiden Generationen ist ziemlich groß: Die eine Generation gehört schon ins 21. Jahrhundert und kennt die moderne Technologie, die andere Generation lebt noch in der Erinnerung an die harte Zeit der kommunistischen Diktatur. Oft sind die Eltern nicht mit den Entscheidungen der Kinder zufrieden, und das führt manchmal zu schweren Konflikten.

Ein anderes Jugendproblem ist die Blutrache; viele Kinder und Jugendliche gehen nicht zur Schule, da sie wegen der bestehenden Gefahr zuhause bleiben müssen.1 Wenn eine Person aus Stamm X eine andere Person aus dem Stamm Y erschießt, hat das zur Folge, dass alle Männer des Stammes X und ihre Kinder zuhause bleiben müssen, bis sie das Blutracheproblem gelöst haben – andernfalls werden sie, wenn sie sich draußen frei aufhalten, von den Angehörigen des Stammes Y erschossen. Das passiert hauptsächlich im Norden, weil dort noch der „Kodex von Leke Dukagjini“ berücksichtigt wird. Das ist ein altes Buch mit geschriebenen Gesetzen, die seit Jahrhunderten beachtet werden. Diese Gesetze werden dort angewendet, wo die heute gültigen Gesetze unberücksichtigt bleiben.

Albanische Gegenwart

Was das Lebensniveau betrifft, ist das Land in drei Teile eingeteilt: Nordalbanien, Mittelalbanien und Südalbanien.

Der Norden ist der ärmste Teil Albaniens. Sein Zentrum ist Shkodra, wo die Armut sehr groß ist. Die Stadt entwickelt sich nur sehr langsam, die Jugendlichen haben keine Arbeitsmöglichkeiten. Da es weder Möglichkeiten zu einer Berufsausbildung noch zu einem Studium gibt, setzen viele ihre einzige Hoffnung auf die Emigration. Oft verlassen sie die Schule, gehen ins Ausland und übernehmen schwere Arbeiten, um Geld zu verdienen. Investitionen und Unternehmensgründungen in Nordalbanien fehlen noch weitgehend, und das verstärkt die Hoffnungslosigkeit. Viele Jugendliche sind ganz ohne Hoffnung oder gleichgültig, weil sie wissen, dass sie an dieser Situation nichts ändern können. Wenn man all das erlebt und spürt, dann wird es klar, wie schwierig es ist, sie von der Auswanderung abzuhalten. Sie sollten, wenn es nur irgendwie geht, sich vorstellen, ihre Zukunft in Albanien, in ihrem Land zu suchen.

In Mittelalbanien liegt die Hauptstadt Tirana. Hier haben die Jugendlichen mehr Arbeits- und auch Bildungsmöglichkeiten. Hier finden auch die meisten Investitionen statt. Die Jugendlichen haben hier nicht die gleichen Probleme wie in Nord- und Südalbanien. Ihr Hauptproblem ist der Drogenkonsum.

Auch in Südalbanien spürt man die Gleichgültigkeit der Jugendlichen, wenn es darum geht, die Verhältnisse zu ändern, aber weil Griechenland und Mazedonien nicht weit entfernt sind, ist die Emigration für sie einfacher. Im Süden ist der Tourismus durch die Doppellage an der Adria und am Ionischen Meer begünstigt und bietet den jungen Leuten Gelegenheit zum Geldverdienen.

Was die Religion in Albanien angeht, gibt es nach offizieller Angabe 70 Prozent Muslime, 20 Prozent Orthodoxe und 10 Prozent Katholiken. Konflikte zwischen den Jugendlichen der verschiedenen Religionen bestehen nicht, sie leben vielmehr ohne Probleme miteinander. In der letzten Zeit hat man allerdings festgestellt, dass Jugendliche, die in Syrien, Libyen oder Palästina studiert haben und zurück gekommen sind, versuchen, Traditionen dieser Länder in Albanien fortzuführen, z. B. hinsichtlich der Kleidung. Manche befürchten, dass aus diesen Kreisen Terroristen rekrutiert werden könnten. Aber wie schon eingangs erwähnt, bisher entstehen aus den verschiedenen Religionen keine Konflikte.

Migration – Emigration

Kommen wir zurück zu unserem Hauptthema: Migration und Emigration. Wie oben beschrieben wurde, hat das alles mit dem Ende des Kommunismus begonnen und geht bis heute weiter.

Leider es ist so, dass es nach dem Studienabschluss schwierig ist, ins Ausland zu gehen, um eine Arbeit zu finden. Deswegen gibt es viele Jugendliche, die im Ausland studieren, weil sie sich dann besser dort integrieren und leichter eine Arbeit finden im Vergleich zu den Jugendlichen, die erst nach dem Studium Albanien verlassen. Wir möchten auch die Tatsache erwähnen, dass es seit vielen Jahren in Albanien eine Art von Lotterie für diejenigen gibt, die in den USA leben möchten. Nach den Statistiken haben viele, die dadurch in die USA kamen, dort erfolgreich studiert und oft sogar akademische Karrieren gemacht. Die meisten von ihnen kehren aber nicht mehr nach Albanien zurück.

Diese Entwicklung führt dazu, dass Albanien auch geistig ausblutet und immer ärmer wird. Die Intelligenz verlässt das Land und lässt es ohne Zukunft oder Perspektive zurück. Eine falsche Politik, die mehr Hindernisse aufbaut als wegräumt, verhindert ein Engagement der Jugendlichen beim Aufbau des Staates. Der Weg Albaniens in die EU wird aber ohne den Beitrag dieser Jugendlichen, die jetzt überall auf der Welt verteilt leben, sehr schwer werden.

Was kann gemacht werden?

Unserer Meinung nach kann man einige Punkte ohne großen Kostenaufwand verbessern. Nach unseren Erfahrungen wären viele Jugendliche bereit, nach Albanien zurück zu kommen, wenn es eine sichere Arbeitsstelle gibt, von der sie leben können. Auch könnte der Staat in Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisation (NGOs) eine Politik gestalten, die die Jugendlichen unterstützt und zu mehr Eigeninitiative ermuntert.

In Teilen Albaniens gibt es bereits Möglichkeiten beruflicher Ausbildung, aber das Ganze nutzt wenig, solange die Jugendlichen nach dem Abschluss der Berufsausbildung keine Arbeit finden. Hier sind ausländische Investoren gefordert, die neue Unternehmen aufbauen und damit Arbeitsplätze schaffen. Das muss der Staat aber wirksam unterstützen.


Wir hoffen, dass dieser Artikel auch von Albanern gelesen wird, weil wir diesen Appell an die Söhne des Adlerlandes richten – unser Appell ist: Vergessen wir nicht unser Land, das Adlerland!


Fußnote:


  1. Vgl. dazu auch den Beitrag von Maria Christina Färber, „Wenn der Vogel kein Nest mehr hat“. Hilfe für Inlandsflüchtlinge in Albanien, in: OST-WEST. Europäische Perspektiven 4 (2003), H. 3, S. 214-224, bes. S. 219-222 (Anm. d. Redaktion). ↩︎