Der ewige Putin
An Vladimir Putin scheiden sich die Geister. Seine Kritiker werfen dem früheren KGB-Mann seinen autoritären Kurs in der Innenpolitik ebenso vor wie seine aggressive Außenpolitik. Seine Unterstützer sehen in ihm einen Präsidenten, der Russland nach den chaotischen Jelzin-Jahren wieder stabilisiert und seinem Land erneut zu weltpolitischer Bedeutung verholfen hat.
Vladimir Putin ist inzwischen zur alleinigen Ikone Russlands geworden. Das liegt nicht nur daran, dass der russische Präsident mittlerweile 15 Jahre unangefochten an der Macht ist – von 2000 bis 2008 als Präsident, von Mai 2008 bis 2012 als Ministerpräsident und seit 7. Mai 2012 wieder als Staatsoberhaupt. Noch entscheidender ist sein Drang zur Selbstinszenierung, der ihn sowohl in der innenpolitischen Wahrnehmung wie auch in der Außendarstellung als den alles regulierenden Hauptakteur der politischen Geschicke seines Landes erscheinen lässt. Wie kaum ein Kreml-Herrscher zuvor instrumentalisiert Putin dafür die Medien, um seine Herrschaft über das weite Land abzusichern und den präsidialen Personenkult zu pflegen.
Der russische Staatschef setzt sich gerne medienwirksam in Szene: Er jagt Tiger, zieht einen riesigen Hecht aus dem eiskalten Wasser oder fliegt mit Kranichen über Sibirien. Es gibt zahlreiche Fotos von Putin, auf denen er sich als starker Mann Russlands präsentiert. All diese Bilder zielen in erster Linie auf die russische Öffentlichkeit ab, kommen aber auch ausländischen Medien und deren Tendenz zur Personalisierung von Politik sehr entgegen. Es gibt eine regelrechte „Putinisierung“ der Berichterstattung im russischen Fernsehen, bei der ständig das Bild eines scheinbar omnipräsenten politischen Führers zu sehen ist.
Sehr beliebt sind dabei die immer gleichen Fernsehszenen, bei denen Putin im Kreml am Verhandlungstisch sitzt und Funktionäre der mittleren Ebene zum Rapport empfängt. Er befiehlt ihnen, bestimmte Missstände abzustellen. Diese Auftritte sollen den Eindruck vermitteln, als habe der Präsident alles im Griff und die Macht, per „Ukas“ landesweit alles durchzusetzen und zu regeln. Es wird das Image eines „guten Zaren“ entworfen, der pausenlos für das Land tätig ist.
Einmal im Jahr stellt sich der Kremlherrscher in einer großen Fernsehshow live den Fragen russischer Bürger. Im April 2015 gingen mehr als 1,5 Millionen Fragen ein, und die Sendung „Direkter Draht“ dauerte mehrere Stunden. Die Beiträge der Fernsehzuschauer erreichen den Staatschef über das Telefon, das Internet oder per SMS. Auch hier wird dem Millionenpublikum der Traditionssendung vor allem das sichere Gefühl vermittelt, als wisse der Präsident auf alle Fragen seiner Bürger eine Antwort.
Das russischsprachige Internet ist zwar voll von Karikaturen, manipulierten Bildern und Videos, in denen Nutzer sich über den Präsidenten lustig machen. Dennoch überwiegt offenbar die Angst bei vielen, dass nach einem möglichen Abgang Putins alles noch schlimmer kommen könnte. Die Sorge vor einer Zukunft ohne ihn scheint bei vielen Russen größer zu sein als ihre Kritik an einer Gegenwart mit ihm.
Tatsächlich gehört es zu den bemerkenswerten Entwicklungen des letzten Jahres, dass es Putin gelungen ist, nach der Annexion der Krim und in der zunehmenden außenpolitischen Konfrontation seine Popularität wieder enorm zu steigern. Zahlreiche Umfragen des anerkannten unabhängigen Levada-Zentrums und anderer Meinungsforscher in Moskau vermitteln den Eindruck, dass rund 80 Prozent der russischen Bevölkerung Putins Kurs klar unterstützt. Nach diesen Angaben sind seine Kritiker mit rund 20 Prozent in der Minderheit.
Schon in seiner ersten Amtszeit erfreute sich Putin einiger Popularität. Aus der Sicht vieler Russen gelang es dem Präsidenten, damals nach dem Chaos der Jelzin-Jahre wieder „neue Ordnung“ zu schaffen. Der Staat zahlte endlich wieder Gehälter und Pensionen an die Bürger aus, der Einfluss mächtiger Oligarchen wurde eingedämmt. Die russische Mittelschicht erlebte – auch dank des hohen Erdölpreises – einen bisher nicht gekannten wirtschaftlichen Aufstieg. Außerdem wirkte Putin nach dem häufig alkoholisierten, polternden fast 70jährigen Boris Jelzin mit seinen 47 Jahren als neuer, moderner Politiker-Typ.
Sein autoritärer Kurs und die neu errichtete „Vertikale der Macht“ schienen vielen Russen eine neue Phase der Stabilisierung Russlands einzuleiten. Dazu passte auch, dass Putin von 2008 bis 2012 als Ministerpräsident mit dem als liberaler Reformer geltenden Präsidenten Dmitrij Medvedev ein Tandem bildete. Diese Machtkonstellation weckte die Hoffnung, es könne in Russland eine neue Phase der stärkeren Demokratisierung anbrechen.
Der große Bruch kam im September 2011, als Putin völlig überraschend eine Rochade mit Medvedev ankündigte, um wieder Präsident zu werden. Große Teile der russischen Elite und des bürgerlichen Mittelstandes erlebten diesen Moment als große Zumutung und Betrug, der auch Medvedev als „Marionette“ im politischen Spiel des autoritären Regimes vollends diskreditierte. Es kam in Russland zu großen Demonstrationen, bei denen vor allem in der Hauptstadt Moskau Hunderttausende auf die Straße gingen und gegen Wahlfälschungen und staatliche Willkür protestierten. Die damaligen Slogans „Putin ein Dieb“ oder „Russland ohne Putin“ richteten sich vor allem gegen den Kreml-Herrscher, dessen Amtszeit sich in den Augen vieler Bürger nun endlos in die Zukunft auszudehnen schien. Mit dem konfrontativen außenpolitischen Kurs und einer Welle anti-amerikanischer Ressentiments ist es Putin aber im vergangenen Jahr gelungen, seine Popularität völlig wieder herzustellen. Dabei spielt eine zentrale Rolle, dass er Russlands imperiale Größe und Bedeutung in der Weltpolitik wieder zu beleben scheint. Seine Haltung in der Krim-Frage wurde ebenso mit hohen Zustimmungsraten begrüßt wie die Haltung gegenüber den Sanktionen. Ohne Frage hat sich Putin in den letzten 15 Jahren sehr stark verändert und mit ihm sein Land.
„Die aggressive Außenpolitik Putins traf auf Erwartungen, die viele Russen jahrelang hegten“, analysiert der Meinungsforscher Igor Eidmann diese Entwicklung. Fast die Hälfte der Russen finde die Erklärung Putins gut, er sei während der „Operation Krim“ bereit gewesen, auch Atomwaffen einzusetzen. Sie glauben, dass man gegenüber dem Westen nur in der Sprache der Stärke sprechen dürfe. Zu solchen Überzeugungen beigetragen hat die völlige Kontrolle der Medien durch das Regime, die sich die Putinsche Propaganda zu eigen machen. Die wenigen Nischen freier und unabhängiger Berichterstattung sind in Russland heute so gut wie verschwunden und haben ihre Wirkungsmacht eingebüßt.
Seither wirft der richtige Umgang mit dem russischen Präsidenten für europäische Politiker immer mehr Fragen auf, die selbst kenntnisreiche Russland-Experten kaum zu beantworten wissen. Diese verbreitete Ratlosigkeit der politischen Elite in Deutschland spiegelt sich auch in der medialen Darstellung wider, die in ihrer Fixiertheit auf Putin ein sehr vereinfachtes Bild der russischen Verhältnisse zelebriert. Durchgesetzt hat sich in den deutschen Medien fast durchgehend ein Putin-kritischer Mainstream, der zeitweise zu einer regelrechten „Dämonisierung“ des Präsidenten entgleist. Das zeigte sich zuletzt in der Berichterstattung über den Mord an dem Oppositionellen Boris Nemzow im Februar 2015, nach dem einige Politiker und Journalisten wie selbstverständlich davon ausgingen, dass Putin persönlich für den Mord verantwortlich sei.
Diese sehr stark personalisierte Darstellung verdeckt in Wahrheit, wie wenig über die Machtverhältnisse im Kreml tatsächlich bekannt ist. Ähnlich wie zu sowjetischer Zeit bewegt sich das vermeintliche Wissen über Putins Position im russischen Machtapparat, seine politische Strategie und Zukunftsaussichten auf dem Niveau von Spekulation und „Kreml-Astrologie“. Der russische Präsident galt als ehemaliger KGB-Mann schon früher als schwieriger Gesprächspartner, wirkte aber lange verlässlich. So sagte der ehemalige US-Präsident Bill Clinton über ihn, Putin habe immer Wort gehalten. Diese Erfahrung machen europäische Politiker oder ihre US-Kollegen heute nur noch selten. Das russische Staatsoberhaupt pflegt nicht nur ein taktisches Verhältnis zur Wahrheit, sondern hat sich in den letzten anderthalb Jahren häufig in Unwahrheiten verstrickt oder schlecht unterrichtet gewirkt. Die Lüge ist nicht nur zu einem Teil der staatlichen Propaganda geworden, sondern gehört auch zu Putins persönlichem Repertoire. Das zeigte sich vor allem in der „Ukraine-Krise“. Beim Internetportal Slon.ru sind Putins wiederholte Unwahrheiten inzwischen zum dankbaren Thema geworden, dem sich der Autor Syrlybai Aibusinow in der Rubrik „Rede-Check“ regelmäßig widmet.
So sprach Putin zunächst davon, dass die russischen Uniformierten auf der Krim nicht aus Russland stammten, sondern dass es sich nur um „lokale Selbstverteidigungskräfte“ handele. Uniformen ließen sich überall kaufen, witzelte der russische Präsident. Dann räumte Putin in seiner Fragestunde am 17. April 2014 selbst ein, er habe russisches Militär eingesetzt. Völlig unklar bleibt für seine Gesprächspartner dabei, ob er von seinen Beratern schlecht informiert wird oder ganz bewusst die Unwahrheit sagt.
Charakteristisch für den russischen Präsidenten ist vermutlich eine Beschreibung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit der die US-amerikanische Zeitung „New York Times“ die Kanzlerin aus einem Telefonat mit Präsident Barack Obama zitierte: „Putin hat den Kontakt mit der Realität verloren“, soll Merkel über Putin gesagt haben. Der russische Präsident „lebe in einer anderen Welt“. Diese Äußerung umreißt, wie schwierig es für andere Regierungschefs inzwischen geworden ist, weiter mit Putin zusammenzuarbeiten und nach gangbaren Wegen der Kooperation mit Russland zu suchen.
Auch innenpolitisch ist völlig ungewiss, wie lange Putin den Rückhalt in der Bevölkerung noch behalten wird. Gerade angesichts der sich verschärfenden Wirtschaftsprobleme ist völlig offen, ob sich die sozialen Spannungen in Russland nicht so zuspitzen könnten, dass das Protestpotential gegen Putin erneut wächst. Schon jetzt gibt es Stimmen, die sagen, dass die Sozialpolitik der Regierung weniger populär sei, als es den Anschein habe. Bislang bleibt Putin jedenfalls allen die Antwort auf die Frage schuldig, in welche Zukunft er sein Land weiter führen will.
Literaturhinweise:
Natalija Geworkjan: Aus erster Hand. Gespräche mit Putin. München 2000.
Masha Gessen: Der Mann ohne Gesicht: Wladimir Putin. Eine Enthüllung. München 2013.
Walter Laqueur: Putinismus. Wohin treibt Russland? Berlin 2015.
Boris Reitschuster: Putins Demokratur. Ein Machtmensch und sein System. Berlin 2014.