Nach dem Tomos

Überlegungen aus griechisch-katholischer Sicht
aus OWEP 4/2019  •  von Anatolii Babynskyi

Anatolii Babynskyi ist Doktorand an der Ukrainischen Katholischen Universität und „Research Fellow“ am Metropolitan Andrey Sheptytsky-Institut für Ostkirchliche Studien des St. Michael’s College an der Universität Toronto.

Zusammenfassung

Die krisenhafte Entwicklung innerhalb der ukrainischen Orthodoxie hat auch Auswirkungen auf das Verhältnis der orthodoxen Christen zu den mit Rom verbundenen griechisch-katholischen Christen. Der folgende Beitrag skizziert die gemeinsamen historischen Wurzeln der Kirchen und den Stand ihrer wechselseitigen Beziehungen.

Begriffserklärung „Tomos“: Dekret zur Verleihung der Autokephalie (Selbstständigkeit) an die Orthodoxe Kirche der Ukraine.

Historische Grundlagen

Die Beziehungen zwischen der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche (UGKK) und der neu gegründeten Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) beruhen vor allem auf den Beziehungen, wie sie sich zwischen der UGKK und den autokephalen Jurisdiktionen der Ukraine (Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche, UAOK, und Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats, UOK-KP) von 1989 bis 2018 herausgebildet haben. Die religiöse und kirchliche Wiedergeburt in der Ukraine in den späten 1980er-Jahren, die sowohl dazu geführt hat, dass die UGKK aus dem Untergrund auftauchen konnte, als auch die Wiedergeburt der UAOK ermöglicht hat, wurde von mehreren zwischenkirchlichen Konflikten begleitet. Diese betrafen nicht nur Eigentumsfragen, sondern auch sozio-religiöse und sogar theologisch-ekklesiologische Themen.

Die Verflechtung von religiösen und soziopolitischen Themen, die ohnehin dem östlichen Christentum zu eigen ist, wurde im ukrainischen Kontext noch von der Präsenz des Moskauer Patriarchats verstärkt, das, nach einer Periode der brutalen Verfolgung in den 1920er- und 1930er-Jahren und strenger Staatskontrolle und Unterdrückung in der Nachkriegszeit in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre einigermaßen gute Beziehungen mit den sowjetischen Machthabern aufbaute, eine Monopolposition in der UdSSR zu unterhalten suchte und die Erhaltung des Staates unterstützte.

Die UGKK tauchte zu derselben Zeit aus dem Untergrund auf, als auch die UAOK wieder auflebte, und zwar im Kontext der nationalen Befreiung und einer antikolonialen Bewegung der ukrainischen Gesellschaft. Deswegen versuchten alle Kirchen, eine Führungsrolle in der „geistlichen Befreiung“ vom kolonialen Zentrum zu übernehmen. In der Folge arbeitete jede von ihnen ihre Vision von der Kirche aus, die alle Ukrainer der byzantinischen Tradition vereinen könnte. Während sich die griechisch-katholischen Christen in den frühen 1990er-Jahren auf das Narrativ einer Nationalkirche beriefen, das auf der Rolle ihrer Kirche im Prozess der nationalen Wiedergeburt und des Staatsaufbaus in der Gesellschaft von Galizien im 19. und frühen 20. Jahrhundert basierte, riefen die „autokephalen“ Orthodoxen im Gegensatz dazu alle Ukrainer auf, sich um die „Kosakenkirche“ zu versammeln, wobei sie sich auf den Befreiungskampf im 17. Jahrhundert bezogen.

Unterschiedliche theologische Konzeptionen nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit

Die theologische und ekklesiologische Dimension der Diskussionen konzentrierte sich vor allem auf das Maß der Autonomie der Kirche. Während die griechisch-katholischen Christen die Notwendigkeit der Einheit mit dem und Treue zum Römischen Stuhl betonten, die die Zeit der Verfolgung zu überleben geholfen hatten, lag die Betonung der Autokephaliebewegung auf dem Slogan „Eine unabhängige Kirche in einem unabhängigen Staat“.

Nach der akuten Konfliktphase in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre verbesserte sich die Beziehung zwischen der UGKK und den ukrainischen orthodoxen autokephalen Jurisdiktionen; beide begannen, auf verschiedenen Ebenen zu interagieren. Damals entwickelte die UGKK das Konzept von der Kiewer Kirche, die sich auf die Idee der Einheit der alten Kiewer Metropolie stützte, wie sie von den Metropoliten Josef Rutskyi und Petro Mohyla im 17. Jahrhundert sowie Andrij Scheptytzkyi und Josef Slipyi im 20. Jahrhundert entwickelt worden war, sowie auf die Prinzipien der modernen ökumenischen Bewegung.1 Im Kontext der Beziehungen zwischen verschiedenen Kirchen der östlichen Tradition in der Ukraine wurde die Idee von der Kiewer Kirche als schrittweise und gegenseitige Annäherung aller Zweige, die Erben der Taufe des Fürsten Wolodymyr im 10. Jahrhunderts waren, hin zur Einheit gesehen, und zwar ohne Verlust der kanonischen Verbindungen mit jenen kirchlichen Zentren, mit denen diese Kirchen zurzeit ihre Verbindungen unterhalten. Die UGKK versuchte, Distanz zu den innerorthodoxen Diskussionen in der Ukraine zwischen der UAOK, der UOK-KP und der UOK-MP zu halten und freundliche Beziehungen zu allen dreien aufzubauen, ungeachtet der Trennung zwischen ihnen. Gleichzeitig ermutigte und unterstützte der Vatikan nur Kontakte mit der Ukrainischen Orthodoxen Kirche in der Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats.

Die besten Beziehungen entwickelte die UGKK mit der UAOK und der UOK-KP, weil sie mit diesen Kirchen eine gemeinsame Position im Blick auf die soziale und kulturelle Entwicklung der Ukraine hatte; allerdings waren diese Beziehungen nie von offiziellem Charakter. Ökumenische Initiativen der UGKK in der Ukraine wurden von den Führern der UAOK ohne großen Enthusiasmus aufgenommen, während dieselben weiterhin in ihren offiziellen Dokumenten und Kommentaren betonten, dass die Einheit der ukrainischen Christenheit nur auf der Basis einer absoluten Unabhängigkeit von jeglichem auswärtigen kirchlichen Zentrum möglich sein würde („weder Rom noch Moskau“), und im Fall der UGKK nur unter der Bedingung, dass sie zum Zustand vor dem Konzil von Brest 1596, also der Union mit Rom, zurückkehren würde.

Andererseits nutzten die UAOK und vor allem die UOK-KP jeden Kontakt mit der UGKK und der römisch-katholischen Kirche, da sie mangels einer kanonischen Anerkennung durch andere orthodoxe Kirchen in die Isolation vom Rest der Christenheit gedrängt waren und diese wenigstens teilweise zu überwinden versuchten. Das lässt sich am Treffen zwischen dem Oberhaupt der UOK-KP und Papst Johannes Paul II. 2001 sehen, ebenso an der offiziellen Bitte der UOK-KP an die UGKK im Jahr 2012, eine offizielle Stellungnahme zur Gültigkeit der Taufe im Kiewer Patriarchat abzugeben, worauf das Oberhaupt der griechisch-katholischen Christen positiv reagierte.2

Positive Sicht der UGKK auf den Tomos – bleibende Distanz seitens der OKU

Der Prozess der Regulierung des kanonischen Status der ukrainischen Autokephaliebewegung, der mit dem Einigungskonzil und der Verleihung des Tomos zur Autokephalie an die OKU Anfang 2019 durch das Patriarchat von Konstantinopel endete, wurde von der UGKK positiv bewertet. Die Gründe für diese Bewertung waren vor allem pastorale und ökumenische.3 Einerseits kehrten Millionen von Ukrainern (nach vielen Meinungsumfragen identifizierten sich die meisten ukrainischen orthodoxen Gläubigen mit der autokephalen orthodoxen Kirche) durch die Regulierung dieses kanonischen Status zur Eucharistiegemeinschaft mit der Kirche von Konstantinopel und dadurch mit den anderen Kirchen zurück, die in Gemeinschaft mit letzterer sind. Andererseits erlaubt die offizielle Anerkennung der OKU durch das Patriarchat von Konstantinopel den zukünftigen Beginn von offiziellen ökumenischen Beziehungen zwischen der UGKK und der neuen Kirche und damit eine Initiative für eine fruchtbare Diskussion über die Einheit der Kirche von Kiew. Auch kann die Gründung der autokephalen Kirche in der Ukraine zu einem Neustart des ökumenischen Dialogs auf Weltebene beitragen. Dessen Konfiguration hat sich in der Zeit der Sowjetunion gebildet und geschah ohne Berücksichtigung der Verschiedenheit der östlichen Christenheit in Mittel- und Osteuropa. Das führte zum bleibenden Monopol der Vertretung des Ostchristen der Region durch das Moskauer Patriarchat.

Wie erwähnt verweisen die gegenwärtigen Beziehungen zwischen der UGKK und der OKU auf die Entwicklung, die vorher in den Beziehungen zwischen der UGKK und der UAOK sowie der UOK-KP stattgefunden hatte. Zunächst bezieht sich das auf die Stellung der Kirchen in der ukrainischen Gesellschaft und die Beziehung zum ukrainischen Staat. Die Frage der „Nationalkirche“, die alle ukrainischen Christen der östlichen Tradition vereinen könnte und die in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre wichtig war, ist wieder auf der Tagesordnung der zwischenkirchlichen Beziehungen. Die Führung der UGKK hat im Großen und Ganzen die Gewährung des Autokephalie-Tomos begrüßt und eine Diskussion über die Identität der Kiewer Christenheit begonnen, wobei sie betonte, dass eines ihrer notwendigen Elemente die Offenheit und sogar Einheit mit Rom und mit Konstantinopel ist.4 Daher ist in griechisch-katholischer Sicht der Autokephalie-Tomos für die OKU ein wichtiges, aber noch nicht das endgültige Ziel für die geteilte Kiewer Christenheit. Die ukrainischen Kirchen in der Nachfolge von Wolodymyrs Taufe im Jahre 988 müssen an der Heilung der Trennung weiterarbeiten, um volle Einheit zu erlangen.

Die abschlägige Antwort der OKU auf den Wunsch der UGKK, einen feierlichen Gottesdienst in der Sophienkathedrale zu halten, der Kirche, die für alle ukrainischen Kirchen der östlich-byzantinischen Tradition von zentraler symbolischer Bedeutung ist, zeigt im Gegenteil, dass die OKU auf ihrer einzigartigen Rolle in der Ukraine und den exklusiven Rechten auf das Erbe der Kiewer Christenheit beharren will. Mit der Anerkennung durch Konstantinopel braucht die autokephale Bewegung in der Ukraine die Unterstützung der UGKK nicht mehr, um ihre Isolierung zu überwinden. Andererseits betont das Moskauer Patriarchat ständig, dass die ukrainische Autokephalie ein „Projekt der UGKK“5 ist; daher wird die OKU eine angemessene Distanz zur UGKK halten, um zusätzliche Kritik von den anderen orthodoxen Kirche zu vermeiden, von denen sie ihre offizielle Anerkennung erhofft.

Ausblick: Hoffnung auf Annäherung?

Die Kontroverse rund um den Wunsch der griechisch-katholischen Christen, einen Gottesdienst in der Kiewer Sophienkathedrale abzuhalten, verwies auf eine andere zentrale Frage in der Beziehung zwischen beiden Kirchen, nämlich auf die Kirche-Staat-Beziehungen. Der Prozess der Gewährung der Autokephalie unter direkter Beteilung von Vertretern der ukrainischen Staatsmacht, der nicht nur den Orthodoxen eigentümlich ist, bringt aber Risiken im Kontext der ukrainischen Realitäten mit sich, wo eine friedliche Koexistenz zwischen verschiedenen Kirchen und Denominationen direkt vom gleichen Abstand der Staatsmacht zu allen Religionsgemeinschaften abhängt. Zusätzlich zum sozioreligiösen Aspekt berührt die Debatte manchmal auch theologische Fragen. Es wurde klar, dass die Soziallehre der Kirchen und ihr Verständnis der Vergangenheit (einschließlich der kommunistischen Zeit) entsprechend den neuen Realitäten neu interpretiert werden sollte, und zwar sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene.

Somit sind momentan die UGKK und die OKU dabei, neue Mechanismen der Interaktion zu entwickeln, die in gewisser Weise von vergangenen Entwicklungen und Positionen abhängen. Das betrifft erstens das Verständnis der Vergangenheit der ukrainischen Christenheit und eine Vision der Einheit der Kiewer Christenheit in der Zukunft. Zweitens hat die Lösung des ukrainischen Status der Autokephaliebewegung einige Änderungen in der Position der OKU hinsichtlich der UGKK gebracht, weil die neue Kirche mehr auf die Reaktion anderer orthodoxer Kirche bezüglich ihrer Kontakte mit der UGKK achten wird, wenigstens in den nächsten Jahren. Die UGKK wird ihrerseits die weitestmögliche Beteiligung der neuen Kirche am ökumenischen Dialog auf lokaler und universaler Ebene anstreben, um die zwischenkirchlichen Beziehungen in der Ukraine zu verbessern und die ökumenische Bewegung im Ganzen wiederzubeleben. Eine wichtige Rolle sollte dabei ein gemeinsames Verständnis des universalen Charakters der Kiewer Christenheit spielen, das die binäre Opposition zwischen Ost und West sowie Orthodoxie und Katholizismus überwinden kann.

Deutsch von Thomas Bremer.


Fußnoten:


  1. Vgl. Antoine Arjakovsky: The Unique People of God Discourse of His Beatitude Lubomyr Husar, Metropolitan of Kyiv-Halych, Head of the Ukrainian Greek-Catholic Church, on the Occasion of the Beginning of the Return of the Metropolitan See to Kyiv. In: Conversations with Lubomyr Cardinal Husar: Towards a Post-Confessional Christianity. Lviv 2007, S. 128 -138; ders.: Das Konzept der „Kiewer Kirche“ – ein Weg zur Annäherung der Konfessionen in der Ukraine. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 10 (2009), H. 3, S. 189-194 der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  2. Vgl. https://risu.org.ua/page.php?_lang=ua&path=confessional/&name= interchurch_relations&id=50103& (letzter Zugriff: 28.10.2019; Link mittlerweile inaktiv!). ↩︎

  3. „Ukraine prelate says Orthodox independence is ‚affirmation of rights’“; https://cruxnow.com/synod-of-bishops-on-youth/2018/10/17/ukraine-prelate-says-orthodox-independence-is-affirmation-of-rights/ (letzter Zugriff: 03.01.2023). ↩︎

  4. „Our Saint Sophia. A Letter of His Beatitude Sviatoslav on the Occasion of the Centenary of the Renewal of Unity of the Ukrainian Nation and State“; http://archeparchy.ca/news_details.php?news_id=727 (letzter Zugriff: 03.01.2023). ↩︎

  5. So Metropolit Hilarion von Wolokolamsk, der für Außenbeziehungen zuständige Bischof der Russischen Orthodoxen Kirche, vgl. https://mospat.ru/ru/2018/02/13 (letzter Zugriff: 28.10.2019; Link mittlerweile inaktiv!). ↩︎