OWEP 4/2019

OWEP 4/2019

Schwerpunkt:
Ukraine – Fünf Jahre nach dem Majdan

Editorial

Als wir vor genau fünf Jahren ein Heft zur Ukraine erstellt haben, war nicht abzusehen, wie sich der damals noch recht junge Konflikt entwickeln würde. Inzwischen steht die Ukraine wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit – absurderweise nicht wegen der nach wie vor kritischen Situation im Lande, sondern wegen des Versuchs des amerikanischen Präsidenten, diese schwierige Lage für seine eigenen Interessen auszunutzen. Dabei ist die Krim immer noch von Russland annektiert, und auch die russische Unterstützung für die separatistischen Regime im Osten des Landes dauert an. Die Situation ist also durchaus noch nicht beruhigt; vielmehr verlieren weiterhin wöchentlich Menschen ihr Leben.

Im Jahr 2018 haben zwei wichtige innenpolitische Ereignisse stattgefunden: Der bisherige Präsident Poroschenko wurde abgewählt, und der politisch bisher unbekannte Schauspieler Wolodymyr Selenskyj wurde sein Nachfolger. Die Unzufriedenheit mit der grassierenden Korruption und der anhaltenden Kriegssituation hat wohl entscheidend dazu beigetragen, dass Selenskyj drei Viertel der Wählerstimmen errang. Das andere Ereignis ist die Gründung einer neuen orthodoxen Kirche, der vom Ökumenischen Patriarchen die Autokephalie, also die kirchliche Unabhängigkeit, gewährt wurde. Das geschah gegen den Willen der russischen Kirche, die beansprucht, alleine für die Ukraine zuständig zu sein, und führte zu einer anhaltenden Krise der Weltorthodoxie.

Im vorliegenden Heft wollen wir diese beiden Ereignisse besonders beleuchten. Eine Reportage und mehrere Interviews verbinden die aktuelle Lage mit Bemühungen vor allem katholischer Organisationen, sie zu mildern. Und Hintergrundberichte zu den innerorthodoxen Spaltungen versuchen, diese äußerst schwierige und komplexe Gemengelage zu erklären; dazu kommen Einschätzungen von Gläubigen der verschiedenen Kirchen im Lande. Wir hoffen, damit ein wenig zu größerer Klarheit beizutragen.

Die Redaktion

Kurzinfo

Vor gut fünf Jahren gingen Bilder von Straßenkämpfen inmitten der ukrainischen Hauptstadt Kiew um die Welt. In der so genannten „Revolution der Würde“ brach sich der Unmut gegen die russlandfreundliche Politik des damaligen Präsidenten Janukowitsch Bahn. Seither hat sich manches im Land getan, aber wirklich zur Ruhe gekommen ist es bis heute nicht. Auch wenn fünf Jahre nur einen kurzen Zeitraum in der Weltgeschichte umfassen, ist es daher sinnvoll, eine kleine Bilanz zu ziehen: Wo steht die Ukraine, wohin wird sie sich entwickeln? Antworten auf diese Fragen versucht das aktuelle Heft der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven (OWEP).

Eröffnet wird das Heft durch einen Beitrag der in Regensburg und München lehrenden Historikerin Prof. Dr. Katrin Boeckh mit einem Überblick über die politische und gesellschaftliche Entwicklung der Ukraine seit der Unabhängigkeit des Landes 1991. Deutlich wird dabei, dass die Wurzeln vieler ungelöster Konflikte in Gesellschaft und Kirche weit in die Vergangenheit zurückreichen. Weitgehend verdrängt in Westeuropa, in der Ukraine jedoch präsent ist der militärische Konflikt mit Russland im Osten des Landes. Markante Worte dazu findet Oksana Syroiid, ehemalige Vizepräsidentin des ukrainischen Parlaments, in einem Interview, das Prof. Dr. Michael Albus, OWEP-Chefredakteur, mit ihr im August 2018 geführt hat.

In kirchlicher Hinsicht war 2019 ein turbulentes Jahr. Mit der Gründung einer neuen orthodoxen Gemeinschaft, der „Orthodoxen Kirche der Ukraine“, sollte eigentlich die Spaltung der orthodoxen Christen überwunden und gewissermaßen eine „Nationalkirche“ geschaffen werden. Leider ist das Gegenteil eingetreten: Die innerorthodoxen Konflikte haben sich vertieft und zudem die weltweite orthodoxe Christenheit in eine Krise gestürzt. Vorgeschichte, Verlauf und Folgen der Ereignisse werden in vier Texten dargestellt: Prof. Dr. Thomas Bremer, Mitglied der OWEP-Redaktion, bietet einen Gesamtüberblick über die Geschehnisse. Lidija Losowa und Darja Morosowa, Mitarbeiterinnen des Verlags „Duh i litera“ in Kiew, schildern das Zusammenleben der Gläubigen im Alltag und zeigen damit, dass es durchaus Kontakte zwischen Mitgliedern der verschiedenen Kirchen gibt. Anatolii Babynskyi, Doktorand an der Ukrainischen Katholischen Universität, z. Zt. in Toronto, bietet einen Blick auf die Vorgänge aus griechisch-katholischer Sicht. Prof. Dr. Andrij Baumeister, Lehrstuhlinhaber für Philosophie an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew, analysiert die Einflussnahme der Politik bei den Vorgängen zur Entstehung der neuen Kirche.

Nach den Beiträgen zu Politik, Gesellschaft und Kirche bietet das Heft eine Reportage und mehrere Interviews, die Prof. Dr. Michael Albus während einer Reise in die Ukraine im August 2019 geführt hat. Am Beginn steht ein Gespräch mit dem Militärseelsorger Andrij Selinskyj SJ, der Leserinnen und Leser unmittelbar in das Kriegsgeschehen in der Ostukraine führt und mit eindringlichen Worten auf die seelischen Folgen von Gewalt hinweist. In einer längeren Reportage gibt Prof. Dr. Michael Albus dann seine Eindrücke über das Land im Sommer 2019 wider: Vieles ist unklar und offen; ob der neue Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Versprechen halten wird, muss abgewartet werden. Die Stimmung schwankt, wie aus zahlreichen Gesprächen erkennbar, zwischen Hoffnung und Skepsis. Im Kontext der Reportage wird die Tätigkeit der griechisch-katholischen Caritas für „Menschen am Rande“ geschildert; zu Wort kommt dabei auch eine Mitarbeiterin, die sich für Opfer von Menschenhandel einsetzt. Zum Themenfeld „Migration und Binnenmigration“ äußert sich Pablo Mateu, Leiter der Vertretung des Hohen Flüchtlingskommissars der UN für Flüchtlingsfragen (UNHCR). Ein ausführliches Gespräch zwischen Michael Albus und Andrij Waskowycz, dem Präsidenten der griechisch-katholischen Caritas der Ukraine, über die Perspektiven der Ukraine und ein Interview mit Valentyn Bebik, der in der Ostukraine bei der Wiederherstellung einer funktionierenden Wasserversorgung tätig ist, runden das Heft ab.

Der Printausgabe des Heftes liegt auch das Gesamtjahresverzeichnis für 2019 bei.

Ein Ausblick auf Heft 1/2020, das im kommenden Februar erscheinen wird: Als weiteres Heft der kleinen kulturhistorischen Reihe wird sich das Heft mit Klöstern in Mittel- und Osteuropa befassen. Neben einem Einführungsbeitrag über das monastische Leben in ost- und westkirchlicher Tradition werden einige bedeutende Beispiele vorgestellt, darunter u. a. Pannonhalma in Ungarn, Rila in Bulgarien und Sergijew Posad in Russland.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

242
Staatlichkeit, Pluralität und die Autokephalie der Orthodoxie in der Ukraine. Historische Implikationen
Katrin Boeckh
250
„Die Existenz der Ukraine ist eine Gefahr für Russland“. Ein Gespräch mit Oksana Syroiid
Michael Albus
252
Der innerorthodoxe Streit in der Ukraine
Thomas Bremer
260
Zwischen zwei kanonischen Kirchen – Gläubige auf der Suche nach einem Miteinander im Alltag
Lidija Losowa und Darja Morosowa
268
Nach dem Tomos. Überlegungen aus griechisch-katholischer Sicht
Anatolii Babynskyi
274
Die ukrainische kirchliche Autokephalie: Verzweiflung, Hoffnungen und Perspektiven
Andrij Baumeister
281
„Wo der Mensch den Krieg zu lieben beginnt, wird er zur Geisel des Krieges.“ Ein Gespräch mit Andrij Selinskyj SJ
Michael Albus
284
Die Ukraine fünf Jahre nach dem Majdan. Ein Land im Frieden? (Reportage)
Michael Albus
293
„Eine sichere Prognose gibt es nicht.“ Ein Gespräch mit Pablo Mateu
Michael Albus
296
„Die Zukunft ist ungewiss. Wir wissen nicht, wohin es gehen wird.“ Ein Gespräch mit Andrij Waskowycz
Michael Albus
303
„Wasser ist Leben.“ Ein Gespräch mit Valentyn Bebik
Michael Albus

Summary in English

Five years after the „Revolution of Dignity“ that brought Ukraine into the light of world public, the situation in the country is still very difficult. Overall, while civil society development is progressing, mismanagement and corruption remain widespread. The military conflict with Russia has not been resolved to this day; In addition, the establishment of a new Orthodox Church in Ukraine in early 2019 did not bring about the hoped-for unity among the Orthodox Christians of the country, but caused new divisions within society. The articles in this issue provide analyzes on the political and religious situation in Ukraine and convey an atmospheric picture of late summer 2019 based on a reportage and several interviews.