Vielspurig zum Himmel – Kirchen in Rumänien

aus OWEP 3/2002  •  von Johannes Toaspern

Johannes Toaspern, evangelischer Pfarrer in Leipzig, engagiert sich seit 1982 im evangelisch-orthodoxen Dialog, besonders im deutsch-rumänischen Jugendaustausch.

Rumänien ist ein christliches Land. Rund 98 % der ca. 22 Millionen rumänischen Staatsbürger bekennen sich laut der letzten Volkszählung zu einer christlichen Kirche. In der kirchlichen Situation spiegelt sich die ethnische Situation des Landes: Im Großen und Ganzen kann man die Mitglieder der unterschiedlichen Kirchen bestimmten Bevölkerungsgruppen (Rumänen, Ungarn, Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben, Roma) zuordnen, wobei es inzwischen immer mehr Überschneidungen gibt.

Die Rumänisch-orthodoxe Kirche

Die größte der christlichen Kirchen ist die Rumänisch-orthodoxe Kirche, der 1992 ca. 86 % der Bevölkerung angehörten. Sie führt ihre Anfänge auf die ersten drei nachchristlichen Jahrhunderte zurück, eine Zeit, als das heutige Rumänien als Dacien Teil des Römischen Reiches war. Die spätere Christianisierung vollzog sich von Griechenland und Bulgarien her und stand auch kulturell in enger Beziehung zur Mission der Mönche Kyrill und Method. So wurde die Ausprägung rumänischer Kirchlichkeit „orthodox“ und durch die slawische Sprache geprägt. Eine Reihe von slawischen Wörtern im heutigen Sprachgebrauch bezeugt das: duh-Geist, slujba-Gottesdienst; taina-Sakrament; vladica-die (Herrscher)-Anrede für den Bischof.

Für die heutige ökumenische Situation ist es deshalb interessant, mit der Rumänisch-orthodoxen Kirche eine Kirche „zwischen den Welten“ zu haben: Sie ist einerseits Teil der orthodoxen „Weltfamilie“, d.h. in ökumenischen Gremien Vertreterin der Orthodoxie; andererseits besitzt sie durch die lateinische Tradition der Sprache und Kultur ein ausgeprägtes Vermögen, sich in westliche Denkformen hinein zu begeben. Ihr kommt somit im interkonfessionellen Gespräch herausragende Bedeutung zu. Die Rumänisch-orthodoxe Kirche von heute ist eine autokephale Kirche mit einem Patriarchen an der Spitze (seit 1925). Sie wird von einem Gremium von Geistlichen und Laien geleitet, dem Heiligen Synod. In 30 Bistümern gibt es ca. 13.600 „Kircheneinheiten“, also Kirchengemeinden, Klöster und Einsiedeleien, die von 11.100 Priestern und Diakonen betreut werden. Im Gottesdienst wird die moderne Landessprache, Rumänisch, verwendet. Wie jede orthodoxe Kirche versteht sich auch die Rumänisch-orthodoxe Kirche als Nationalkirche, d.h. als zutiefst und untrennbar verflochten mit dem rumänischen Volk und als dessen angemessene Glaubensäußerung. Durch viele kriegerische Jahrhunderte hindurch war sie tatsächlich auch die einzige Identität stiftende Institution des rumänischen Volkes. Es fällt ihr deshalb sehr schwer, die Pluralisierung des kirchlichen Lebens in der rumänischen Gesellschaft von heute positiv zu bewerten.

Mitten in einer rumänischen Großstadt liegt ein altes orthodoxes Kloster. Es hat sich zur Aufgabe gesetzt, durch einen Radiosender, einen Verlag und durch anziehende Gottesdienste den orthodoxen Glauben in der Stadt und im Umland missionarisch zu verbreiten. Mit einer Besuchergruppe stieg ich die Stufen des Glockenturms hinauf. Uns begleitete der Abt des Klosters. Oben genossen wir den herrlichen Rundblick über die Altstadt und die Neubaugebiete hinweg weit in die bergige Umgebung. Keine 200 Meter vom Kloster entfernt dominierte ein sehr großer Kirchen-Neubau das städtische Quartier, langschiffig, turmlos und mit rhythmischer Spitzbogenfensterfassade. Meine Frage an den Abt, zu wem dieses Kirchengebäude gehöre, beantwortete dieser mit einem Schulterzucken: Er wisse es nicht. Es war eine Pfingstkirche.

Die Auffächerung der Gesellschaft geht auch im kirchlichen Bereich weiter, sodass sich nicht nur die traditionellen Kirchen der anderen Volksgruppen gegenüberstehen, sondern zunehmend auch Kirchen und kirchennahe Organisationen aus der ganzen Welt. Darauf konstruktiv zu reagieren im Sinne inhaltlicher Auseinandersetzung und lokaler Zusammenarbeit, liegt als Aufgabe vor der Rumänisch-orthodoxen Kirche. Sie versucht zögernd, sich neben ihrem ureigenen reichen Schatz an liturgischem Leben auch um Formen und Inhalte zu bemühen, die etwa dem Lebensgefühl von Jugendlichen entsprechen. Der orthodoxe Radiosender „trinitas“ im Kloster Golia in Iaşi versucht das exemplarisch mit moderner Jugendmusik.

Besuch in einer bedeutenden Wallfahrtskirche in der Bukowina im Nordosten Rumäniens: Unsere evangelische Jugendgruppe hat sich längst wieder in den Schatten vor der orthodoxen Kirche verzogen. Ich bin noch in der Kirche und komme mit dem Priester ins Gespräch. Sehr bald kommen wir auf kirchliche Jugendarbeit zu sprechen. Er beklagt den freien Zugang zu den westlichen Medien, die auch viel Schmutz in die Gedankenwelt von Kindern und Jugendlichen bringen. Darauf sei die orthodoxe Kirche noch nicht eingestellt. Ich erzähle etwas von unseren Erfahrungen und verabschiede mich. Ich bin schon weit vor der Kirchentür, da läuft der Priester mir nach und zieht mich am Arm: „Eine Frage noch,“ bittet er fast beschwörend: „Was ist mit der Rockmusik? Die Jugend will Rockmusik, und die Rockmusik ist doch vom Teufel. Wie macht Ihr das?“

Insgesamt jedoch ist seit der „Revolution“ oder „Wende“ 1989/90 ein Erstarken des kirchlichen Lebens zu beobachten. Allenthalben sind neue orthodoxe Kirchen errichtet worden, insgesamt mehr als 400.

In der Maramureş stehen kleine orthodoxe Holzkirchen aus dem 17. und 18. Jahrhundert, innen komplett ausgemalt. Sie befinden sich – wie ihre viel bekannteren Schwestern, die moldauischen Klosterkirchen – unter dem Schutz der UNESCO.

Die deutschen Besucher fahren durch eines der vielen langgestreckten Dörfer dieses schönen Landstrichs und erwarten hinter jeder Biegung eine der berühmten nadelfeinen Kirchturmspitzen. Doch ihr Erstaunen ist groß, als statt des erwarteten filigranen Kirchleins ein monumentaler Kirchenneubau in ihr Gesichtsfeld tritt, eine Kathedrale aus Beton. Kaum haben sie sich an den Anblick gewöhnt, entdecken sie auch die historische Holzkirche – ein Zwerg neben dem Betonbau.

Sie lassen sich vom Pfarrer die alte Kirche zeigen: Sie ist innen vollständig mit biblischen Szenen ausgemalt. Durch die vielen Jahrhunderte sind die Malereien manchmal verblichen und geschwärzt, an anderen Stellen hat sie der durchsickernde Regen fast unkenntlich gemacht. Vielfach ist die Sicht aber auch durch bestickte Tücher verdeckt, an denen Bräute vor ihrer Hochzeit einen ganzen Winter lang gestickt haben. Der orthodoxe Pfarrer, ein kunstsinniger Mann, ist ganz stolz auf seine kleine Holzkirche, stolzer ist er jedoch auf sein Lebenswerk, den Neubau, in den er die Gruppe einlädt. Noch vollständig Baustelle, ist der Innenraum bis unter die Decke eingerüstet. Ikonenmaler sind dabei, die Wände und Decken auszumalen. Apostel schimmern durch die Gerüstbalken, farbig leuchtende Märtyrer vergießen zwischen den Fenstern ihr Blut für den christlichen Glauben, asketische Heilige mahnen ruhig.

Die Gäste können das alles nicht ganz glauben: „Für wen bauen Sie eine solch riesige Kirche in so einem kleinen Ort?“ Der Pfarrer sagt lächelnd: „Auf Hoffnung.“ Und wiederholt es noch einmal: „Auf Hoffnung“. Die kleine Kirche fristet nur noch als Museum ihr Leben. Sie war tatsächlich zu klein geworden. Doch so eine riesige, Macht demonstrierende neue Kirche? Verstanden haben die Besucher das Prinzip Hoffnung des Pfarrers nicht ganz, zumal wenn sie angesichts der Armut der Menschen an die gewaltigen Folgekosten der Kirche dachten, beeindruckt waren sie jedoch auf jeden Fall.*

Seit 1990 wurden 25 neue Klöster eröffnet, eine ganze Reihe von theologischen Fakultäten neu- oder wiedergegründet und ganze Ausbildungsgänge neu geschaffen. Religionsunterricht an allen Schultypen, Krankenhaus- und Militärseelsorge wurden aufgebaut, ebenso die gemeindenahe Diakonie, was jedoch nicht immer dauerhaft gelang. In den Nachwendejahren unterstützten 2.300 Laienkatechetinnen und -katecheten die Priester beim Religionsunterricht. Inzwischen bringen die entsprechenden neu eingerichteten Ausbildungsstätten für Diakonie und Religionspädagogik qualifizierten Nachwuchs hervor.

Eine wichtige Rolle spielten und spielen in der Rumänisch-orthodoxen Kirche die Klöster. In 530 Klöstern leben derzeit ca. 7.500 Nonnen und Mönche. Sie trugen viele Jahrhunderte lang zur kirchlichen und kulturellen Identität der Rumänen bei und sind immer auch Kristallisationspunkt der orthodoxen Frömmigkeit gewesen: Wallfahrtsort und vor allem Bet- und Seelsorgezentrum für jeweils einen weiten Umkreis.

Im Kloster Neamţ, einem Identitätsort rumänischen Selbstbewusstseins, versperrt im Klosterhof eine Steinplatte den Besuchern den Weg. Sie ist mit einem niedrigen Gitter umgeben, und der Mönch übersetzt den staunenden Besuchern, was auf ihr eingemeißelt ist. Es heißt dort etwa: „Hier ruht ein unbekannter Heiliger, den die Erde 1984 hergab.“ Was war geschehen? In jenem strengen Winter wölbte sich der Boden des gepflasterten Weges auf. Die Mönche hielten es für einen Frostaufbruch, entfernten das Pflaster und ebneten den Weg wieder ein. Allein, in der folgenden Nacht ereignete sich dasselbe. Und wieder wurde eingeebnet. Zum Morgengottesdienst des dritten Tages erstaunten die Mönche: Wieder war der Weg zum Hügel geworden. Klar war ihnen nun, dass dieses Ereignis als Zeichen genommen werden musste: Man begann zu graben und stieß auf die Gebeine eines dort begrabenen Menschen. Dieser Unbekannte musste ein Heiliger sein, da er mit diesem übernatürlichen Zeichen auf sich aufmerksam machte.

Mitten im dunkelsten Zeitalter der Unterdrückung durch das kommunistische Regime wurde der unbekannte Heilige in die Klosterkirche überführt. Lange hatten sich die Mönche mit dem Vorwurf der Staatsmacht auseinander zu setzen, mit dem Fund und der Verehrung des unbekannten Heiligen die staatliche Autorität zu unterlaufen. Die Mönche nahmen es als Zeichen der Ermutigung in schwerer Zeit. Die Bevölkerung auch. Heute sitzt ein alter Mönch neben dem prächtig geschmückten Sarg des unbekannten Heiligen und nimmt Spenden für erbetene Fürbitte des Heiligen entgegen.

Wenn ein Kloster sein Stiftungsfest feiert (z.B. Mariä Entschlafung am 15. August), werden größere Klöster nicht selten von 20.000 und mehr Menschen besucht. Die Ausstrahlungskraft eines Klosters, seiner Mönche und Nonnen kann kaum überschätzt werden, vor allem, wenn sich unter ihnen sog. „Starzen“ befinden, Männer mit einer besonderen Gabe, geistliche Lehrer und Seelsorger zu sein.

Man hat extra ein breites und tiefes Schleppdach vor seine einfache Zelle gebaut. Etwa siebzig Menschen können ihm so selbst bei sengender Hitze oder strömendem Regen zuhören: „Vater, sag uns etwas über das ewige Leben!“ „Vater, was ist es mit dem Fasten?“ „Vater, warum ist die Sünde in der Welt?“ Auf der einfachen Holzbalustrade werden Kassettentonbandgeräte zur Aufnahme abgesetzt, und alles lauscht auf die Worte eines sehr alten Mönches, der unter dem Vordach sitzt, in seinen Händen eine schwarze Kordel mit vielen Knoten, die er Knoten für Knoten unaufhaltsam und gleichsam automatisch entlang tastet. Die Rede ist von Vater Ilie Cleopa, einem 1912 geborenen Starzen, einem „lebenden Heiligen“ in der Mitte der neunziger Jahre im Kloster Sihistria. Seine Zuhörer strömen ihm aus dem ganzen Lande zu, seine Erkenntnisse und Worte fallen auf Seelen, die nach Halt suchen in einer unüberschaubaren Welt. Atemlos verfolgt man, was er sagt, man bleibt noch sehr viel länger, als die Kassetten aufnehmen können. Inzwischen ist Vater Cleopa gestorben. Seine geistlichen Gedanken wurden gesammelt veröffentlicht und werden von den Menschen im Land gern gekauft, ebenso farbige Bilder von ihm.

Römisch-katholische und Griechisch-katholische Kirche

Die zweitgrößte Kirche Siebenbürgens stellt die katholische Kirche in ihren zwei Zweigen dar, der Römisch-katholischen und der griechisch-katholischen Kirche.

Die Römisch-katholische Kirche mit zwei Erzbistümern und vier Bistümern hat ihre Verwurzelung in den nationalen Minderheiten der Ungarn und Deutschen (hier vor allem die Banater Schwaben und Landler Siebenbürgens), d.h. ihren Ursprung nahm sie mit der Einwanderung westlicher Siedler in das heutige Staatsgebiet Rumäniens. Ihr auf Weltkirchentum ausgerichtetes Kirchenverständnis lässt sie die verschiedenen Sprachen und Traditionen zusammen sehen und nehmen.

Römisch-katholische Osternacht in Sibiu/Hermannstadt in Siebenbürgen: Den Beginn, das „Exultate“, kann ich als evangelischer Pfarrer im Geist mitsingen: wir singen in unserer Osternacht denselben Hymnus. Daran erkenne ich die gemeinsame Vergangenheit. Der weitere Verlauf der Zeremonie und Messe in Hermannstadt wird zu einem beeindruckenden Gottesdienst. Beeindruckend auch: Es wird in vier Sprachen gefeiert, immer im Wechsel: Lateinisch, Deutsch, Ungarisch und Rumänisch. Gegen Ende überwiegt das Ungarische. Die Gemeinde antwortet in allen vier Sprachen: Lebenswirklichkeit in einem multiethnischen Gemeinwesen. Jüngere Menschen in der Kirche sind allerdings nur noch Ungarn und Rumänen. Die Deutschen sind ausgewandert.

Ein Spiegelbild tragischer Geschichtsabläufe stellt die Existenz der heutigen Griechisch-katholischen Kirche dar. Ihr Dasein begann, als Gebiete des heutigen Siebenbürgens, Moldawiens, der Bukowina, der Maramureş und Bessarabiens, also Gebiete mit einer Mischbevölkerung, 1687 unter habsburgische Herrschaft kamen. Wien drängte die dort lebende orthodoxe Bevölkerung zur Unterordnung unter die päpstliche Jurisdiktion, allerdings unter Beibehaltung der gewohnten byzantinischen Riten. Die auf diese Weise entstandene Kirche nennt man auch die (mit Rom) „Unierte Kirche“, ihre Mitglieder „Unierte“ oder „Uniaten“. Diese Kirche bestand in Rumänien bis 1948. In diesem Jahr begannen die rumänischen Stalinisten – neben der Verfolgung der Orthodoxie – ein Kesseltreiben gegen die „Uniaten“: die Bischöfe wurden umgebracht, die Pfarrer mit schwersten Repressalien bedroht. Die meisten wählten den Weg in die Rumänisch-orthodoxe Kirche, die diese „Rückkehr“ mit großem öffentlichen Aufwand zelebrierte. Die Griechisch-Katholische Kirche wurde vollständig verboten, ihr (Grund )Eigentum beschlagnahmt, verstaatlicht oder der orthodoxen Kirche übertragen. Trotzdem blieb sie in den folgenden Jahrzehnten im Untergrund weiter bestehen und wurde unmittelbar nach dem Sturz Ceauşescus wieder legalisiert. Seither beschäftigen harte und mitunter handgreifliche Auseinandersetzungen die betroffenen Gemeinden und Gebiete, vor allem, was den Besitz und Gebrauch von Kirchen und Pfarrhäusern angeht. Auch die Verhandlungen auf kirchenleitender Ebene ziehen sich zäh und bisher ohne abschließendes Ergebnis hin.

Für den Außenstehenden ergibt sich als fast einzige Unterscheidung zu den Orthodoxen die Tatsache, dass die Unierten statt des slawischen Wortes für den Heiligen Geist „Duh“ das lateinische Wort „Spirit“ verwenden. Das weist auch auf ihre Bestrebung hin, eine rumänische Nationalidentität zu schaffen, die sie neben der Sprache auch aus einer – wie sie meinen – seit alters her nie abgerissenen kirchlichen Verbindung zu Rom herleiten wollen. Dieser Gedanke aber ist in der rumänischen Identität nicht verankert. Anders als z.B. in der Ukraine hat es deshalb nach 1990 auch keine Massenbewegung aus der orthodoxen in die Griechisch-katholische Kirche „zurück“ gegeben.

Heute gliedert sich die Griechisch-katholische Kirche in eine Metropolie und fünf Bistümer, vor allem im Gebiet der Maramureş und Nordsiebenbürgens. Ihre Mitglieder sind in der Regel Rumänen.

Evangelische Kirchen

Den evangelischen Kirchen gehören heute etwa 850.000 Menschen an, davon 800.000 der Ungarisch-reformierten Kirche, 37.000 der Ungarisch-lutherischen Kirche und etwa 15.000 der Lutherischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses (der Siebenbürger Sachsen) in Siebenbürgen. Neunundneunzig Prozent aller evangelischen Menschen in Rumänien leben in Siebenbürgen. Da Siebenbürgen als Ganzes erst nach 1918 zu Rumänien kam, ergab und ergibt sich nicht nur eine religiös herausfordernde Situation, sondern eine eben immer auch politisch intendierte Konkurrenzsituation der Volksgruppen. So löste z.B. die Auseinandersetzung zwischen dem ungarisch-reformierten Pfarrer Tökes und der rumänischen Staatsmacht den blutigen Aufstand gegen den Diktator Ceauşescu im Dezember 1989 aus. Für die Minderheiten der Ungarn und Deutschen in Rumänien bildeten die Kirchen über Jahrzehnte hinweg einen Ort der Identifikation und der Pflege halbwegs unzensierter Traditionen.

Die ca. 800.000 Mitglieder der Reformierten als der drittstärksten Kirche in Rumänien sind ungarischer Nationalität. Die Kirche ist in zwei Distrikte gegliedert, wovon jeder seine eigene Tradition aus der Geschichte mitbringt, die Siebenbürger mit Zentrum Cluj/Kolozsvár/Klausenburg seit 1564 und die vorher zu Ungarn gehörenden Reformierten mit dem Zentrum Oradea/Nagyvarád/Großwardein seit ca. 1920. Ihre eigene Stärke sowie ihr intensiver Kontakt zu den anderen reformierten Kirchen Europas hat sie schon unter der kommunistischen Diktatur ein weitaus größeres Maß an Gemeindearbeit und -bildung betreiben lassen, als es die orthodoxe Kirche wagte. Ihre 16 Gymnasien und mehr als 500 Grundschulen, die durch das kommunistische Regime enteignet wurden, sind bis heute nicht zurückgegeben worden. In Cluj wurden ein Gymnasium und eine Diakonie-Schule neu eingerichtet. Als Minderheit haben die Ungarn sehr gegen nationalistische Tendenzen in der rumänischen Öffentlichkeit zu kämpfen.

Die Zahl von heute nur noch ca. 15.000 (1918: 300.000) Mitgliedern macht die extreme Diasporasituation der einst großen Volksgruppe der Siebenbürger Sachsen deutlich. Deren Geschichte reicht 800 Jahre zurück, als deutsche Kolonisten auf den Ruf des ungarischen Königs das Gebiet innerhalb des Karpatenbogens besiedelten. Sie sollten als verteidigungsfähige Volksgruppe einen Riegel gegen Einfälle aus dem Südosten bilden. Durch den Lauf der Jahrhunderte hindurch hielten die Siebenbürger engste kulturelle Beziehungen zum Mutterland, sodass Siebenbürgen bei aller politischen Fremdbestimmtheit immer ein autonomes Gebiet mit eigener Gesetzlichkeit, eigenem Stolz und eigener Identität blieb. Im Gefolge der Reformation in Deutschland bildete sich dann die Evangelisch-Lutherische Kirche Siebenbürgens. Durch die Folgen des Zweiten Weltkriegs (Deportation nach Russland, Aussiedlung nach Deutschland) verlor die siebenbürgische (deutsche) Lutherische Kirche einen Großteil ihrer Menschen. Als der Diktator Ceauşescu in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann, ausreisewillige Menschen nach Westdeutschland zu verkaufen, begann ein Aderlass, der nach 800 Jahren das Zerbrechen der einst blühenden Gemeinschaft der Siebenbürger Sachsen einleitete. Nach Öffnung der Grenzen 1990 zog dann der weitaus größte Teil der Siebenbürger Sachsen nach Deutschland, sodass heute nur noch wenige, meist alte Menschen deutscher Abstammung in Siebenbürgen leben.

Evangelischer Gottesdienst in einer siebenbürgisch-sächsischen Kirchenburg Ende der neunziger Jahre. Er ist eben zu Ende. Drei ältere Frauen verlassen behäbigen Schrittes die Kirche, steigen vorsichtig die steilen Stufen zur Straße hinunter und werden Teil der Kulisse, die sich hier wie allenthalben im sächsischen Siebenbürgen bietet: Mit den Giebeln zur Straße stehen große Bauernanwesen dicht an dicht, Zeugnis einer einstmals selbstbewussten, autarken und fest verankerten Kultur deutscher Besiedlung durch acht Jahrhunderte. Die meisten Fensterläden sind heute jedoch geschlossen und auf Dauer verriegelt, ihre Besitzer sind in den letzten zehn Jahren ausgewandert, „hoch, in’s Reich“. Einige Anwesen verfallen sichtbar, aus anderen schauen interessiert Kinder von Roma-(Zigeuner-)Familien hervor.

Als deutsche Gäste sind wir froh, einen alten Herrn zu treffen, der gerade aus dem Gottesdienst kommt und sich nach einem Plausch mit dem aus der Großstadt angereisten Pfarrer anschickt, in das Dorf zu gehen. Er ist in seine siebenbürgische Tracht gewandet: Weißes Leder mit reichem gestickten Schmuck. „Wie viele Sachsen (Deutsche) sind Sie hier noch?“ fragen wir. „Vier Weiber“ antwortet er in seinem schweren Siebenbürger Deutsch. – „??? – und Sie?“ – „Ich muss am Mittwoch wieder arbeiten – in Ludwigshafen. Da kommt die Tracht wieder in den Kasten, für ein Jahr.“

Eine ausgeprägte Diakonie arbeitet inzwischen recht effektiv, und eine eigene theologische Ausbildungsstätte bildet heute noch aus – doch werden sich Evangelisch-lutherische Gemeinden zukünftig wohl nur noch in den Städten halten. Organisierte Kriminalität plündert inzwischen systematisch die verlassenen Kirchen, unbewachten Kirchenburgen und Pfarrhäuser der Sachsen auf dem Lande. Die Frage nach evangelischer Identität in orthodoxem Umfeld stellt sich mit zunehmender Dringlichkeit.

Taufe in einer Evangelisch-lutherischen Kirche in Nordsiebenbürgen: Der deutsche (siebenbürgisch-sächsische) Pfarrer der Kleinstadt zelebriert im schwarzen Talar mit silbernen Schnallen. Die Besuchergruppe aus Deutschland versteht wider Erwarten fast nichts, denn es wird vor allem rumänisch geredet: Gebete, Predigt – allein die Taufzeremonie selbst auf Deutsch. Schon zwanzig Jahre zuvor hatte der Pfarrer seinen deutschen Gästen erklärt: Wir haben uns für das zukünftige Überleben als Kirche zu entscheiden, ob wir vor allem deutsch oder vor allem evangelisch sein wollen. „Vor allem deutsch“ führe in die Sackgasse. Damals waren seine Ansichten auf taube Ohren gestoßen. Heute ist es zu spät: Durch die fast vollständige Abwanderung der Deutschstämmigen gibt fast keine auf Zukunft ausgerichtete Evangelisch-lutherische Kirche in Siebenbürgen mehr.

Im hohen Norden des Landes betreut ein siebenbürgisch-sächsischer Pfarrer viele Kleinstgemeinden, die von einer Anfang des 19. Jh. aus Österreich eingewanderten Volksgruppe von Bergarbeitern übrig geblieben sind. Wer nicht „ins Reich“ (nach Deutschland) ausgewandert ist, versucht hier seine Identität zu wahren. In manch kleine und schlichte Holzkirche kommt der Pfarrer nur einmal im Halbjahr zum Gottesdienst. An einem Julitag jedoch ist eine von ihnen bis auf den letzten Platz gefüllt. Alle evangelischen Christen des Buchenlandes (rumänisch: Bukowina) sind zu einem Gemeindetag eingeladen. Dicht an dicht sitzen sie auf den lehnenlosen Holzbänken und singen die Lieder „Lobe den Herrn“ und „Du meine Seele singe“ in sehr getragener Weise. Vorn in der Bank sitzen tiefschwarze Gestalten. Sie sitzen aufrecht und stolz. Beim anschließenden Gemeindefest kommen die deutschen Gäste mit dem Pfarrer ins Gespräch: „Wie kommen Zigeuner in Ihren Gottesdienst?“ fragen sie. Er lacht und erklärt uns, dass die Roma hier sogar Kirchväter, also Gemeindeälteste, Presbyter seien. Es gilt: Wer sich ihnen, den verachtetsten Menschen der rumänischen Gesellschaft, zuwendet, dem wenden sie sich zu. Wer ihr Vertrauen erworben hat und ihren Glauben lebendig sein lässt, hat es mit unbedingt zuverlässigen Menschen zu tun. Es habe lange gedauert, sagte der Pfarrer, bis die Menschen in der Kirchengemeinde auch „die Zigeuner“ in ihren Gemeinden mitbestimmen ließen. Die Roma (ihre Zahl in Rumänien wird zwischen zwei und vier Millionen geschätzt) passen sich mit ihrer Konfession meist ihrer direkten Umgebung an.

Einen immer breiteren Raum in der kirchlichen Landschaft Rumäniens nehmen inzwischen die „neuprotestantischen“ Frei- und Pfingstkirchen ein. Bereits in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren diese Kirchen missionarisch unter Rumänen, Ungarn und vor allem Roma aktiv. Ihre klare Sprache in politischen und Bekenntnis-Fragen machte sie für Menschen attraktiv, die einen Gegenentwurf zur angepassten Kirchenwirklichkeit der orthodoxen Kirche suchten. Nicht zuletzt die enge Bindung an ihre Mutterkirchen, vorwiegend in den USA, ließ sie anziehend erscheinen, auch nach der Revolution, als sie mit Hilfe ausländischer Mittel in großem Stil die Medien besetzen konnten. Allerdings zeigt sich der oft unreflektierte Import westlicher Lebensart auch mit Problemen behaftet, sodass der missionarische Impuls mitunter an der Mentalitätsgrenze rumänischer Menschen scheitert. Die Pfingstkirchen wachsen jedoch ungebrochen, weil sie versuchen, auf moderne Art Antwort auf brennende Lebensfragen zu geben. Das ist in der kirchlichen Landschaft meist konkurrenzlos, denn innerhalb der orthodoxen Kirche gibt es noch kein breit verankertes Gesprächsangebot. Auch unterhalten diese Kirchen große, meist vom Ausland hoch subventionierte Sozialwerke.

Ökumene in Rumänien?

Diese in groben Zügen skizzierte kirchliche Situation in Rumänien macht schon deutlich, dass allein das Nebeneinander der Kirchen sehr vielschichtig ist, mit historischen Erfahrungen emotionalen Befindlichkeiten verbunden. Ein Zusammenkommen aller in Rumänien vertretenen Konfessionen im Sinne einer zielgerichteten ökumenischen Zusammenarbeit ist derzeit nicht zu beobachten. Diese wurde paradoxerweise in den Jahrzehnten des Kommunismus staatlich verordnet und in jährlichen Tagungen durchgeführt. Mit dem kommunistischen Regime war jedoch auch die regelmäßige ökumenische Konsultation der Kirchen zu Ende.

Ökumene wird in Rumänien, wenn überhaupt, nur lokal gelebt oder punktuell veranstaltet. Einzelne Protagonisten des ökumenischen Gedankens auf allen Seiten nehmen die wenigen Gelegenheiten wahr, gemeinsame Projekte zu entwickeln, so zum Beispiel die Liturgie des Weltgebetstages 2002. Gegenwärtig haben alle Kirchen so sehr mit sich selbst und mit den Problemen zu tun, sich unter den neuen politischen und vor allem ökonomischen Bedingungen zurechtzufinden, dass eine breit verankerte Ökumene im Land noch in weiter Ferne scheint.

Andererseits ist die Rumänisch-orthodoxe Kirche aus den eingangs beschriebenen Gründen in der Lage und willens, sich einer konstruktiven ökumenischen Zusammenarbeit im europäischen und Weltmaßstab zu stellen, wie sie keine andere orthodoxe Kirche derzeit zu praktizieren in der Lage ist. Sie spielt auf ihre Weise eine wichtige Rolle in dem Prozess der Annäherung Rumäniens an die Europäische Union.