1930: Stalin – unbeschränkter „Führer“ der Sowjetunion

aus OWEP 4/2017  •  von Gerhard Simon

Prof. em. Dr. Gerhard Simon: 1991 - 2000 Leitender Wissenschaftlicher Direktor im Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien in Köln.

Der Kampf um die Nachfolge Lenins begann lange vor dessen Tod, der aufgrund seiner schweren Erkrankung spätestens seit Frühjahr 1923 absehbar war. Leo Trotzki, der Sieger im Bürgerkrieg und intellektuell überlegene rhetorische Feuerkopf, galt in der Partei und vor allem in seiner arroganten Selbsteinschätzung zunächst als der aussichtsreichste Anwärter auf die Führung. Es gelang jedoch Josef Stalin, in einem jahrelangen, taktisch klug geführten Kampf um die Nachfolge nacheinander alle anderen Prätendenten auszumanövrieren und am Ende den Sieg davonzutragen. Die Kampfarena waren insbesondere die Führungsgremien der Partei (Politbüro, Zentralkomitee, Parteitag). Stalin sammelte immer wieder Punkte durch den Appell an die Parteibasis gegen seine Widersacher in der Führung. Die Sowjetorgane oder gar die Gesellschaft insgesamt spielten im Nachfolgekampf keine Rolle. Die mit großer Schärfe ausgetragenen Konflikte in den Parteigremien wurden nur scheinbar um Sachfragen geführt; tatsächlich ging es um Personen. Stalin erwies sich als Meister, die Positionen seiner Gegner, nachdem er sie ausgeschaltet hatte, selbst zu übernehmen. Zuerst wurden Trotzki und die so genannte linke Opposition aus den Führungsgremien der Partei entfernt, danach folgte die so genannte rechte Opposition mit Bucharin an der Spitze.

Seit Dezember 1927 (XV. Parteitag) waren die Weichen für die Zukunft gestellt: Stalin würde der neue Lenin sein, sein Programm lautete: Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und Industrialisierung auf Biegen und Brechen im Rahmen des ersten Fünfjahrplans (1928-1932). Damit nahm Stalin lediglich die zu Beginn der 1920er Jahre aus taktischen Gründen unterbrochene radikale Revolutionierung aller Lebensverhältnisse wieder auf. Dieses Programm war in der bolschewistischen Führung Konsens, einschließlich der inzwischen abgedrängten Anwärter auf das Amt des Führers. Meinungsverschiedenheiten bestanden lediglich hinsichtlich des Tempos und der Rigorosität bei der Durchführung im Einzelnen. Insofern gab es keinen scharfen Bruch zwischen der Herrschaft Lenins und Stalins. Erst in den 1930er Jahren liquidierte Stalin dann auch physisch Funktionäre und Mitglieder der kommunistischen Partei. Keiner der Prätendenten im Kampf um die Nachfolge Lenins überlebte das Jahr 1940. Seit seinem 50. Geburtstag (Dezember 1929) ließ sich Stalin als „Führer“ (woschd) feiern.