OWEP 3/2025
Schwerpunkt:
Fluchtpunkt und Abschied
Editorial
„Exil bedeutet das wiederholte Scheitern der Rückkehr“, schreibt die belarussische Philosophin Olga Shparaga in ihrem bewegenden Beitrag für diese Ausgabe. Ihre Worte verweisen auf die existenzielle Tiefe einer Erfahrung, die nicht nur politische, sondern auch persönliche Brüche markiert. Exil ist kein abgeschlossenes Kapitel der Vergangenheit – es ist ein hochaktuelles europäisches Phänomen.
Dieses Heft beleuchtet das Thema Exil in seiner historischen wie gegenwärtigen Dimension. Der Historiker und Migrationsforscher Jochen Oltmer zeichnet die Entwicklung des Begriffs nach und zeigt, wie eng er in Deutschland mit der NS-Zeit und der Erinnerungskultur verknüpft bleibt. Die Autorin Ganna Gnedkova erinnert an ukrainische Lagerliteratur im Nachkriegsdeutschland, Jesuitenpater Antanas Saulaitis berichtet von litauischen Einwanderern in Chicago, und der frühere Zar Simeon II. reflektiert im Interview seine Rückkehr nach Bulgarien, nach Jahrzehnten im Exil.
Gegenwärtige Exilerfahrungen stehen im Zentrum mehrerer Beiträge: Die Journalistin Silvia Stöber schildert eindringlich, wie die Verfolgung Andersdenkender durch autoritäre Staaten bis in die Aufnahmeländer hineinreicht. OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen widmet sich Berlin als Zentrum des russischsprachigen Exils, während sie in einem weiteren Beitrag beschreibt, wie russische IT-Kräfte selbst die Flucht in das autoritäre Usbekistan nicht scheuen. In einem Interview mit der Gründerin des JX-Funds Penelope Winterhager werden die Herausforderungen für den Exiljournalismus beleuchtet. Die Psychotherapeutin Inna Ayarapetyan schildert eindringlich die Auswirkungen der Exilerfahrung auf die psychische Gesundheit. Theologie-Professorin und OWEP-Redaktionsmitglied Regina Elsner zeigt, wie Kirchen im Exil Schutz bieten, denn Exil ist laut Shparaga eine „verwundete Existenz“.
Das Heft macht deutlich: Exil ist mehr als Flucht vor politischer Verfolgung – es ist eine tiefgreifende menschliche Erfahrung, die Menschen und Gesellschaften verändert und herausfordert.
Die Redaktion
Inhaltsverzeichnis
Exil – Ein Begriff im Wandel europäischer Migrationsgeschichte
Jochen Oltmer
Der Begriff „Exil“ findet seine Anfänge in der deutschen Sprache des 16. Jahrhunderts. Bis in die Gegenwart ist er vor allem eng mit der Geschichte von Flucht und Vertreibung von Menschen aus dem nationalsozialistischen „Dritten Reich“ verbunden. Einen intensiven Exildiskurs in der deutschen Gesellschaft mit Blick auf jüngere und jüngste Fluchtbewegungen gibt es dadurch bis heute nicht.
The term “exile” originated in the German language in the 16th century. To this day, it is closely associated with the history of flight and expulsion of people from the National Socialist “Third Reich”. As a result, there has been no intensive discourse on exile in German society with regard to recent and recent refugee movements.
Verfolgt über Ländergrenzen hinweg
Silvia Stöber
Verklagen, ausspionieren, sogar töten – Diktatoren verfolgen seit Jahrzehnten Oppositionelle im Ausland. In jüngerer Vergangenheit verzeichnen Menschenrechtsorganisationen ein zunehmend aggressives Vorgehen autoritärer Staaten über Grenzen hinweg. Verletzt wird dabei auch die staatliche Souveränität der Gastländer wie Deutschland.
Suing, spying, even killing – dictators have been persecuting opposition figures abroad for decades. In recent years, human rights organizations have noted an increasingly aggressive approach by authoritarian states across borders. This also violates the state sovereignty of host countries such as Germany.
Berlin als Hauptstadt des russischsprachigen Exils
Gemma Pörzgen
Berlin gilt als Anziehungspunkt für Exilanten aus Osteuropa. Die unterschiedlichen Wellen russischer Emigration haben die Hauptstadt bereits in früheren Jahrzehnten als Zielort gewählt. Nach der Ausweitung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine kamen verstärkt ukrainische Flüchtlinge und russische Oppositionelle nach Berlin. Kann die Hauptstadt trotz bundesdeutscher Abschottungspolitik, lokaler Wohnungsnot und massiver Sparpolitik ihre Anziehungskraft bewahren?
Berlin is considered a magnet for exiles from Eastern Europe. The various waves of Russian emigration have already chosen the capital as their destination in previous decades. Following the expansion of Russia's war of aggression against Ukraine, Ukrainian refugees and Russian opposition figures have increasingly come to Berlin. Can the capital maintain its appeal despite Germany's isolationist policy, local housing shortages, and massive austerity policy?
Herausforderungen für den Exiljournalismus. Ein Gespräch mit der Geschäftsführerin Penelope Winterhager
Tamina Kutscher
Seit Beginn des russischen Großangriffs gegen die Ukraine im Februar 2022 sind unabhängige Medien in Russland so stark unter Druck geraten, dass die meisten Redaktionen das Land verlassen haben. Eine Entwicklung, die belarussische Medien bereits nach der Niederschlagung der dortigen Proteste gegen Diktator Alexander Lukaschenko 2020/21 durchlebten. Der 2022 gegründete JX Fund mit Sitz in Berlin unterstützt Medien im Exil. Mit der Gründungsgeschäftsführerin Penelope Winterhager sprach in Berlin die Journalistin Tamina Kutscher.
Since the start of Russia's large-scale attack on Ukraine in February 2022, independent media in Russia have come under such intense pressure that most editorial offices have left the country. This is a development that Belarusian media already experienced after the crackdown on protests against dictator Alexander Lukashenko in 2020/21. The JX Fund, founded in 2022 and based in Berlin, supports media in exile. Journalist Tamina Kutscher spoke with founding director Penelope Winterhager in Berlin.
Pfeilstorch oder Exil als verwundete Existenz
Olga Shparaga
Die Exilerfahrung ist kaum vorhersehbar und von ständigen Veränderungen geprägt. Die Herausforderung ist, ein neues Leben an einem neuen Ort zu beginnen. Die Rückkehr nach Belarus ist für lange Zeit unmöglich geworden. Ein Erfahrungsbericht.
The experience of exile is hardly predictable and characterized by constant change. The challenge is to start a new life in a new place. Returning to Belarus has become impossible for a long time. A personal report.
Ukrainische Lagerliteratur im Nachkriegsdeutschland
Ganna Gnedkova
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges blieben 200.000 Ukrainer in den westlichen Besatzungszonen. Sie waren zuvor Zwangsarbeiter gewesen oder vor der sowjetischen Herrschaft geflohen. Frei von Zensur entstanden in ihren Lagern Werke, die heute zu den Klassikern der ukrainischen Literatur zählen, zudem einige Verlage und Zeitschriften.
After the end of World War II, 200,000 Ukrainians remained in the western occupation zones. They had previously been forced laborers or had fled Soviet rule. Free from censorship, works that are now considered classics of Ukrainian literature were created in their camps, as well as several publishing houses and magazines.
Wie das Exil auf die Psyche wirkt. Ein Gespräch mit der Psychologin Inna Ayarapetyan
Gemma Pörzgen
Die klinische Psychologin Inna Ayarapetyan arbeitet mit russischsprachigen Klienten im Exil, überwiegend Journalisten. Sie verfügt über langjährige Erfahrungen und organisiert in der armenischen Hauptstadt Eriwan ein Therapiezentrum, das online Beratungsangebote anbietet. Die Therapeutin stammt aus der tschetschenischen Hauptstadt Grosny und musste Russland aus Sorge vor einer möglichen Verhaftung verlassen. Mit ihr sprach OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen.
Clinical psychologist Inna Ayarapetyan works with Russian-speaking clients in exile, mainly journalists. She has many years of experience and runs a therapy center in the Armenian capital Yerevan that offers online counseling services. The therapist comes from the Chechen capital Grozny and had to leave Russia for fear of possible arrest. OWEP editor-in-chief Gemma Pörzgen spoke with her.
Kirchen als Schutzort und Begegnungsraum
Regina Elsner
Christliche Kirchen bieten Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, nicht nur einen spirituellen „Hafen“. Sie sind häufig auch Anlaufstationen für praktische Hilfe und Beratung. Einige Gemeinden sind in enger Verbindung zu den Heimatländern und deren Politik, andere üben bewusst Kritik und emanzipieren sich in der Fremde.
Christian churches offer people who have had to leave their homes not only a spiritual “haven”. They are often also places where people can go for practical help and advice. Some parishes maintain close ties to their home countries and their politics, while others consciously voice criticism and emancipate themselves in their new surroundings.
Taschkent als Anziehungspunkt für IT-Leute
Gemma Pörzgen
In die usbekische Hauptstadt Taschkent hat es nach 2022 zahlreiche IT-Leute aus Russland gezogen. Der Wechsel von einem autoritären Staat in den anderen scheint diese Exilgruppe wenig zu stören. Wer online arbeitet, kann leichter übersiedeln als andere Berufsgruppen. Russischkenntnisse reichen im Arbeitsalltag aus.
After 2022, numerous IT professionals from Russia moved to the Uzbek capital of Tashkent. The transition from one authoritarian state to another does not seem to bother this exile group much. Those who work online can relocate more easily than other professional groups. Knowledge of Russian is sufficient for everyday work.
Die Einwanderer aus Litauen in Chicago
Antanas Saulaitis
Von Litauen gingen vor dem Ersten Weltkrieg, während des Zweiten Weltkriegs und in der Zeit der sowjetischen Besatzung drei Migrationsbewegungen Richtung USA aus. Viele Litauer zog es nach Chicago, wo Vertrautes und Neues aufeinandertrafen und sich ihnen große Herausforderungen an ihre Anpassungsbereitschaft und Identitätswahrung stellten.
Before World War I, during World War II, and during the Soviet occupation, three waves of migration from Lithuania headed for the United States. Many Lithuanians were drawn to Chicago, where the familiar and the new collided, presenting them with major challenges in terms of their willingness to adapt and preserve their identity.
Der Bulgare ist von seiner Seele her kein Emigrant. Ein Gespräch mit dem bulgarischen Zaren Simeon II.
Frank Stier
Nach dem Tod des Vaters wird der sechsjährige Simeon von Sachsen-Coburg und Gotha im Jahr 1943 zum Zaren gekrönt. Die Niederlage Bulgariens an der Seite Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg bringt die Kommunisten an die Macht. Die Monarchie wird abgeschafft, und die Zarenfamilie geht ins Exil. Simeon II. studiert in Madrid Politik und Jura, absolviert in den USA eine militärische Ausbildung, arbeitet als Manager und Unternehmensberater. 1996 kehrt er unter dem bürgerlichen Namen Sakskoburggotski nach fast 50-jährigem Exil nach Bulgarien zurück. Er geht in die Politik und regiert das Land von 2001 bis 2005 als Ministerpräsident. Bulgarien-Korrespondent Frank Stier traf den 88-Jährigen zum Interview im Salon seines Schlosses Vrana vor den Toren der Hauptstadt Sofia.
After the death of his father, six-year-old Simeon of Saxe-Coburg and Gotha is crowned tsar in 1943. Bulgaria's defeat alongside Nazi Germany in World War II brings the communists to power. The monarchy is abolished and the tsar's family goes into exile. Simeon II studies politics and law in Madrid, completes military training in the US, and works as a manager and management consultant. In 1996, after almost 50 years in exile, he returned to Bulgaria under his civilian name Sakskoburggotski. He entered politics and ruled the country as prime minister from 2001 to 2005. Bulgaria correspondent Frank Stier met the 88-year-old for an interview in the salon of his Vrana Palace just outside the capital Sofia.
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