Serbiens schrumpfende Dörfer

aus OWEP 4/2025  •  von Thomas Roser

Der Journalist Thomas Roser, geboren 1962 in Traben-Trarbach, studierte Journalistik in Dortmund und Utrecht. Er volontierte anschließend beim „Kölner Stadt-Anzeiger“. Ab 1994 war er Korrespondent deutschsprachiger Zeitungen in den Benelux-Staaten (bis 2001) und in Polen (bis 2006). Er lebt und arbeitet seit 2007 als Balkan-Korrespondent in Belgrad.

Zusammenfassung

Schwinden und verschwinden: Wie auch anderen Balkanstaaten machen dem EU-Anwärter Serbien Abwanderung, Überalterung und Landflucht schwer zu schaffen. Vom allgemeinen Bevölkerungsschwund sind die ländlichen Regionen besonders stark betroffen: Hält der Trend an, könnten bis 2050 nach den Prognosen der Demografen zwei Drittel der bislang noch 4.700 Dörfer des Landes verlassen sein.

Das Sterben der Dörfer

Zumindest das Straßenbauamt hat das stille Dorf Vrgudinac am Fuße des südostserbischen Gebirges Suva Planina nicht vergessen. „Vrgudinac“ weist ein neuer, in der Morgensonne gleißender Wegweiser an der früheren Überlandstraße von der südserbischen Metropole Niš an die bulgarische Grenze scharf nach rechts. Eine mit Schlaglöchern übersäte Straße führt steil den Hügel hinauf, bevor sie sich an einem verwitterten Transformatorenhäuschen in zwei feldwegähnliche Dorfstraßen teilt. Dort pflastern vergilbte Todesanzeigen einen Laternenpfahl direkt neben der Gedenktafel für die Opfer der beiden Weltkriege.

1953 zählte das auf der Gemarkung des ostserbischen Provinzstädtchen Bela Palanka liegende Dorf noch 643 Seelen. Bei der Volkszählung 2022 waren offiziell nur noch 101 Einwohner registriert. „Tatsächlich sind wir viel weniger“, berichtet die Ortsvorsteherin Maja Krstić im Gespräch über das Dorfleben. Die Zahl der ganzjährig im Ort lebenden Mitbürger liege maximal noch bei 50 Personen, sagt sie.

Beim letzten Zensus seien auch die rund 20 Bewohner des kleinen Nachbardorfs Novi Selo mitgezählt worden ebenso wie die ins Ausland abgewanderten früheren Einwohner, die in Vrgudinac noch immer über eine serbische Meldeadresse verfügten. Außerdem seien seit der Volkszählung erneut einige Dorfbewohner gestorben: „Die letzte Geburt liegt hier auch schon wieder sechs, sieben Jahre zurück", so Maja.

Die 50-jährige Schichtarbeiterin ist bei einem tschechischen Automobilzulieferer in der sieben Kilometer entfernten Provinzstadt Bela Palanka beschäftigt. Sie zählt zu den Jüngeren im Dorf. „Die meisten, die hier noch leben, sind bereits in Rente“, erzählt Maja achselzuckend, während sie ihren Gästen selbstgebrannten Mirabellen-Rakija auftischt. „Und Rentner pflanzen sich in der Regel kaum fort.“

Die Natur holt sich die verlassenen Höfe im ostserbischen Dorf Vrgudinac zurück. (Copyright: Thomas Roser)

Einige frühere Dorfbewohner oder deren in Niš, Belgrad oder im Ausland lebende Nachkommen haben ihre einstigen Familienhäuser renoviert, aber sie nutzten sie allenfalls am Wochenende oder gelegentlich in den Ferien. Dass sich ein russischer IT-Nomade mit seiner Familie hier niedergelassen habe, sei eine Ausnahme. Maja findet es trotz allem gut, dass in dem von Leerstand und Verfall geplagten Dorf wenigstens einige Häuser erneuert wurden. Ein nach Kanada ausgewanderter Sohn eines ehemaligen Dorfbewohners habe sogar für den Wiederaufbau der Kirche im Dorf gesorgt. Dennoch sieht Maja keine Trendwende. „Wir werden immer älter und immer weniger.“

Geborstene Lehmwände, klaffende Löcher in eingefallenen Dächern, aus Fensterhöhlen oder über Autowracks wuchernde Sträucher prägen den Gesamteindruck. Die Natur scheint sich die entvölkerten Höfe und verlassenen Anwesen des Dorfes zunehmend zurückzuholen.

Ein weiteres Problem sei, dass sich die in den Großstädten oder im Ausland lebenden Erben selten darüber einig seien, was mit den Häusern ihrer verstorbenen Angehörigen geschehen soll, sagt Majas Schwester Branka. Oft fehlt auch das Interesse. So habe sie die Eigentümer des Nachbarhauses schon seit mehr als 20 Jahren nicht mehr in Vrgudinac gesehen: „Am Ende werden die Häuser nicht einmal zum Verkauf angeboten, sondern einfach dem Verfall überlassen.“ Mit einem vollständigen Verschwinden des Dorfes rechnet Branka zwar nicht: „Aber langfristig könnte Vrgudinac zu einem Wochenenddorf ohne ständig hier lebende Bewohner werden.“

Mit den Menschen verschwindet die Infrastruktur

Das schrumpfende Dorf Vrgudinac ist in Serbien keine Ausnahme. Laut der landesweiten Volkszählung von 2022 zählen bereits 3.000 der noch rund 4.700 Dörfer und Weiler weniger als 500 Einwohner. Gut tausend Dörfer beherbigen weniger als 100 Einwohner und verfügen noch nicht einmal mehr über einen Lebensmittelladen. Die düsteren Voraussagen der Demografen lassen erwarten, dass bis 2050 fast zwei Drittel der serbischen Dörfer verschwinden werden. Schon jetzt zählen rund 100 Dörfer nur noch einen bis drei Einwohner oder sind bereits vollständig verlassen.

Erst schließen die Schulen, dann die Läden, bevor die letzten Buslinien eingestellt oder das Telefonnetz und der Strom abgestellt werden und die Wasserleitungen trocken bleiben: Vor allem in abgelegenen Bergdörfern, die nur noch eine Handvoll betagter Bewohner zählen, sind die Briefträger mit den Rentenzahlungen und gelegentlich vorbeischauende Krankenschwestern der Gesundheitszentren aus der nächsten Provinzstadt oft die letzten verbliebenen Kontakte zur Außenwelt.

Ortsvorsteherin Maja hält es dennoch für ein „Glück“, dass Vrgudinac anders als vergleichbar schrumpfende Dörfer noch immer über regelmäßige Busverbindungen ins nahe Bela Palanka verfüge. Das sei seiner Nähe zur zwei Kilometer entfernten Überlandstraße von Niš nach Dimitrovgrad zu verdanken. Wenn auch die Busse inzwischen deutlich seltener fahren. „Mit dem Bus kann man noch immer zum Arzt, aufs Amt, zum Einkaufen oder zur Post kommen", sagt Maja. Für ihre Arbeit musste sie allerdings den Führerschein machen und sich ein Auto zulegen. "Denn die Zeiten, in denen man von fünf Uhr morgens bis 22 Uhr abends per Bus nach Bela Palanka und zurück gelangen konnte, sind vorbei.“ Schwierig sei zudem, dass auch in der noch rund 7.000 Einwohner zählenden Provinzstadt viele der früheren Fabriken ihre Pforten geschlossen hätten. Auch dadurch schrumpfe die lokale Bevölkerung. „In Bela Palanka gibt es kaum mehr Jobs. Die Leute ziehen nach Belgrad, Novi Sad, Niš - oder gleich ins Ausland.“

Auch anderswo im Dorf ähneln sich die Erzählungen. Bei Grana und Jugoslav Lilić baumeln geflochtene Zwiebelkränze zum Trocknen an der Häuserwand. „Alles selbst produziert“, sagt der 75-jährige Landwirt stolz, während seine Frau zum Wein frisches Brot, Joghurt, Krautsalat, Schafskäse und einen Hackfleischsud reicht. „Urlaub gab es für uns früher nie“, erinnert sich Grana an die Zeiten, in denen ihr Mann noch in der Möbelfabrik in Bela Palanka arbeitete und sie in der Schuhfabrik. „Kurz nach vier Uhr musste ich morgens raus, um die Kannen zu waschen und die Kühe zu melken. Kurz vor sechs fuhr der Bus in die Fabrik. Nachmittags nach der Arbeit gingen wir aufs Feld, oder Jugoslav mähte mit der Sense das Gras für die Kühe auf der Weide.“

Ein arbeitsreiches Leben in einem schrumpfenden Dorf führen die seit 54 Jahren verheirateten Eheleute Grana und Jugoslav Lilic. (Copyright: Thomas Roser)

Leicht sei das Leben im Dorf nie gewesen, erzählt Jugoslav. „Aber wir haben uns mit den 40 Jahren Arbeit in der Fabrik und unserer Landwirtschaft eine kleine Rente und ein Auskommen verschafft.“ Eine der beiden Töchter der seit 54 Jahren verheirateten Eheleute lebt noch immer im Dorf. Grana melkt noch stets jeden Morgen ihre zwei Kühe, und der nach ihrer Hochzeit 1971 angeschaffte Kühlschrank brummt noch immer unbeirrt in der behaglichen Küche. Trotzdem habe sich das Leben in Vrgudinac völlig verändert.

Früher habe er mit Freunden und Bekannten nach Feierabend oft bis zehn Uhr abends auf dem Bolzplatz gekickt, erzählt Jugoslav. „Heute gäbe es dafür gar keine Leute mehr.“ Bekannte, bei denen er mit Grana einfach mal auf einen Kaffee vorbeischauen könne, seien in Vrgudinac rar geworden, berichtet der Serbe schulterzuckend. In seinen Jugendjahren habe jeder der heute zumeist verlassenen Höfe noch mindestens vier, fünf Kühe gehabt. Heute ist in seiner still gewordenen Straße kaum mehr ein Muhen zu hören. „Wo keine Menschen mehr leben, gibt es auch kein Vieh mehr.“

Die Realität vor Ort wird auch gerne ignoriert. In salbungsvollen Sonntagsreden feiern heimische Würdenträger das Dorf gerne vollmundig weiter als „Rückgrat der serbischen Kultur“. Dabei sind mittlerweile die meisten Trachtentanzgruppen des Landes in den Städten zuhause. In den Dörfern fehlt es nicht nur an Gelegenheiten, sondern längst auch an Menschen, die sich beim „Kolo“-Reigentanz noch ringeln und ausgiebig feiern könnten. Denn bei Beerdigungen wird auch in Serbien selten getanzt.

Schon in den 1950er Jahren habe mit der Industrialisierung im sozialistischen Jugoslawien der Niedergang der serbischen Dörfer begonnen, sagt Branka Krstić. „Die Leute zogen nach Belgrad und Niš, um dort bei Staatsfirmen zu arbeiten.“ In den 1960er und 1970er Jahren seien die Gastarbeiter hinzugekommen, die ihr Glück im ausländischen Arbeitsexil versucht hätten, erzählt ihre 80-jährige Mutter Mika. „Viele sind damals gegangen. Von den fünf noch lebenden Geschwistern meiner Familie lebe nur ich noch im Dorf.“

Trotz all dieser Entwicklungen leben noch immer 40 Prozent der Serben außerhalb der Großstädte und in ländlichen Regionen. Doch nicht nur das Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land, sondern auch der Niedergang der Landwirtschaft nach den Jugoslawienkriegen beschleunigt die Abwanderung – und das Sterben der Dörfer.

Der Viehbestand in Serbien geht von Jahr zu Jahr genauso weiter zurück wie die Fläche des bewirtschafteten Ackerlands oder die Zahl der Landwirte. Deren Durchschnittsalter ist landesweit mittlerweile auf 60 Jahre gestiegen. Eine klare Strategie der Belgrader Landwirtschaftspolitik, um den ländlichen Raum wieder zu beleben, ist auch wegen der häufigen Ministerwechsel kaum zu erkennen, sagen kritische Stimmen. Seit dem Fall des Autokraten Slobodan Milošević im Oktober 2000 haben sich etwa 17 Landwirtschaftsminister in Belgrad die Klinke in die Hand gedrückt, mit einer durchschnittlichen Amtszeit von 14 Monaten.

In Vrgudinac sitzt Grana in ihrer Wohnstube und blättert gedankenverloren durch ein kleines Album mit den vergilbten Schwarzweiß-Fotos von ihrer Familie. Die Dorfschule, vor der sie als Zweitklässlerin bereits mit dem Nachbarjungen Jugoslav für das Klassenfoto posierte, wurde schon 1980 zugemacht. Die Dorfkneipe schloss ebenso wie der letzte Dorfladen Anfang der 1990er Jahre die Türen, erzählt Jugoslav.

Der Landwirt erklärt das Dörfersterben auch mit einem veränderten Arbeitsethos. In seinen vierzig Arbeitsjahren in der Möbelfabrik habe er nur an drei Tagen wegen Krankheit gefehlt. Auch auf dem Feld und im Stall habe er immer seinen Mann gestanden. „Heute wollen viele junge Leute nicht mehr arbeiten, sich nicht mehr fortpflanzen und Familien gründen - und erst recht keine Kühe mehr melken“, meint der Landwirt.

Mehr Beerdigungen als Geburten: Todesanziege am Eingang eines verlassenen Anwesens im ostserbischen Dorf Vrgudinac. (Copyright: Thomas Roser)

Es sind oft sehr konkrete Alltagsprobleme, die das Leben auf dem Land und in den Dörfern erschweren. Wenn sie auf dem Rathaus in Bela Palanka mit der Nachfrage vorstellig werde, wann endlich die Straßen in Vrgundinac ausgebessert würden, ernte sie nur ein müdes Lächeln, berichtet Ortsvorsteherin Maja: „Sie antworten mir, dass wir noch Glück hätten und andere Dörfer viel schlechter dran seien als wir.“

Auch die Wasserversorgung des Dorfes fällt immer wieder aus, weil Niederschläge rückläufig sind und der Grundwasserspiegel sinkt. Als eines der ersten Dörfer in Serbien habe sich Vrgudinac schon Anfang der 1960er Jahre eine eigene Wasserversorgung zugelegt, sagt Maja. Aber um es stabil zu halten, müsste die Ortschaft eigentlich an das Netz der Nachbardörfer angeschlossen werden. Das passiert bisher nicht.

Für kaum lösbar hält Maja das Problem, dass ihr Dorf von der Müllabfuhr nicht angefahren wird. „Wenn wir außer dem Müllcontainer, der bei der zwei Kilometer entfernten Bushaltestelle an der Straße nach Niš steht, noch einen eigenen Container im Dorf wollten, müssten wir dafür bezahlen", sagt sie. „Das wäre allerdings teurer als in Bela Palanka, weil das Müllauto extra zu uns rauffahren müsste.“ Die meisten Leute im Dorf bezögen sehr niedrige Renten und seien nicht dazu bereit, dafür selbst etwas zu bezahlen. Wegen der sinkenden Einwohnerzahl werde der Dorfbach nicht mehr so zugemüllt wie in der Vergangenheit, sagt Maja über mögliche Fortschritte. „Früher war das eine Katastrophe. Nun gibt es einfach weniger Leute, die etwas in den Bach werfen könnten. Und die, die noch da sind, entsorgen ihren Müll zumeist im Container an der Haltestelle.“

Noch spaltet die 80-jährige Großmutter Mika ihr Holz selbst. Doch der Rentnerin macht der Holzklau in ihrem Wald zunehmend zu schaffen. Vor allem die kleinen privaten Wälder rund um Vrgudinac würden, wie in der ganzen Region, von Serbiens „Holzmafia“ systematisch ausgeholzt: „Die Staatswälder tasten diese Leute wohlweislich nicht an. Aber sie wissen, dass wir uns kaum wehren können, und sie haben gute Kontakte. Wenn das so weitergeht, werden wir irgendwann unser Brennholz noch kaufen müssen.“

Die Grillen zirpen. Langsam senkt sich die Sonne über die Baumwipfel und die altersschwachen Dächer von Vrgudinac. Zumindest für Dorfstreitigkeiten gebe es mit weniger Einwohnern immer weniger Gelegenheit, scherzt die Dorfvorsteherin zum Abschied: „Natürlich wird auch hier manchmal gestritten, aber zumindest spricht im Dorf noch jeder mit jedem. Ob bei Einkäufen oder Erledigungen: Jeder versucht dem anderen zu helfen, so gut er kann.“