Exil – Ein Begriff im Wandel europäischer Migrationsgeschichte

aus OWEP 3/2025  •  von Jochen Oltmer

Dr. phil. habil. Jochen Oltmer, geboren 1965 in Wittmund, ist Professor für Neueste Geschichte und Migrationsgeschichte der Universität Osnabrück. Er ist dort Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) sowie des Sonderforschungsbereichs 1604 "Produktion von Migration" der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Zusammenfassung

Der Begriff „Exil“ findet seine Anfänge in der deutschen Sprache des 16. Jahrhunderts. Bis in die Gegenwart ist er vor allem eng mit der Geschichte von Flucht und Vertreibung von Menschen aus dem nationalsozialistischen „Dritten Reich“ verbunden. Einen intensiven Exildiskurs in der deutschen Gesellschaft mit Blick auf jüngere und jüngste Fluchtbewegungen gibt es dadurch bis heute nicht.

Ein aufgeladener Begriff

Eine Vielzahl von umkämpften Begriffen kennzeichnet das Sprechen und Schreiben über Migration und die auf unterschiedliche Weise bezeichneten und kategorisierten Phänomene und Menschen: „Einwanderung“ oder „Zuwanderung“, „Flüchtling“ oder „Geflüchtet“, „Illegale“ oder „irreguläre Migration“. Solche Kategorisierungen verweisen auf Vorstellungen von gesellschaftlichen Hierarchien und (Nicht-)Zugehörigkeit, die sich beispielsweise an Erwartungen über Nützlichkeit (Fachkräftemangel) und Hilfsbedürftigkeit (kriegsbedingte Flucht) von Eingewanderten orientieren.

Diese Begriffe sind weit mehr als nur eine Anzahl von Schriftzeichen. Denn mit Bedeutungen aufgeladen, beeinflussen sie die Wahrnehmung von Menschen in Bewegung und den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen. Sie münden in rechtliche Regelungen, Gesetze, den Auf-, Ab- oder Umbau von Organisationen – Normen und Strukturen, die wiederum den Rahmen bilden für neue gesellschaftliche Aushandlungen über Homogenität oder Heterogenität, Differenz oder Gleichheit, Nähe oder Distanz.

Das gilt auch für den Begriff des Exils. Er wird in der deutschen Sprache seit dem 16. Jahrhundert verwendet, als sich nicht nur das (Neuhoch-)Deutsche als Amts- und Gerichtssprache durchzusetzen begann, sondern auch die vermehrte Rezeption der Antike viele gesellschaftliche Bereiche prägte. Die Forschung vermutet, dass vor diesem Hintergrund der Begriff seinen Weg in die deutsche Sprache fand. Denn „Exil“ lässt sich ableiten vom lateinischen Wort „exilium“, das allgemein auf einen Aufenthalt in der Ferne und spezifisch auf die Verbannung als Hintergrund für die absolvierte Bewegung verweist. Bezüge finden sich auch zum Begriff „exul“, der im Lateinischen „Verbannte“ meint.

Bereits im 16. und frühen 17. Jahrhundert wurde das Wort „Exil“ in einer spezifischen Form gebraucht, die bis in die Gegenwart in vielerlei Hinsicht prägend bleiben sollte. Die Begriffe „Exul“, „Excul“ oder „Exulant“ fanden zunächst vor allem Verwendung im Kontext der Bewegung von Calvinisten aus den Niederlanden in das Alte Reich zwischen Mitte des 16. und Mitte des 17. Jahrhunderts. Mutmaßlich 30.000 bis 50.000 von ihnen zogen angesichts der gegen Protestanten gerichteten Maßnahmen ihrer habsburgischen Landesherren in die verschiedensten Territorien ab. Umfangreiche publizistische Kämpfe kreisten um die Legitimität der Migration, die Bedingungen der Aufnahme der vor allem wegen ihrer Wirtschaftskraft attraktiv erscheinenden Gruppe sowie die Vor- und Nachteile der Zuwanderung für das aufnehmende Kollektiv.

Aber auch andere Menschen, die für sich beanspruchten, aus Glaubens- bzw. Konfessionsgründen geflohen oder vertrieben worden zu sein, bezeichneten sich nun als „Exulanten“. Obrigkeiten, die ihre Ankunft vorbereiteten oder sie auf ihrem Gebiet aufgenommen hatten, verwendeten den Begriff ebenso wie Theologen, Flugblattverfasser oder Schriftsteller, die als Identitätsmanager für die protestantische - und gegen die katholische - Sache eintraten. Der Begriff „Exulant“ war in höchstem Maße religiös und (konfessions-)politisch aufgeladen. Jene, die sich so nannten oder so genannt wurden, präsentierten sich als glaubensfeste Menschen, die gegen den Zwang zur Konversion Widerstand geleistet und ihre irdischen Besitztümer aufgegeben hatten, um ihren Glaubensidealen zu folgen. Ihre Migration müsse als ein Weg der Buße verstanden werden, der dem Weg zur himmlischen Erlösung entspreche. Der „Exulant“ sei mithin der wahre Christ. Auch im 17. und 18. Jahrhundert blieb der Begriff rund um konfessionelle und konfessionspolitische Konflikte präsent.

Aus obrigkeitlicher Sicht bot der Begriff des „Exulanten“ Möglichkeiten, die Zuwanderung zu regieren: Galt die Abwanderung als legitim, weil sie sich auf politisch-konfessionelle Gründe beziehen ließ, erschien es als statthaft, Zugewanderten Privilegien in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zuzubilligen, sei es beim Aufenthaltsstatus, dem sozialen Rang, der wirtschaftlichen Betätigung, Siedlungsmöglichkeiten, Steuern, religiösen Rechten oder der Freizügigkeit. Gegenüber den eigenen Untertanen und anderen Akteuren ließen sich die Zuwanderung, der Aufenthalt und die – tendenziell umstrittene – Privilegierung, die insbesondere aus dem Versprechen besserer wirtschaftlicher Verhältnisse folgte, theologisch und konfessionspolitisch begründen. Angesichts des Bedeutungsverlusts konfessioneller und konfessionspolitischer Auseinandersetzungen verlor die dem Exulantenbegriff innewohnende religiöse Aufladung ihren Stellenwert. Sie wurde durch eine politische Prägung ersetzt, wie sie sich vornehmlich im Zusammenhang der Revolutionen im Europa des frühen 19. Jahrhunderts zeigte. Einige Zehntausend Menschen, die bewusst den Kampf gegen das herrschende politische System ihres Herkunftsstaates aufgenommen hatten, ergriffen meist vor der Verfolgung nationaler, demokratischer, liberaler und sozialistischer Bewegungen die Flucht. Frühsozialistische Handwerker fanden sich ebenso darunter wie nationalliberale politische Intellektuelle oder Mitglieder bewaffneter nationaler Befreiungsbewegungen.

Emigration und das Recht auf Schutz

Mehrere Hochphasen der politischen Verfolgung lassen sich im 19. Jahrhundert ausmachen: Eine erste gab es in der Phase der verschärften Restauration nach dem Wiener Kongress. Eine zweite folgte nach den Unruhen, die in weiten Teilen Europas im Kontext der Pariser Julirevolution von 1830 standen. Dazu zählte auch die „Große Emigration“, die mehrere Zehntausend Polen nach Westeuropa führte.

Die europäischen Revolutionen von 1848 hinterließen ebenfalls wesentliche Spuren im Fluchtgeschehen. Seit den 1870er Jahren ging es vor allem um politisch erzwungene Wanderungen in Folge des Kampfes mittel- und osteuropäischer Staaten gegen sozialistische und anarchistische Bewegungen. Dabei blieben die Staaten Mittel- und Osteuropas Hauptausgangsräume von Fluchtbewegungen. Ein Großteil der Schutzsuchenden kam aus dem Deutschen Bund, beziehungsweise dem Deutschen Reich. Das galt sowohl für die Zeit des Vormärz, der gescheiterten Revolution von 1848/49 als auch für das späte 19. Jahrhundert, vor allem im Kontext des Anti-Sozialistengesetzes 1878 bis 1890.

Die Debatten des 19. Jahrhunderts kreisten um die Frage, ob und inwieweit den vor den autoritären politischen Systemen fliehenden Oppositionellen oder Revolutionären ein Recht auf Schutz zustand. Es ging auch darum, ob und inwieweit sie von anderen Migranten zu unterscheiden seien. Mithin ging es, wie bereits in der Frühen Neuzeit, um die Legitimität der Bewegung und eine privilegierte Behandlung nach der Ankunft. Bis in die Gegenwart lässt sich eine solche Perspektive nachzeichnen: Die heute vorliegenden Definitionen des Begriffs „Exil“ verweisen auf die Stichworte „Vertreibung“, „Verbannung“ oder „Verfolgung“. Immer wird die Unfreiwilligkeit des Exils, der Zwang zur Migration und damit die Legitimität der Bewegung herausgestellt.

Exilgegend war Europa

In Deutschland ist die Verwendung des Begriffs Exil bis in die Gegenwart sehr eng mit der Geschichte von Flucht und Vertreibung von Menschen aus dem nationalsozialistischen „Dritten Reich“ verbunden. Die größte Gruppe stellten Jüdinnen und Juden, von denen etwa 280.000 bis 330.000 Deutschland verließen. Nimmt man die jüdische Emigration aus Österreich nach dem sogenannten Anschluss an das Deutsche Reich 1938 (150.000) und aus der Tschechoslowakei nach dem Münchner Abkommen im gleichen Jahr hinzu (33.000), so beläuft sich allein die Zahl der im weitesten Sinne jüdischen Emigrierten aus dem von Deutschland beherrschten Mitteleuropa insgesamt auf 450.000 bis 600.000 Menschen. Weltweit nahmen mehr als 80 Staaten Schutzsuchende aus Deutschland auf. Zielgegenden waren zunächst vor allem europäische Staaten, darunter im Osten insbesondere die Tschechoslowakei und die Sowjetunion. Im Vordergrund stand der Gedanke an ein zeitweiliges Exil, die Hoffnung auf den baldigen Zusammenbruch des NS-Regimes und die Chance zur Rückkehr.

Die Hälfte aller Schutzsuchenden aber wanderte bald weiter. Die Zahl der Exilierten, die vor dem Nationalsozialismus in die USA auswichen, wurde 1941 auf insgesamt 100.000 Menschen geschätzt. Argentinien folgte mit 55.000 und Großbritannien mit 40.000. Während des Zweiten Weltkriegs verschob sich das Gewicht noch weiter zugunsten der Vereinigten Staaten, die am Ende etwa die Hälfte aller Schutzsuchenden aufnahmen.

Über die Aufnahme entscheiden Staaten mit weiten Ermessensspielräumen. Im 19. Jahrhundert gab es zwei unterschiedliche rechtliche Wege: Schutzsuchende konnten wie alle anderen Eingewanderten aufgenommen werden. Ihr rechtlicher Status unterschied sich dann nicht von jenen, die aus politischen Gründen kamen. Vor allem Großbritannien und die USA wurden auf diese Weise wichtige Exilländer für Schutzsuchende aus Europa. Außerdem war die Gewährung eines spezifischen Rechtsstatus möglich. Das aber geschah lange ausschließlich als eine Ausnahme innerhalb der Regelungen zur Abschiebung ausländischer Staatsangehöriger und bot damit Schutz vor Auslieferung. Politisches Asyl war also im 19. Jahrhundert und bis weit in das 20. Jahrhundert ein Bestandteil des Auslieferungsrechts, begrenzte es zugleich und blieb in den Aufnahmestaaten Europas immer ein politisch motivierter Akt der Duldung.

Politische Umwälzungen und Fluchtbewegungen

Mit dem Ersten Weltkrieg und den politischen Wandlungen in seinem Gefolge gewannen politisch bedingte räumliche Bewegungen deutlich an Gewicht. Fluchtmigration begleitete vor allem den russländischen Bürgerkrieg und die Staatenbildungen in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Sie zielten in erster Linie auf West- und Mitteleuropa. Rund zehn Millionen Menschen sollen aufgrund der Veränderungen der territorialen und politischen Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg in Europa bis Mitte der 1920er Jahre Grenzen überschritten haben. Die umfangreichste einzelne Gruppe bildeten die wahrscheinlich ein bis zwei Millionen Schutzsuchenden aus dem Russland von Revolution und Bürgerkrieg.

Während die relativ wenigen Menschen, die im 19. Jahrhundert in europäischen Staaten aus politischen Gründen Aufnahme fanden, vor allem als sicherheitspolitisches, gelegentlich auch als außenpolitisches Problem gesehen wurden, erschien die Massenbewegung des 20. Jahrhunderts zunehmend als Herausforderung für den Sozialstaat. Ängste vor einer Zunahme der Erwerbslosigkeit, einer Überforderung des sozialen Sicherungssystems sowie kultureller Vielfalt beherrschten die Debatte. Das galt auch für Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Dennoch schuf die Weimarer Republik rechtliche Kategorien für die Aufnahme von Schutzsuchenden. Im „Deutschen Auslieferungsgesetz“ von 1929 wurde ihr Schutz erstmals auf eine gesetzliche Grundlage gestellt durch das Festschreiben eines Verbots der Auslieferung bei politischen Straftaten. Und die preußische „Ausländer-Polizeiverordnung“ vom April 1932 legte Preußen die Verpflichtung auf, politisch Verfolgten Schutz zu gewähren. Sie bildete eine Etappe auf dem Weg zum bundesdeutschen Asylgrundrecht 1949.

Für die Geschichte des Exils der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte der „Kalte Krieg“ zentrale Bedeutung. Beobachten lassen sich die Flucht oder Ausweisung von Dissidenten aus dem sowjetischen Machtbereich in den Westen. Außerdem verstärkten sich politisch bedingte Migrationen durch die Destabilisierung politischer Systeme im Osten. Das hatte den kurzzeitigen Zusammenbruch der restriktiven Grenzregime zur Folge nach der Niederschlagung des Volksaufstands in Ungarn 1956 und dem Ende des Prager Frühlings in der Tschechoslowakei 1968, in der Folge auch nach der Auflösung des Ostblocks in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren. Verwoben mit der Konfrontation des Ost-West-Konflikts, brachte zudem der Prozess der Dekolonisation seit dem Zweiten Weltkrieg umfangreiche politisch bedingte Migrationen mit sich. Zahllose Kriege, Bürgerkriege und Maßnahmen autoritärer Systeme weltweit haben auch nach dem Ende des Kalten Krieges in großem Umfang zu politisch bedingten Migrationen geführt.

Unter den Hunderttausenden von Menschen, die in Deutschland seit Mitte der 2010er Jahre einen Schutzstatus erhielten, befinden sich viele Künstler, Intellektuelle oder politische Aktivisten, die Deutschland als Land ihres Exils verstehen und sich bewusst dieses Begriffs bedienen. Dennoch lässt sich bislang nicht von einem intensiven Exildiskurs in der deutschen Gesellschaft mit Blick auf jüngere und jüngste Fluchtbewegungen sprechen.

Die wenigen einzelnen Stimmen, die für eine vermehrte Nutzung des Exilbegriffs mit Blick auf gegenwärtige Fluchtbewegungen eintreten, erreichen keine größere Öffentlichkeit. Zahlreiche Stipendienprogramme für Exilanten laufen bereits wieder aus, auch der ambitionierte Plan eines Exilmuseums in Berlin kommt nur sehr langsam voran, unter anderem, weil eine Beteiligung des Bundes abgelehnt wurde. Auch weiterhin scheint in der Bundesrepublik der Begriff des Exils vornehmlich für die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Flucht vor dem Nationalsozialismus reserviert zu bleiben.