„Höchstens so breit wie die Rue royale in Paris“

Die Beresina und Napoleons Russlandfeldzug
aus OWEP 3/2004  •  von Martin Aust

Dr. Martin Aust ist Osteuropahistoriker und Wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

Die Beresina, ein rechter Nebenfluss des oberen Dnjepr, ist 613 km lang und entspringt 150 km nordöstlich von Minsk im nördlichen Weißrussland. Der Fluss liegt vollständig im Gebiet Weißrusslands. An seinem Lauf liegen die Städte Borisow und Bobruisk, welche Standorte der Metall- und holzverarbeitenden Industrie sind. An seinem Oberlauf ist der Fluss durch einen Kanal mit der Düna verbunden. Bei Gomel fließt die Beresina in den Dnjepr.

Nördlich von Minsk entspringt die Beresina. An ihrem Oberlauf liegt ein Naturschutzgebiet mit ausgedehnter Moorlandschaft. Noch vor der weißrussisch-ukrainischen Grenze mündet sie in den Dnjepr. Napoleons verlustreicher Übergang über die Beresina 1812 hat diesem rechten Nebenfluss des Dnjepr zu großer Bekanntheit verholfen.

Zusammen mit den Orten Moskau, Leipzig und Waterloo ist die Beresina zu einer Chiffre für das Scheitern des napoleonischen Hegemonialversuchs in Europa geworden. Teil dieses imperialen Projekts war Napoleons Bemühen, Russland in die Kontinentalsperre gegen England einzubeziehen. Dem standen die Handelsinteressen Russlands entgegen. Die widerstrebende Haltung Russlands gegenüber dem französischen Werben festigte in Napoleon den Entschluss zum Krieg.

Im Juni 1812 setzte sich die Grande Armée in Marsch. Bereits am 14. September 1812 konnte Napoleon in Moskau einziehen. Die Russen jedoch hatten sich zur Aufgabe Moskaus entschieden. Die Stadt und mit ihr die Quartiere und Vorräte, auf die Napoleon so dringend angewiesen war, gingen in Flammen auf. Als im Oktober der Frost einsetzte, offenbarte sich, dass die französischen Invasoren im winterlichen Moskau nicht dauerhaft Quartier nehmen konnten. Napoleon suchte die rettenden Unterkünfte in Smolensk und Wilna zu erreichen. Russische Partisanenüberfälle begleiteten den Rückzug der demoralisierten Grande Armée. Die regulären russländischen Truppen – so der Plan des Oberbefehlshabers Kutusow – sollten alsbald die entscheidende Schlacht suchen.

Das Heer Russlands operierte in drei Gruppen, die Kutusow, Wittgenstein und Tschitschagow kommandierten. Napoleon verfügte noch über ca. 75.000 bis 80.000 Mann, während die russischen Truppen 100.000 Mann zählten. In der Planung Russlands sollte der Übergang über die Beresina die Möglichkeit zur alles entscheidenden Vernichtungsschlacht bieten. Als die Franzosen sich der Stadt Borisow an der Beresina näherten, verlegte Tschitschagow seine Truppen in den Süden von Borisow. Dort – so glaubte er – würde der Rest der Grande Armée den Fluss überqueren.

In der Tat reflektierte Napoleon auf den Übergang bei Borisow, wo eine Brücke über die Beresina führte. Im Vertrauen auf den gesicherten Übergang hatte der Kaiser die mitgeführten Pontons zerstören lassen. Um die Brücke bei Borisow zu sichern, war ein französischer Trupp vorausgesandt, den der Oberst Marcellin de Marbot kommandierte. Den Russen unter Tschitschagow jedoch gelang es, das jenseitige Ufer zu besetzen und die Brücke zu zerstören. Daraufhin setzte Napoleon die Überquerung der Beresina beim Weiler Studenka – drei Stunden stromaufwärts von Borisow – an, wo sich eine Furt befand. Dort befahl er den Bau zweier Brücken. Ein Ablenkungsmanöver zog die Aufmerksamkeit der Russen für entscheidende Zeit von Studenka ab.

In seinen Erinnerungen beschreibt de Marbot die Ankunft seiner Truppen bei Studenka am 26. November 1812: „Es war dort still, und keinerlei Verteidigungsvorbereitungen am anderen Ufer machten sich bemerkbar. Hätte der Kaiser nicht den Brückentrain bei Orscha verbrennen lassen, so hätten wir auf der Stelle mit dem Übergang beginnen können, denn der Fluss, den viele sich von ganz bedeutenden Dimensionen vorstellten, ist höchstens so breit wie die Rue royale in Paris vor dem Marineministerium und seine Tiefe so, dass die Pferde bis auf wenige Meter, die sie schwimmen müssen, den Grund nicht verloren. Den Reitern ging das Wasser, in dem einige Eisschollen trieben, bis zu den Knien. Die größte Schwierigkeit für diese und besonders für die Fahrzeuge lag erst am jenseitigen Uferrand, der so sumpfig war, dass die Wagen bis zur Achse versanken.“

De Marbot bezeichnet den Übergang in seinen Memoiren als die „schrecklichsten Tage des verhängnisvollen Feldzuges“. Napoleon konnte am 27. November 1812 mit seiner Garde sicher über den Fluss setzen. Die Chance, sein Heer einzukreisen und ihm den letzten Vernichtungsschlag zuzufügen, war aber an der Beresina verspielt. Doch führten die Russen ihre Truppen alsbald heran und erschwerten den Übergang mit heftigen Angriffen. Sie trafen das Gros der entkräfteten und zerlumpten Nachzügler der einst stolzen Grande Armée aus Moskau. In Massen drängten diese auf die beiden Brücken zu. Eine Brücke hielt der Belastung nicht stand und brach zusammen. Auf der anderen erstickten Soldaten im Gedränge oder sprangen in den Fluss, in dem sich Gespanne hoffnungslos ineinander verkeilt hatten. Am 29. November 1812 zerstörten die Franzosen die Brücke vor den nachstoßenden Truppen des Zaren.

Die Verluste der Grande Armée an der Beresina werden auf ca. 50.000 Soldaten – viele von ihnen ertranken in den Fluten des kalten Stromes – sowie die Mehrzahl der Kanonen und Fuhrwerke beziffert. Die Grande Armée war dezimiert auf einen Haufen Männer in Lumpen, der sich völlig entkräftet notdürftig seines Weges schleppte. Das Debakel der Franzosen an der Beresina machte aus dem Versuch eines geordneten Rückzuges einen fortschreitenden Auflösungsprozess der Grande Armée. Napoleon verließ den traurigen Rest seiner Truppe und eilte zurück nach Paris.

Den Blick de Marbots auf den Übergang über die Beresina übernahmen französische Historiker, in deren Schilderungen der Schlacht sich das Katastrophische verdichtet. In einer Geschichte Frankreichs, die 1855 in der Reihe Le Panthéon Populaire erschien, heißt es: „Le passage de la Berésina fut un épouvantable désastre, un tragique dénouement de la campagne de la Russie.“ Und auch Ernest Lavisse beschreibt in seiner monumentalen Geschichte Frankreichs, die Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren Bänden erschien, die Lage der Franzosen an der Beresina als hoffnungslos und die Leiden als furchtbar: „La situation était désespérée ... Leurs souffrances étaient atroces.“

Als Tolstoj in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts seinen Roman Krieg und Frieden schrieb, konnte er sich in seiner Einschätzung bereits auf ein großes Korpus wechselseitiger Kommentierungen des Übergangs über die Beresina aus Frankreich und Russland beziehen. In seinen Reflexionen heißt es im Roman: „Die französischen Truppen schmolzen gleichmäßig in mathematisch regelmäßiger Progression zusammen. Und jener Übergang über die Beresina, über den so viel geschrieben worden ist, war nur eine der Zwischenstufen in der Vernichtung des französischen Heeres und keineswegs die entscheidende Katastrophe des Feldzuges. Wenn über die Beresina so viel geschrieben worden ist und noch geschrieben wird, so kam das von Seiten der Franzosen nur daher, dass auf den eingestürzten Beresinabrücken die bis dahin über einen größeren Zeitraum verteilten Leiden, die die französische Armee auszuhalten hatte, sich plötzlich in einen Moment zusammendrängten, zu einem tragischen Schauspiel, das allen im Gedächtnis blieb. Von Seiten der Russen aber ist über die Beresina nur deshalb so viel geredet und geschrieben worden, weil in weiter Entfernung vom Kriegsschauplatz, in Petersburg, ein Plan ausgearbeitet war, und zwar von Pfuel, Napoleon an der Beresina in einer strategischen Falle zu fangen.“ Tolstoj vertrat im Rückblick die Ansicht, dass dieser Plan fehlschlagen musste, denn „der Haufe der Franzosen lief mit stets wachsender Geschwindigkeit vorwärts und wandte alle seine Energie auf die Erreichung dieses Zieles. Er lief wie ein verwundetes Wild, und es war ihm unmöglich, auf seinem Weg Halt zu machen.“

Der Plan der strategischen Falle, dessen Bedeutung Tolstoj in seinem Roman einzuschränken sucht, ist zu einem festen Bestandteil der russischen Erinnerung an die Beresina geworden. Sowohl im Brokgauz-Efron, dem Lexikon aus vorrevolutionärer Zeit, als auch in den Ausgaben der Großen Sowjet-Enzyklopädie zeichnen die Artikel über die Beresina den Verlauf der militärischen Operationen im Umfeld des Übergangs nach – teils mit visueller Verdeutlichung auf einer Karte.

Die Visualisierung des Übergangs über die Beresina ist nicht auf das Medium der strategischen Karten beschränkt. Auch die Schlachtenmalerei des 19. Jahrhunderts hat das Motiv wiederholt aufgegriffen – etwa in den Gemälden von Adam und Hess. Auf Adams Gemälde drängen sich am rechten Bildrand die Massen der Grande Armée. Leicht diagonal in Richtung linke obere Bildhälfte ziehen die Flüchtenden über die beiden Brücken. Das eisige Wasser der Beresina wie auch der wolkenverhangene Himmel sind in einem kalten Blaugrau gehalten. Vögel kreisen über der Szenerie – man mag sie entweder als Boten rettenden Landes oder drohenden Unheils deuten. Im Gegensatz zu den militärisch-strategischen Karten, die aus ihrer Vogelperspektive Ordnung suggerieren, zeigen die Schlachtengemälde das menschliche Leid im Gedränge und Gefecht des Übergangs.

Auf seiner Gouache Nach der Schlacht bei Beresina aus dem Jahr 2000 hat Alois Janak die Entmenschlichung in Militär und Krieg mit einer reduktionistischen Bildsprache im Hochformat 51,0 x 36,5 cm zum Ausdruck gebracht.1 Den Bildhintergrund bildet ein Manuskript. In der Bildmitte ist eine weiß-rote Trommel zu sehen. Hinter ihr ist ein Gewehr mit Bajonett diagonal angeordnet. Mit etwas Abstand über der Trommel ist ein Napoleonhut abgebildet, über ihm offensichtlich Pulverdampf. Einige schwärzliche Kreise, die einen schwächlichen Farbschweif hinter sich herziehen, könnte man als Kanonenkugeln deuten. Damit kommt zum Ausdruck, wie nach dem Übergang über die Beresina, der so vielen Menschen das Leben gekostet hat, einzig noch die militärischen Realia übrig blieben. Das konkrete Ereignis des Übergangs über die Beresina wird so zur Anklage der Entmenschlichung in Militär und Krieg.


Fußnote:


  1. Eine Abbildung der Gouache findet sich unter www.alois-janak.de↩︎