Geschichte und Selbstverständnis der Serbischen Orthodoxen Kirche

Der Autor ist Diplom-Theologe und seit 2007 serbisch-orthodoxer Gemeindepriester in Dortmund.

Die Serbische Orthodoxe Kirche (SOK) gehört der Kirchenfamilie der Orthodoxen Kirchen an und nimmt in der Rangordnung der autokephalen (selbstständigen) Orthodoxen Kirchen den sechsten Platz ein. Der Vorsteher der Kirche trägt den Titel Patriarch. Das kanonische Territorium umfasst das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien; daneben gibt es neun Diözesen in der Diaspora (Nord-und Südamerika, Westeuropa, Australien und Neuseeland) unter der geistlichen Jurisdiktion des serbischen Patriarchats mit Sitz in Belgrad. Das höchste geistliche und administrative Gremium stellt das Bischofskonzil dar, das mindestens zweimal jährlich zusammenkommt.

Geschichte

Die Autokephalie (Selbstständigkeit) erlangte die SOK im Jahre 1219. In diesem Zusammenhang ist die Persönlichkeit des heiligen Sava herausragend. Aus der serbischen Herrscherdynastie der Nemanji stammend, entschied sich Sava schon in jungen Jahren, entgegen den Vorstellungen seines Vaters und Großžupans Stefan, Mönch zu werden.1 Als Athos-Mönch begab er sich 1219 auf eine wichtige kirchlich-diplomatische Mission: Er sprach bei dem in Nizäa residierenden Patriarchen von Konstantinopel Manuel I. Charitopoulos vor und erbat die Entlassung der serbischen Kirche in die Autokephalie. Der Bitte Savas wurde entsprochen. Vom Patriarchen von Konstantinopel zum ersten Erzbischof der Kirche von Serbien geweiht, kehrte Sava nach Serbien zurück, wo er zwei Jahre später auf dem kirchlich-staatlichen Konzil im Kloster Žiča die Krönung seines Bruders Stefan zum ersten serbischen König vollzog. Mit diesem Akt wurde der Grundstein gelegt für eine blühende geistliche und staatliche Entwicklung der serbischen Länder im Mittelalter. Davon zeugen hunderte von Kirchen und Klöstern in Serbien, dem Kosovo, in Montenegro und Makedonien. Oft als „Goldenes Zeitalter“ serbischer Geschichte bezeichnet, kam man in dieser Epoche dem byzantinischen Ideal der „Symphonie“ (Gleichklang zwischen Staat und Kirche) sehr nahe.

Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildete im Jahre 1346 die Erhebung der SOK in den Rang eines Patriarchats und die Krönung des damaligen serbischen Herrschers Dušan zum Kaiser. Mit der militärischen Niederlage gegen die Türken auf dem Amselfeld (1389) begann der Zerfall des mittelalterlichen serbischen Staates. Die SOK blieb danach die einzige funktionierende Institution zur Bewahrung der nationalen Identität. Oft übernahmen Kirchenführer die Rolle des Ethnarchen (Volksführer), um gegenüber den türkischen Machthabern die Interessen des Volkes zu vertreten; eine Rolle, welche der Kirche anfangs sicherlich aufgezwungen wurde, die sie allerdings fortan in ihrem Selbstverständnis bis in die Gegenwart prägen sollte.

Mit der endgültigen Befreiung von der Türkenherrschaft und der Gründung des jugoslawischen Staates wurden die Voraussetzungen geschaffen, das Patriarchat von Serbien, das 1766 aufgehoben worden war, 1920 in seinem alten Umfang zu erneuern und die zum Teil autonomen Kircheneinheiten in die SOK einzugliedern.

Der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit: Martyrium, Säkularisierung, Marginalisierung

Den Zweiten Weltkrieg erlebte die SOK als wahres Martyrium: Sie erlitt Verfolgung und Vernichtung durch Faschisten und Kommunisten, Zerstörung zahlreicher Kirchen und Ermordung ihrer Geistlichen. Dies setzte sich fort nach der Machtergreifung der Kommunisten im Jahre 1944. Bis 1955 verringerte sich die Zahl der Bischöfe um ein Drittel, die Zahl der Priester um die Hälfte. Die Zahl der Studenten an den Priesterseminaren ging um drei Viertel zurück, über 80 Prozent des kirchlichen Landeigentums wurden enteignet. Die Nachkriegszeit war gekennzeichnet von aggressiver atheistischer Propaganda, massiven staatlichen Übergriffen gegenüber Geistlichen und Gläubigen und einer weitgehenden Diskriminierung und Marginalisierung der SOK. Sie wurde an den Rand der Gesellschaft und in den Bereich der Privatsphäre abgedrängt; religiöse Inhalte verschwanden fast ganz aus der Öffentlichkeit. Durch die sozialistische Säkularisierung verringerte sich die Zahl der Gläubigen radikal. In diesem antikirchlichen Klima, aller materiellen Güter beraubt, kämpfte die ehemals staatstragende SOK buchstäblich um ihr Überleben.

Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts änderten die kommunistischen Machthaber ihre Strategie: Statt offener Übergriffe wurde die Kirche nun infiltriert und manipuliert. Spezielle geheimdienstliche Kader wurden geschult, um die Kirche von innen zu kontrollieren und ihre Wirkungsmöglichkeiten einzuschränken. Auf diese manipulativen Aktivitäten des Staates ist beispielsweise die kirchenrechtlich illegale Gründung der so genannten „Makedonischen Orthodoxen Kirche“ zurückzuführen. Eine ähnliche Entwicklung kann heute im unabhängigen Balkanstaat Montenegro beobachtet werden. Die politische Führung versucht, dort ebenso eine eigene nationale orthodoxe Kirche einzurichten, um damit den Anspruch auf staatliche Unabhängigkeit zu untermauern. Dabei wird jedoch die Tatsache übersehen, dass eine eigenständige und unabhängige (autokephale oder autonome) orthodoxe Kirche wesensgemäß nur eine solche ist, die von allen orthodoxen Kirchen anerkannt wird und ihre Eigenständigkeit gemäß den kirchlichen Kanones und der Tradition erhalten hat.

Politische Neuorientierung und Bürgerkrieg

Die soziopolitischen Bewegungen in den meisten europäischen kommunistischen Staaten Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts brachten auch für Jugoslawien tiefgreifende Veränderungen: Ein Mehrparteiensystem wurde eingeführt und freie Wahlen wurden abgehalten. In allen Teilrepubliken errangen nationalistische Parteien die Macht, deren historisches Ziel es war, den gemeinsamen Staat zu zerschlagen und unabhängige Nationalstaaten zu gründen.

Nach den ersten freien Wahlen in Serbien 1990 konnten sich die Neokommunisten in der Regierung behaupten. Im Bewusstsein der Tatsache, dass die sozialistische Ideologie keinen Wahlerfolg bringen würde, transformierten sie ihre politischen Ziele in demokratische und nationale Inhalte. Die Folge war eine Annäherung an die SOK, weil diese als historische und traditionelle Hüterin des nationalen Bewusstseins galt. Ähnliches war auch in den übrigen Teilrepubliken zu beobachten, die in ihren Glaubenstraditionen nach Unterstützung für ihre politischen Ziele suchten und so die Kirchen und Glaubensgemeinschaften für ihre staatlichen Interessen manipulierten.

Der jugoslawische Bürgerkrieg, eine Folge des politischen Zerfalls des Bundesstaates, hat die SOK schwer getroffen. Weite Teile ihres kanonischen Gebietes wurden verwüstet, Kirchen zerstört, Bischöfe, Priester und Gläubige vertrieben. Zwar hatte die SOK stets die serbischen historischen, ethnischen und staatlichen Rechte verteidigt, blieb aber dennoch ihrem christlichen Selbstverständnis treu. Vorwürfe, die SOK hätte kriegstreiberisch gewirkt, können angesichts der zahlreichen weisen und versöhnenden Worte des serbischen Patriarchen Pavle I. in dieser Zeit als tendenziös abgewiesen werden. Die Zeit des Bürgerkriegs war gekennzeichnet durch eine allgemein erstarkende Religiosität; damit verbunden war eine stärkere kirchliche Präsenz in der Öffentlichkeit, was allerdings nicht gleichbedeutend war mit größerem Einfluss in der Gesellschaft.

Wird der Einfluss der Serbischen Orthodoxen Kirche auf die serbische Gesellschaft richtig eingeschätzt?

Bei der zuletzt durchgeführten Volkszählung im Jahre 2002 haben 95 Prozent der Bevölkerung Serbiens ihre Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft bekundet. Davon haben 88 Prozent angegeben, dem orthodoxen Glauben anzugehören. Weitere Meinungsumfragen aus dem Jahre 2000 bestätigten, dass die SOK als Trägerin des orthodoxen Glaubens das höchste institutionelle Ansehen in Serbien genießt. Eine groß angelegte soziologische Studie aus dem Jahr 1991, die sich der religiösen Einstellung der Bevölkerung befasste, zeigte allerdings, dass nur etwa 10 Prozent der Befragten, die sich als orthodox bezeichneten, auch aktive Mitglieder der SOK waren. Die SOK hat damit auch nach den politischen Umbrüchen Ende des 20. Jahrhunderts nach wie vor einen eher zu vernachlässigenden Einfluss auf die gesellschaftlichen Vorgänge in Serbien. Zwar hatte sich das politische Establishment gegenüber der Kirche geöffnet, sie war auch in der Öffentlichkeit mehr präsent – dennoch beschränkte die Regierung ihr Wirkungsfeld auf traditionell-kirchliche Inhalte. Ähnlich verhielt sich die liberale Opposition, die in der SOK ein reaktionäres Überbleibsel der Vergangenheit sah.

Mit dem Regimewechsel im Jahre 2000 änderte sich das Verhältnis des Staates zur SOK. Während der Studentenproteste gegen das Miloševićregime 1996 sowie nach dem verheerenden NATO-Krieg gegen Serbien und der Besetzung des Kosovo 1999 unterstützte die SOK als einzig verbliebene überparteiliche nationale Institution in Serbien den weitgehend friedlichen Sturz des Miloševićregimes. In der Folgezeit erreichte die SOK gemeinsam mit den übrigen traditionellen Religionsgemeinschaften in Serbien die Einführung des Religionsunterrichts an den öffentlichen Schulen. Die theologische Fakultät wurde wieder in die Universität Belgrad eingegliedert.

Trotz ihres gesteigerten Ansehens konnte die SOK ihren gesellschaftlichen Einfluss in der Folgezeit nicht weiter ausbauen. Ursache dafür war das weitverbreitete Unverständnis der Öffentlichkeit gegenüber der kirchlichen Sendung, eine Folge der kommunistischen Marginalisierung der SOK, die als Institution des Klerus verstanden wurde und sich daher der öffentlichen Meinung zufolge auf geistliche Themen beschränken sollte. Andererseits ist es legitim, wenn die Kirche zu politischen und gesellschaftlichen Fragen Stellung bezieht, sind ihre Mitglieder doch zugleich auch Staatsbürger. Beispielsweise betrifft die einseitig ausgerufene Unabhängigkeit des Kosovo und dessen Abspaltung von Serbien auch die SOK, da sich die ohnehin lebensbedrohliche Lage der SOK, ihrer Klöster, Kirchen, Bischöfe, Mönche und Gläubigen auf dem Kosovo dramatisch verschlechtert hat.2

Das Gesetz über die Kirchen und Glaubensgemeinschaften

Das lange vorbereitete Gesetz über Kirchen und Glaubensgemeinschaften, das schließlich im Jahre 2006 verabschiedet wurde, sollte das Verhältnis zwischen Kirche und Staat neu regeln. So wurde gesetzlich festgelegt, dass die Kirche unabhängig vom Staat ist und ihre innere Ordnung und Organisation ohne Einmischung von außen selbstständig gestalten kann. Der Kirche wird die Möglichkeit eingeräumt, soziale und humanitäre Einrichtungen zu unterhalten sowie Bildungseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Fakultäten einzurichten. Garantiert wird außerdem das Recht auf Religionsunterricht. Der Staat wird zur Zusammenarbeit mit der Kirche in kulturellen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Belangen aufgefordert. Er kann die Kirche in diesen Aufgaben auch materiell unterstützen.

Mit diesem Gesetz eröffnet sich der SOK nach nahezu 60 Jahren sozialistischer und kommunistischer Manipulation und Unterdrückung die Möglichkeit eines angemessenen Wirkens in der Gesellschaft. Zweifellos bieten sich durch die Regulierung der rechtlichen Stellung auch neue Perspektiven für die Zukunft.

Die Kirche ist – das kann man mit Bestimmtheit sagen – offen für neue Wege. In den letzten Jahren haben sich Veränderungen an der Spitze der Bistümer vollzogen, was auf einen baldigen Generationswechsel hindeutet.3 Die orthodoxen Ausbildungsstätten, Priesterseminare und Fakultäten sind personell ausgelastet. Durch Einführung des Religionsunterrichts ist der Bedarf an qualifizierten Theologen stark gestiegen. Auf kirchliche caritative oder soziale Einrichtungen wird man allerdings noch einige Zeit warten müssen, da der SOK die finanziellen Mittel fehlen. Leider wurden die Zwangsenteignungen von Ländereien und Immobilien aus der Vergangenheit noch nicht rückgängig gemacht, da es bisher kein Gesetz über die Restitution gibt. Dies erschwert sicherlich den Erneuerungsprozess; dennoch versprechen die jüngsten Entwicklungen eine Konsolidierung der SOK.

Derzeit verfügt die SOK über 36 Diözesen, 41 Bischöfe, ca. 3.700 Pfarreien, ca. 2.000 Priester, 204 Klöster, ca. 260 Mönche und 1.000 Nonnen. Die sieben Priesterseminare befinden sich in Belgrad, Sremski Karlovci, Kragujevac, Niš, Cetinje (Montenegro), Foča (Bosnien und Herzegowina) und im Kloster Krka (Kroatien). Theologische Fakultäten bestehen in Belgrad und Libertyville (USA), außerdem gibt es eine Geistliche Akademie in Foča.

In Deutschland wird die SOK vertreten durch die Diözese für Mitteleuropa mit Sitz in Hildesheim, in der 32 Kirchengemeinden mit 40 Priestern organisiert sind.


Fußnoten:


  1. Vgl. dazu auch die Hinweise im Beitrag von Holm Sundhaussen, S. 243-252 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  2. Zur Haltung der SOK im Kosovokonflikt vgl. auch Irena Pavlović: Die Serbische Orthodoxe Kirche und die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 9 (2008), H. 2, S. 159 f. (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  3. In diesen Zusammenhang muss auch die Bitte des 94jährigen Patriarchen Pavle I. um „Rückzug aus aktivem Dienst“ eingeordnet werden (vgl. dazu SOK aktuell. Informationsdienst der Kommission Kirche und Gesellschaft der Serbischen Orthodoxen Diözese für Mitteleuropa, Ausgabe vom 25.10.2008). Patriarch Pavle I., seit 1990 an der Spitze der SOK, ist bereits seit längerer Zeit erkrankt und wird von Metropolit Amfilohije von Montenegro vertreten. ↩︎