Seelsorge der weiten Wege in Russland. Ein Gespräch mit Pater Karol Maria Mikloško

aus OWEP 3/2011  •  von Christof Dahm

Seit 2010 ist der aus der Slowakei stammende Pater Karol Maria Mikloško, der der Missionsgemeinschaft „Familie Mariens“ angehört, als Seelsorger in einem kleinen Dorf in Russland tätig. Die Fragen an ihn stellte Christof Dahm. Die beigefügten Bilder hat freundlicherweise Ottmar Steffan (Caritasverband der Diözese Osnabrück) zur Verfügung gestellt, der Pater Mikloško im Februar 2011 besucht hat.

In der Russischen Föderation bilden die katholischen Christen eine kleine Minderheit. Viele Gemeinden leben in Städten, andere weit zerstreut auf dem Land. Wo genau liegt Ihre Gemeinde Alexejevka, wie groß ist sie?

Pater Karol Maria Mikloško (Foto: Ottmar Steffan).

In der russischen Teilrepublik Baschkortostan liegt in einem ehemals russlanddeutschen Dorf unsere Missionsstation Alexejevka, etwa 80 km westlich der Millionenstadt Ufa und 150 km östlich vom Uralgebirge. In diesem 300-Seelen-Dorf lebten früher viele Wolgadeutsche, die unter Stalin 1941 aus der Ukraine hierher deportiert worden waren. Zur Pfarrgemeinde zählen heute in einem Umkreis von 220 km neben acht umliegenden Dörfern auch die Städte Oktjabrskij, Davlekanovo und Urussu an der Grenze zur Teilrepublik Tatarstan. Um nur einen kleinen Eindruck zu vermitteln, welch riesige Gebiete einzelne Pfarreien hier im Osten umfassen, sei erwähnt, dass zwischen Alexejevka und der „Nachbar“-Pfarrei Orsk im Ural eine Distanz von rund 750 km liegt.

Die von Ihnen betreute Gemeinde setzt sich aus Menschen verschiedener Altersgruppen, aber sicher auch aus verschiedenen Nationalitäten zusammen. Welche besonderen Probleme gibt es bei der geistlichen und karitativen Betreuung der Kinder und der Erwachsenen?

Eigentlich bin ich noch zu unerfahren und zu jung, um diese Fragen umfassend zu beantworten, da ich als Neupriester erst seit einem Jahr in der Russlandmission tätig bin. Als erster Missionar hat mein österreichischer Mitbruder Pater Johannes Franz Kirchner von 1994 an hier zusammen mit Schwestern unserer Gemeinschaft sechzehn Jahre gewirkt; leider ist er mit nur 48 Jahren am 11. Januar 2010 zu Gott heimgegangen. Mir wurde wenige Wochen später, im März 2010, die Weiterführung der Mission meines Mitbruders übertragen.

Was die Altersgruppen und die verschiedenen Nationalitäten betrifft, hat sich Alexejevka seit den neunziger Jahren sehr verändert. Einst wurde im Dorf ausschließlich Deutsch gesprochen. Inzwischen sind die meisten wolgadeutschen Katholiken in den Westen ausgereist, nachdem sie ihre Häuser an Baschkiren, Russen und Tataren verkauft hatten, die großteils konfessionslos sind und kein Interesse am Glauben haben. Diese Tatsachen haben das Pfarrleben selbstverständlich grundlegend verändert, und alles zusammen wirkt sich auf die pastoralen Zukunftsaussichten hier auf dem Land nicht gerade ermutigend aus.

Das größte Problem scheint mir darin zu liegen, dass den Menschen Glaube, Vertrauen und Liebe fehlen. 70 Jahre lang wurde ihnen gesagt: „Es gibt keinen Gott!“, und bei vielen scheint Gott in ihrem Leben tatsächlich keinen Platz zu haben! Verheerende Folgen des kommunistisch-atheistischen Denkens waren und sind Resignation und Hoffnungslosigkeit, ein enormer Werteverfall und die Sünde in jeder Form. So sehen wir es als Missionare immer mehr als unsere Hauptaufgabe, uns der Formung der „zukünftigen Generation“ anzunehmen, der Kinder und Jugendlichen. Sie wachsen zwar in einem Land von Märtyrern und Bekennern auf, doch sind gerade sie durch Führungslosigkeit und Gleichgültigkeit ihrer Eltern vielfach gefährdet und dem Alkohol und der Kriminalität ausgeliefert. Da im weiten Umkreis Alexejevkas nichts für die Kinder und Jugendlichen getan wurde, kümmerte sich Pater Johannes mit den Schwestern von Anfang an besonders um sie. In den letzten Jahren begann er hier in der Missionsstation auch mit dem Bau eines geräumigen Kinderhauses, dessen Innenausbau wir gerade fertig stellen. Dorthin sollen die Kinder in Zukunft zum Beten, zur Katechese, zum Spielen, zum Lernen und zum Übernachten während der jährlichen Lager kommen können, die wir vor einigen Jahren einführten.

Gruppenstunde (Foto: Ottmar Steffan).

Im Sommer laden wir ein zum „Minilager“ der Kindergartenkinder, zum Kinder- und Mädchenlager sowie zum Ministrantenlager des gesamten Dekanats mit unserem Diözesanbischof Clemens Pickel. Solche und ähnliche „Aktionen“ tragen dazu bei, die Beziehung zwischen uns Missionaren und „unseren“ Kindern zu festigen. Gleichzeitig bildet dieser gemeinschaftliche Rahmen eine schöne Möglichkeit, die Kinder neben Singen, Spielen, Theater, kleinen Ausflüge hin zu Jesus und zu den Sakramenten zu führen und ihnen die Wichtigkeit der Gottesmutter als ihre persönliche Mutter aufzuzeigen.

Viele Erwachsene sehen hier auf dem Land keine Perspektiven für ihr Leben und verfallen deshalb dem Alkohol. Wenn die Ehemänner zudem zum Geldverdienen vielfach für drei bis sechs Monate in die Bergwerke oder in die Hafenstädte des Nordens fahren müssen, hilft das dem Familienleben bestimmt nicht. Die Kolchose, die in kommunistischen Zeiten ein gemeinsames Unternehmen der Dörfer war, hat Bankrott gemacht; zurückgeblieben sind zahlreiche Arbeitslose ohne Geld und Lebensgrundlage. Dementsprechend oft kommt es vor, dass Familienväter oder -mütter sich mit der Bitte um materielle Hilfe bzw. um eine Arbeitsmöglichkeit an uns wenden. Lebensmittel, Kleidung, Medikamente und Heizmaterial sind ebenso gefragt wie z. B. ein neuer Warmwasserspeicher. Wir haben uns angewöhnt, die Bittsteller daheim zu besuchen. So lernen wir einerseits jede einzelne Familie besser kennen und können uns andererseits vergewissern, wie es materiell und spirituell wirklich um sie steht. Dank der Unterstützung von Wohltätern können wir in vielen Fällen gezielt helfen.

So kann es schon einmal vorkommen, dass wir einer Familie ein Schwein schenken, um bei ihnen Verantwortungsbewusstsein und die Beziehung zu eigenem Besitz zu fördern. Damit sich aber vor allem die Männer nicht gedemütigt fühlen, bitten wir manchmal den ein oder anderen arbeitslosen Bittsteller als „Gegenleistung“ auf der Missionsstation einfache Arbeiten zu übernehmen wie z. B. Holzhacken oder Schneeräumen.

Immer wieder hören wir im fernen Westen davon, dass gerade die alten Frauen während des Kommunismus am Glauben festgehalten haben. Können Sie darüber etwas mehr erzählen?

Besonders alte Leute leben hier in extrem armen Verhältnissen. Sie haben oft keine Familienangehörigen, die sich um sie kümmern, weil diese entweder weit weggezogen sind oder keinen Kontakt mit ihren alten Verwandten pflegen. Es ist für sie immer eine Freude, wenn jemand zu Besuch kommt, sich Zeit nimmt zum Zuhören, mit ihnen betet und ihnen die heilige Kommunion bringt.

Viele sind in Altenheimen untergebracht, die je nach Leitungspersonal sehr verschieden geführt sind. Im Nachbardorf konnten wir dank einiger Wohltäter für das dortige Heim z. B. eine neue Waschmaschine kaufen sowie Farbe zur Renovierung des gesamten Gebäudes.

Wir sehen es als unsere Aufgabe an, diese Babuschkas (Mütterchen) und Deduschkas (Väterchen), die nicht mehr zur heiligen Messe kommen können und ohne jede Altersversorgung auf sich allein gestellt sind, einmal in der Woche aufzusuchen. Immer wieder erzählen uns die Babuschkas in ihrem starken deutschen Dialekt von einst Erlebtem. Die meisten von ihnen haben unsägliche Leiden durchgemacht, doch ausnahmslos strahlen sie alle Friede und großes Gottvertrauen aus. Eine von ihnen, Elisabetha Andreevna Dajtche, lernte Pater Johannes bereits 1996 kennen. Bei jedem seiner Besuche fand er diese große Beterin umgeben von ihrem größten Schatz, einem Stapel handgeschriebener Gebetbücher. 1941 war sie als Deutsche von einem Tag auf den anderen aus der Ukraine in den Norden deportiert und irgendwo einfach aus dem Zug geworfen worden, „wo die Wölf’ noch g’sprungen sind“, wie sie sagte. Ihr Mann, der in ein Arbeitslager nach Sibirien verschleppt worden war, blieb für immer verschollen.

Auf der Suche nach Katholiken war Anfang der neunziger Jahre erstmals ein Priester ins Dorf Urussu gekommen. Die damals 80jährige deutschstämmige Ursula Feser erzählt, dies sei für sie gewesen, „wie wenn der Herrgott selber gekommen wär’. Hab’ ich doch nur in meiner frühen Kindheit die Gnad’ gehabt, einen Priester zu seh’n. Dann 60 Jahr’ nicht mehr!. Nie hätt’ ich mir gedacht, dass ich’s noch erleben werd’, einen Priester zu seh’n.“ Pater Johannes feierte später immer im Haus von Babuschka Ursula für die Dorfleute die heilige Messe. Selbst ihr Ehemann, ein Muslim, begann mit der Zeit, auf seiner Gebetsschnur mitzubeten.

Beschreiben Sie bitte, wie Ihr Alltag abläuft. Wie gestaltet sich die seelsorgliche Arbeit (Gottesdienste, Andachten), gibt es Angebote in verschiedenen Sprachen? Haben Sie Mitarbeiter wie z. B. Ordensschwestern oder auch engagierte Laien, die Sie bei der Katechese und beim Besuch von Kranken und alten Menschen unterstützen?

Momentan sind neben mir als Priester drei Schwestern und drei Brüder in Alexejevka tätig. Unser Alltag beginnt um 7.00 Uhr mit dem gemeinsamen Morgengebet in unserer Hauskapelle. Nach dem Frühstück geht jeder an seine Arbeit. Schreibarbeiten im Büro, Haushalt und Arbeiten ums Haus herum; Telefon- und Pfortendienst, Vorbereitung auf die nächste Predigt oder die Kinderstunde, auf die Katechese oder die kommende Missionsfahrt in eines der Dörfer – all das gehört zum Vormittag. Um 12.00 Uhr mittags treffen wir uns erneut gemeinsam zum Rosenkranzgebet in der Kapelle. Nach dem gemeinsamen Mittagessen haben wir ein wenig freie Zeit, ehe wir um 15.00 Uhr zur Heiligen Stunde, zur Stunde der Barmherzigkeit zusammen kommen. Dazu betrachten wir jeweils einen Kreuzweg und beten den Rosenkranz. Um 18.00 Uhr feiern wir dann in unserer Holzkirche täglich gemeinsam mit den Gläubigen auf Russisch die heilige Messe. Daneben verbringen wir viel Zeit im Auto, sei es auf der Fahrt zu pastoralen Besuchen in unseren Dörfern, sei es für Krankenbesuche mit Sakramentenspendung oder ganz einfach nur, um Einkäufe, Besorgungen auf dem Konsulat oder anderes in der Großstadt Ufa zu erledigen.

Jeden Dienstag-, Donnerstag- und Sonntagnachmittag leiten unsere Schwestern jeweils die Kinderstunde, zu der mittlerweile bis zu 30 Kinder in die Missionsstation kommen. Diese aufblühende Kinderpastoral ist uns eine ganz besondere Freude und ein Trost. Als vor einigen Jahren eine kurdische Familie aus Armenien hierher nach Baschkortostan kam, nahm ihr 12jähriger Sohn Vadim aus purer Neugier öfters bei uns an der heiligen Messe teil. Im Jahr 2009 fragte er schließlich von sich aus, ob wir ihn auf die Taufe vorbereiten würden, denn, so erklärte er: „Ich möchte ‚so ganz’ glauben.“ Zu Ostern 2010 empfing er die Taufe und die Erstkommunion und ist seither ein fleißiger Ministrant.

Was auch nicht vergessen werden darf: Zum Missionsalltag gehören bei uns gewissermaßen auch zahlreiche unvorhergesehene Situationen. So helfen wir im Winter oder Frühling oft den im Schnee bzw. Matsch und Schlamm steckengebliebenen Autos oder fahren einen ärztlichen „Notfall“ ins 30 km entfernte Krankenhaus. All dieses Wirken wäre ohne die Mitarbeit unserer Schwestern geradezu undenkbar. Sie sind mir als Priester eine nicht wegzudenkende Hilfe und Stütze. Ihre Gebete, Opfer und mütterliche Gegenwart tragen die Last der Mission wesentlich mit.

Winter in Alexejevka (Foto: Ottmar Steffan).

Zu Ihrer Gemeinde gehören sicher auch Menschen, die nicht unmittelbar im Ort Alexejewka wohnen. Welche besonderen Herausforderungen stellen sich für die Seelsorge der weiten Wege?

Wie schon erwähnt, betreuten wir früher zahlreiche Wolgadeutsche draußen in den verstreut liegenden Dörfern. Heute kommen nur noch kleine Gruppen von Gläubigen, vereinzelt „Babuschkas“, und manche ihrer Enkelkinder dankbar zusammen. Gleich geblieben sind die weiten Entfernungen innerhalb unserer Pfarrei, die flächenmäßig fast so groß ist wie die Schweiz. Gleich geblieben sind für die Betreuung unserer Gläubigen also auch die langen Fahrten, die wir jedoch ganz bewusst als Teil unserer „Seelsorge der weiten Wege“ betrachten. So legte Pater Johannes in einem Jahr bis zu 50.000 km zurück, und uns geht es jetzt ähnlich. Der Vorteil dabei ist, dass es sich auf einer zehnstündigen Fahrt sehr gut beten und meditieren lässt! Und Gott hält unterwegs immer wieder Überraschungen für uns bereit.

Natürlich sind die „weiten Wege“ anstrengend und besonders auch in Winternächten, bei -30 bis -40°C oder bei starkem Schneefall, nicht ungefährlich, wenn der Motor abstirbt oder man stecken bleibt. Auf einer solchen Fahrt zurück von Saratov, wo wir Bischof Clemens Pickel besucht hatten, lief plötzlich um halb drei Uhr morgens ein alter Mann in Hausschuhen vor unserem Auto auf der Fahrbahn. Er war bestimmt an die 80 Jahre alt und offensichtlich verwirrt. Er wusste nicht, wo er sich befand, und vor allem wusste er nicht, dass das Gehen auf der nachts von vielen LKW befahrenen Hauptstraße nach Moskau lebensgefährlich ist. Von den frostigen Temperaturen ganz abgesehen! So nahmen wir ihn in das nächste Dorf mit in der Hoffnung, er würde sich dort an irgendetwas erinnern. Dem war leider nicht so, und in unserer Ratlosigkeit fingen wir zu beten an. Gleichzeitig überlegte ich: „Sollen wir den alten Mann zum Schlafen mit zu uns nehmen oder sollen wir doch besser bei der Polizei um Rat und Hilfe fragen?“ In dem Moment kam ein Mann wie „zufällig“ gerade aus dem Haus, vor dem wir angehalten hatten. Wie sich herausstellte, musste er eben zu dem Zeitpunkt einen Familienangehörigen vom verspäteten Nachtflug am Flughafen abholen. Er kannte „unseren“ Opa und zeigte uns bereitwillig dessen Zuhause. Seine Kinder, Alkoholiker, hatten ihren dementen Großvater noch gar nicht vermisst, als wir an der Haustüre klingelten. Doch wir verstanden durch dieses frühmorgendliche Erlebnis, wie Jesus jede Seele ganz persönlich liebt. Er wollte nicht, dass dieser alte Muslim erfriert oder von einem LKW erfasst wird. So schickte er uns zur rechten Zeit auf unserer 1.000-Kilometerfahrt vorbei und ließ uns dann am rechten Ort den ebenfalls muslimischen Nachbarn treffen, der uns Auskunft geben konnte.

Zu manchen Pfarrkindern kommen wir nur einmal im Monat. Wir machen es gerne, denn gerade hier in der Diaspora wird man sich als Missionar vielleicht am deutlichsten bewusst, wie kostbar jede einzelne Seele ist. Allerdings möchte ich nicht verschweigen, dass es auch Zeiten des Ringens und der Dunkelheit gibt, in denen man sich fragt, ob dieses Den-einzelnen-Seelen-Nachgehen überhaupt einen Sinn hat. Auch Pater Johannes ging es im Winter 2004 einmal so. Da kam ihm von ganz unerwarteter Seite Trost zu, als nämlich zu seinem Erstaunen während der stillen Messvorbereitung plötzlich die Kirchentür aufging und sechs Kinder aus dem Nachbardorf hereinkamen. Bei eisiger Kälte waren sie sechs Kilometer zu Fuß durch den Schnee gestapft! Als hätte diese Überraschung nicht genügt, wiederholte sich der anstrengende Kirchbesuch der Kinder in den folgenden Tagen noch mehrmals.

Wie ist das Verhältnis zu den anderen Bewohnern von Alexejewka? Wie gehen die Christen miteinander um? Gibt es gemeinsame Andachten oder andere Formen der Zusammenarbeit?

Unser Verhältnis zu allen Bewohnern Alexejevkas, ob gläubig, ungläubig oder andersgläubig, ist gut. Vielleicht auch deshalb, weil die Leute darauf vertrauen können, dass sie, wenn es nötig ist, von uns Hilfe bekommen. Auch die örtlichen Behörden legen uns keine Hindernisse in den Weg, was unsere Mission oder Visa und Dokumente betrifft, und wir unsererseits helfen, wo es geht. Erst vor kurzem bat uns z. B. die Bürgermeisterin des benachbarten Dorfes um den Kauf einer neuen Tiefwasserpumpe für die einzige saubere Quelle im Ort, um damit Schule, Kindergarten, Kolchose und Geschäft versorgen zu können, da das bisher benützte Brunnenwasser gesundheitsschädigend ist.

Was die anderen Religionsgemeinschaften betrifft, so haben wir zwar keine gemeinsamen Gebetstreffen oder Liturgien, aber wir leben in friedlichem Miteinander. So besuche ich regelmäßig die orthodoxen Priester in der Umgebung. Im Nachbardorf gibt es eine evangelische Gemeinde mit einem Prediger, der von Beruf gelernter Elektriker und ein überaus liebenswerter Mensch ist. Viktor hat die gesamte Elektroinstallation unserer katholischen Kirche eingebaut und kommt ab und zu sogar zur Messe. Auffallend und interessant dabei ist, dass er für seinen Messbesuch fast immer den Samstag wählt, an dem ich stets über die Muttergottes predige.

Der muslimische Mullah lebt nur zwei Häuser weiter, und seine Enkelkinder kommen von sich aus regelmäßig zur Messe und zur nachmittäglichen Kinderbetreuung. Dabei nützen wir öfters die Gelegenheit, ihnen auch ein schönes Beispiel aus dem Leben der Heiligen zu erzählen. Dies gefällt den Kleinen immer sehr. Da sie daheim gleich alles weitererzählen, ist die Familie des Mullah immer auf dem neuesten Stand, was in der katholischen Kirche erzählt wird.

Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Wie fühlen Sie selbst als Seelsorger in einer ländlichen Gemeinde in Russland? Was sind Ihre wichtigsten Erfahrungen, die Sie unseren Leserinnen und Lesern mitteilen möchten?

Als ich nach dem Tod meines Mitbruders Pater Johannes im März 2010 nach dem Studium in Rom in die Russlandmission nach Alexejevka kam, war dies für mich eine große Umstellung. Aufgewachsen in der Stadt Nitra (Slowakei), hatte ich das Landleben als Schulkind und Jugendlicher nie unmittelbar kennen gelernt. Selbst die Schulferien bei meinen Großeltern beiderseits verbrachte ich stets in der Stadt. Später folgte das Theologiestudium in Rom, und so war besonders der Anfang in diesem kleinen Dorf „am Ende der Welt“ tatsächlich eine gewisse Herausforderung.

Das stille Leben hier, wo jeder jeden kennt, zwang mich geradezu – ganz unabhängig von der russischen Sprache – jeden Tag Neues zu lernen. Rasch verstand ich, dass es im Umgang mit den Dorfbewohnern und in der pastoralen Arbeit weniger „der hohen Theologie“ bedarf, dafür aber der Herzlichkeit und des Mitleides mit der inneren und äußeren Armut der Menschen. Vor allem braucht es eine gewisse Einfachheit, die ich persönlich wie in einem „Intensivkurs“ erwerben musste. Gefragt sind hier auch viel praktischer Sinn, ein Auge für das Wesentliche und eine schier grenzenlose Flexibilität, denn es vergeht kaum ein Tag, an dem sich nicht etwas ändert oder dazwischenkommt.

Die missionarische Arbeit scheint oft klein, ja unscheinbar. Sie besteht aus Besuchen bei Kranken und Sterbenden und der Spendung der Sakramente, aus dem Sich-Zeit-Nehmen für das Spielen und Beten mit den Kindern und Jugendlichen und aus langen pastoralen Reisen zu einzelnen Pfarrmitgliedern. Ja, es ist eben keine Stadtpfarrei mit 8.000 bis 10.000 Pfarrkindern. Doch der Blick auf den Guten Hirten genügt mir, um zu wissen, dass sich der liebevolle Einsatz für jede einzelne Seele lohnt. Wie erfüllend ist es beispielsweise, wenn ich irgendwo in einem „abgelegenen Nest“ einem Beichtkind zum ersten Mal wieder nach vielen Jahren die Absolution geben darf!

Alles in allem bin ich im Rückblick auf mein erstes „Missionarsjahr“ sehr dankbar, dass ich hier sein darf, und es schiene mir persönlich für jeden Priester aus dem Westen eine unbezahlbar reiche pastorale Erfahrung zu sein, für eine gewisse Zeit in Russland zu wirken. Man lernt in aller Einfachheit einfache Menschen näher zu Gott und zur Gottesmutter zu führen, ihnen zu helfen, an seine Liebe zu glauben, und auf diese Liebe mit Vertrauen zu antworten. Und dabei erfährt man selbst die Liebe Gottes.