Kompetenz und Leidenschaft

Die katholischen „Schulen für Europa“ in Bosnien und Herzegowina. (Reportage)
aus OWEP 4/2011  •  von Michael Albus

Prof. Dr. Michael Albus ist Mitglied der Redaktion dieser Zeitschrift.

Zusammenfassung

Seit 1994 gibt es – maßgeblich gefördert durch Renovabis – in mehreren Städten von Bosnien und Herzegowina eine Reihe von katholischen „Schulen für Europa“. Ihr Ziel ist es, die ethnische Teilung und Isolation des Landes, das immer noch unter den Folgen des Krieges leidet, zu überwinden. Vier Tage intensiven persönlichen Erlebens haben tiefe und bleibende Eindrücke hinterlassen. Die Reportage berichtet davon.

Im Flugzeug, knapp 5.000 m hoch. Drunten ziehen die verschneiten Alpen vorbei, Schneefelder, Grate im rosaroten Abendlicht. Eine unwirklich erscheinende Welt. Es wird Nacht. Kaum Lichter auf der Erde. Dann die Landung in Sarajevo. Die wenigen Passagiere steigen aus, verlieren sich im Flughafengebäude. Der Rückflug ist schon gestrichen, zu wenige Passagiere. Während der Fahrt in die Stadt regnet es. Der Ruf des Muezzin über den Dächern. Am anderen Morgen liegt Schnee auf den Bergen.

Bosnien und Herzegowina 2011. Ein Land am Rande des Abgrunds. Im Grunde dreigeteilt, zerrissen. Die Wunden des Krieges von 1992 bis 1995 sind längst nicht verheilt. Viele Ruinen im Tal der Bosna, viele auch in den Seelen der Menschen. Man kann es in jedem Gespräch, ausgesprochen oder unausgesprochen, hören: Wir wollen gehen! Eine verfahrene Situation. Zum Verzweifeln! Die Depression legt sich über den Alltag wie ein Leichentuch.

Ich fürchte noch lange schwere Zeiten vor uns, weil sich dieses Land politisch in einer Lage befindet, die kaum eine Perspektive erlaubt. Das Daytonfriedensabkommen 1995 hat uns die Art von Ungerechtigkeit auferlegt, die, statt die Zusammenarbeit und Integration zu fördern, politische Konflikte generiert. Es ist tragisch, aber die Spannungen und die Intoleranz sind heute größer als unmittelbar nach dem Krieg. Dafür wird ständig nur den nationalen Parteien und den heimischen Politikern die Schuld gegeben. Die internationalen Vertreter, die in Bosnien und Herzegowina letztendlich über alles entscheiden, kümmern sich nur darum, die ungerechte und undurchführbare politische Dayton-Lösung am Leben zu erhalten. Wenn ich die internationale Gemeinschaft nenne, heißt das in Bosnien und Herzegowina die USA. Unser Land ist zu schwach und zu klein, um die Last der Interessen der Weltmächte auf eigenen Schultern tragen zu können. Wenn diese Tatsache nicht beachtet wird, zerbricht dieses Land. Davon wird keiner profitieren. In Gegenteil! … Dies fühlen auch die siebzig Prozent der Jugendlichen, die aus diesem Land auswandern möchten.

Der dies sagt, ist kein Beobachter, keiner, der nur zuschaut, keiner,der zum Gottesdienst geht, die Menschen am Rand der Straße liegen sieht und vorübergeht. Es ist Pero Sudar, Weihbischof von Sarajevo, Jahrgang 1951. Wenn man im Land nach Leuchttürmen sucht, die in der Dunkelheit einen Weg weisen können, dann ist er nicht zu übersehen. Gott sei Dank! Für ihn war klar, dass die Kirche nicht abseits stehen darf, wenn es um ein sinnvolles und gutes Leben der Menschen geht, vor allem, wenn dieses Leben von innen und außen bedroht ist. Jeden Tag stellte und stellt sich ihm in einer Gegenwart voller Aussichtslosigkeiten, die aus einer aussichtslosen Vergangenheit herrühren, die Frage nach einer lebbaren und guten Zukunft. Pero Sudar hat diese Herausforderung angenommen.

Das Schulzentrum St. Joseph vor der Renovierung – in desolatem Zustand (Foto: Michael Albus).

Noch im Krieg, am 19. November 1994, wurde das Schulzentrum „Der heilige Joseph“ in Sarajevo gegründet, die erste Schule im System der „Schulen für Europa“, schon damals unterstützt von Renovabis. Im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Ende des Krieges 1995 entstanden dann weitere Schulen mit unterschiedlichen Typen in Tuzla, Zenica, Konjic, Travnik, Žepče, Banja Luka und Bihać. In den Schulen wurden eigene, differenzierte pädagogische Lehrpläne erarbeitet. Gemeinsames Ziel aller war und ist, die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler so zu fördern, dass deren Persönlichkeit sich entfalten konnte und kann. Das war und ist die Chance für innerlich freie und selbstbewusste Menschen. Aus dem Munde Pero Sudars hört sich das so an:

Klar, es wäre ganz logisch gewesen zu sagen, dass die Gründung der Schulen während des Krieges in Bosnien und Herzegowina unmöglich war. Aber es war dringend nötig! Die katholischen Familien wie auch andere hatten viele, zu viele Gründe, Sarajevo wegen des Krieges zu verlassen. Der entscheidende Grund dafür waren die Schulen, weil die Kinder der Minderheiten in vielen Schulen in Bosnien und Herzegowina wie auch in Sarajevo brutal diskriminiert wurden. Die politische Intoleranz, die in unserem Land immer auch ethnische und religiöse Resonanz hat, herrschte auch in den Schulen. Die Kriegsideologen hatten die ethnische und religiöse Intoleranz auch durch die Schulen verbreitet, um leichter die Angehörigen der anderen Völker zu vertreiben und das Territorium für sich zu erobern.

Die Schulen für Europa sollten also die katholischen Familien ermutigen, in Sarajevo und in anderen Gebieten des Landes zu bleiben und mit den Nichtkatholiken, den Muslimen, den Orthodoxen und auch mit den wenigen Juden zusammenzuleben. Deswegen sind diese Schulen als interethnische und interreligiöse gedacht und verwirklicht. Ein Beitrag der Kirche gegen die Ideologie der Intoleranz und der Trennung unter den Völkern und Religionen, eine konkrete Tat für den Frieden.

Das Schulzentrum St. Joseph heute (Foto: Michael Albus).

Nehmen wir das Beispiel des Schulzentrums in Sarajevo als Beleg. Jeden Tag gehen hier rund 1.300 Schülerinnen und Schüler aus und ein. Ein Haus, berstend vor Leben, die Räume hell und klar. Viel Licht, viel Licht, das fällt vor allem auf. Und die zupackende Freundlichkeit der Schüler und Lehrer. Da ist nichts aufgesetzt, ganz spontan und offen ist die Atmosphäre.

Die ethnische und religiöse Herkunft der Schülerinnen und Schüler spiegelt das Profil der Stadt und der Region wieder: 80 Prozent Muslime, 20 Prozent orthodoxe Christen. Es gibt eine neunjährige Grundschule, ein Gymnasium und eine Krankenpflegeschule.

Die Bildung einer eigenen religiösen und damit auch, im richtig verstandenen Sinn, politischen Identität bleibt eines der Hauptziele. Missioniert wird nicht. Die Schule ist keine religiöse Schule. In den Klassenzimmern finde ich keine religiösen Symbole. Kruzifixstreit? Nein danke! Dagegen steht eine gelebte Toleranz, nicht theoretisch verschwommen. Sie wird Früchte tragen im späteren Leben der Kinder und Jugendlichen. Ein kritischer Punkt ist für manche, die von der alten Missionsideologie der Kirche nur schwer Abschied nehmen können, die geringe Stundenzahl des katholischen Religionsunterrichts. Wer die Wirklichkeit ernst nimmt, muss auf die Ideologie eines wie immer gearteten zahlenmäßigen Erfolges verzichten. Sie führt in den Abgrund, politisch wie kirchlich. Gefragt ist Kompetenz. Kompetenz und pädagogische Leidenschaft. Die habe ich hier in hohem Maße gefunden. Schülerinnen und Schüler sprachen von ihren Lehrerinnen und Lehrern als ihren „Freunden“. Viele der überwiegend jüngeren Lehrerinnen und Lehrer waren selbst einmal Schüler an dieser Schule.

Ich sitze mit einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern in der Bibliothek. Die Deutschlehrerin Sanja Portner ist dabei. Ich habe nicht den Eindruck, dass ihre Anwesenheit hemmend auf die Kinder wirkt. In einer Stunde lebhaften Gesprächs entsteht ein Profil aus Sätzen und Meinungen.

Sebastian, 13: Vater aus Deutschland, Mutter aus Dalmatien. Er sagt ausdrücklich, dass er Christ bleiben und als solcher auch im Land leben und arbeiten will.

Paul, 14, will Arzt werden.

Robert, 14, fühlt sich in der Schule sehr wohl. Sie ist nach seiner Überzeugung die „beste Schule in ganz Sarajevo“.

Angela, 14, hat einen muslimischen Freund und findet dabei „nichts Besonderes“.

Über ihre Eltern reden alle mit Achtung, auch wenn sie manches an ihnen kritisch sehen. Und alle empfinden es als ein Privileg, diese Schule zu besuchen.

Danach erzählt mir Ivica Mršo, der Direktor, ein Mann mit einer unnachahmlichen Mischung aus Pragmatismus und Leidenschaft, dass auch der Imam von Sarajevo seinen Sohn auf diese katholische(!) Schule geschickt hat. Warum? Seine Antwort: Weil es eine gute Schule ist! Kompetenz geht vor Religion und Konfession. Kein schlechtes Rezept für eine christliche Schule, denke ich. Auch kein schlechtes Rezept für ein Europa der verschiedenen religiösen Überzeugungen. Religion als positives Politikum, als Machtverzicht im herkömmlichen und abgründigen Sinn.

Für Europa wohl! Aber wie sieht es im eigenen Land aus? Welche Haltung nimmt der Staat, die Regierung gegenüber den „Schulen für Europa“ ein? Hat er ein wirkliches Interesse daran, die ethnische Isolation aufzubrechen? Ich frage das Pero Sudar ganz unverblümt. Er antwortet ebenso:

Ich wäre sehr froh, eine positive Antwort geben zu können. Dies würde nämlich bedeuten, dass dieses Land eine gesunde Führung und hoffnungsvolle Zukunft hat. Aber, leider, es ist nicht so. Im Gegenteil! Diese Schulen sind für viele ein Störfaktor. Für eine Seite sind wir nicht genug kroatisch und katholisch, weil wir auch für die anderen offen sind. Für andere sind wir zu kroatisch und katholisch, weil wir unsere Identität nicht verleugnen. Für die Vertreter der internationalen Gemeinschaft sind wir nicht akzeptabel, weil wir die Identität jedes unserer Schüler pflegen und ermutigen. Unsere Vision ist es, dass das friedliche Zusammensein auf Dauer nur unter denen möglich ist, die sich ihrer eigenen Identität bewusst und gerade deswegen für die Anderen offen sind. Dennoch: Unsere Schulen werden von einzelnen Politikern geachtet. Viele von ihnen haben sich persönlich eingesetzt, diesen Schulen zu helfen. Das genügt uns!

Das Profil der Schule nimmt im Gespräch mit den älteren Schülerinnen und Schülern deutlichere Konturen an. Mir fällt die Unbefangenheit auf, die Überlegtheit und Spontaneität der Meinungsäußerungen. Dahinter werden Persönlichkeiten sichtbar.

Goran, 19: „Wir lernen hier mehr als an anderen Schulen. Wir lernen Freiheit. Lehrer und Schüler sind Freunde.“

Sanjin, 18: „Hier wird kein nutzloses Wissen vermittelt. Die Schule ist ethnisch gut gemischt, es herrscht eine gute Arbeitsatmosphäre. Meine Heimat ist jetzt schmutzig, ich will sie sauber machen.“ Ob er später einmal Kinder haben will? „Ja, eine ganze Fußballmannschaft!“

Eva, 18: „Toleranz wird hier konkret, ist nicht nur theoretisch. Kirche erlebe ich hier als offen. Es gibt auch keinen Unterschied zwischen ‚arm‘ und ‚reich‘“.

Jelena, 19: „Ich bin Atheistin, aber die Schule finde ich gut, weil offen und sachlich orientiert“. „Gott sei Dank“, fügt sie noch hinzu. Auf meine Frage: Wie kann eine Atheistin Gott sei Dank sagen?, antwortet sie ohne Zögern: „Na ja, ich bin eben eine religiöse Atheistin!“

Am Ende des Tages bitte ich Ivica Mršo, mir das pädagogische Konzept der Schule zu erläutern. Die Antwort ist kurz und bestimmt: „Jesus ist der Lehrer!“

Ich wohne in der Schule unter dem Dach. Es ist Abend. Draußen regnet es heftig. Um 21.50 Uhr hallt der Ruf des Muezzin über die nächtliche Stadt: Allahu akbar! Gott ist größer! Dann schlägt die Uhr der nahen Kirche zehn Mal. Im Haus wird es ruhig.

Keine Frage, diese „Schule für Europa“ ist ein außergewöhnliches Projekt. Denn was hier geschieht, spiegelt über die Sondersituation von Bosnien und Herzegowina hinaus die zu erwartende und bereits eingetretene religiöse Entwicklung in Gesamteuropa wieder. So wird es mittel- bis langfristig, mit regionalen Unterschieden, in Europa überall sein. Deshalb kann jedes europäische Land daraus lernen, religiös, gesellschaftlich und politisch. Eine Schule als Laboratorium, aber schon weit über das Versuchsstadium hinaus gekommen.

Das zu akzeptieren und umzusetzen, löst Ängste aus. Die Frage ist: Wie wird das Religionsprofil der jungen Leute, die durch diese Schule gegangen sind, später aussehen? Werden die überscharfen Profile der herkömmlichen Religionen nicht abgeflacht? Werden hier die Umrisse einer „neuen“ Religion sichtbar? Im Gespräch mit den älteren Schülerinnen und Schülern ist mir deutlich geworden, wie sehr auch hier die „alte“ Kirche an Lebensrelevanz verloren hat. Sie wird in ihrer tatsächlichen Bedeutungslosigkeit einfach unterlaufen, nicht nur vom „Geist der Zeit“, sondern vor allem von der Radikalität eines bewussten Lebens. Man schätzt noch ihren Dienst, hängt ihr aber nicht mehr an.

Was bleibt dann der Kirche noch, so fragen manche, die Bedenken tragen angesichts einer solchen pädagogischen Strategie? Die Antwort: Sie muss Trägerin, notfalls Dulderin dieser Entwicklung sein. Insofern eine gefährliche Erinnerung bleiben, Partisanin, Senfkorn, Sauerteig sein – und es immer mehr werden. Religion als kompetente und leidenschaftliche Unterwanderung des Gegebenen: eine bestechende Idee. Aber dazu braucht es Menschen der Kirche, die den Mut und die Ausdauer dazu haben.

Pero Sudar sieht die Dinge klar und nüchtern.

Ich glaube, die Religionen werden das verlieren, was ihnen nie gehören sollte und was ihre wirkliche Aufgabe immer nur behinderte: die Macht oder den Einfluss auf die Macht. Die Kirche ist aus vielen Gründen in diesem Prozess als erste dran. Und es ist gut so! Die Religionen und die Kirche werden bestehen, weil der Mensch nicht überleben kann, ohne zu glauben. Der Mensch verliert sich ohne das Licht von oben, und die Menschheit hat ohne die Bergpredigt keine menschliche Perspektive.

Die Kirche muss ihre Sendung immer wieder neu und tief bedenken – und danach handeln. Es ist dringend notwendig, die Botschaft Jesu von menschlichen und historischen Splittern zu befreien und sie den Menschen echt anzubieten. Um dies glaubwürdig tun zu können, muss die Kirche sich ständig bemühen, ihre eigenen Strukturen menschlicher, gerechter und transparenter zu machen. Es ist ein alter christlicher Satz, dass die Gnade die Natur voraussetzt. Ich habe den Eindruck, dass dieser Satz im konkreten Tun der Kirche nicht genügend beachtet wird. Für viele Menschen wird dies zum Hindernis für ihren Glauben an Jesus Christus.

Die Begegnung mit dem Islam kann der Kirche nur helfen, ihr eigenes Umdenken besser und grundsätzlicher zu machen. Die immer stärkere Präsenz des Islams in den traditionell „christlichen Ländern“ gefährdet die Kirche und das Christentum nicht, sondern zeigt, wie stark oder schwach unser Glaube an Jesus Christus ist. Wenn es diesen echten und unverfälschten Glauben gibt, wird die Anwesenheit des Islams ihn stärken und echter machen. Wenn es diesen Glauben nicht gibt, wenn es nur um Tradition geht, wird sich seine Schwäche schneller und leichter zeigen. Die Kirche kann meiner Meinung nach auf Dauer von der Präsenz des Islams nur profitieren. Dies gilt auch umgekehrt! Klar, unter der Bedingung, dass die Kirche und der Islam, die Christen und Muslime es nicht zulassen, von der Politik gegen das eigene Interesse ihrer Religion ausgenützt zu werden.

Ich fahre mit Kristina Medic, der Direktorin der Elementarschule im Schulzentrum von Sarajevo, nach Žepče. Eineinhalb Stunden Autobahn durch das Tal der Bosna. Rechts und links hohe, grüne Berge, tief eingeschnittene Seitentäler dazwischen. Entlang des Flusstales, an beiden Ufern, stehen viele verlassene Häuser. Sie werden seit dem Krieg nicht mehr bewohnt, zerfallen. Hier kann man den Krieg nicht vergessen.

Die kleinen Dörfer im Tal sind geschlossene Welten. In jedem, auch dem kleinsten, steht eine große Moschee mit hohem Minarett, unübersehbar. Es gibt wenig christliche Kirchen. Das Christentum ist sichtbar eigentlich nur in den Städten.

In Žepče liegt die Schule am Rande der kleinen Stadt. Aber keine Spur von Randerscheinung! Reges Leben auch hier, 600 Schüler besuchen das Gymnasium, 240 machen eine technische Ausbildung in Elektrotechnik, Mechatronik und Installation. Heizung, Stromversorgung, die Stühle wurden von den Schülern in Eigenarbeit selbst hergestellt. Die Verantwortung für die Schule liegt bei den Salesianern, die man überall in der Welt findet, wo es um junge Menschen geht. Gerade wird eine neue Mehrzweckhalle gebaut. Auch hier eine freundliche, offene Atmosphäre, keine Schulverdrossenheit.

Wir fahren weiter in Richtung Zenica. Auch dort 600 Schülerinnen und Schüler. 240 von ihnen besuchen das Gymnasium, 360 die Elementarschule. Ein Gang durch die Bibliothek zeigt ein Manko: es sind nur ältere Bücher zu finden. Meist sind es Geschenke, auch aus Deutschland. Das Geld für Neuanschaffungen fehlt. Als wir ankommen, findet gerade eine Probe des Schulchores statt. Die Probe wird unterbrochen. Dann singen die Schülerinnen und Schüler ein modernes Lied auf Deutsch. Ein Gastgeschenk aus Tönen. Wunderbar!

Die Schule in Zenica wurde, wie die in Sarajevo, noch während des Krieges gegründet. Eine kleine starke Insel in einem Meer von ungeklärtem, vielfach angefochtenem Leben. Ein Ort, von dem man starten kann in ein Leben, das sinnvoller erscheint als das gegenwärtige in diesem Land. Hoffnung konkret. Aufbruch im doppelten Sinn des Wortes.

Noch eine Stunde Autofahrt und wir sind wieder in Sarajevo. Beim Einfahren in die Stadt, angesichts der hohen Berge, kann man sich leicht vorstellen, wie schrecklich der Beschuss von den umliegenden Höhen im Krieg für die Bevölkerung gewesen sein muss. Keine Möglichkeit sich zu verstecken, hilflos der kriegerischen Gewalt ausgesetzt. Kaum eine Familie blieb davon verschont. Das erfahre ich auch, als ich mit zwei Lehrerinnen einen kurzen Gang durch das Stadtzentrum von Sarajevo mache.

Auffällig sind die hohen Häuser aus der KuK-Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und die niedrigen ottomanischen Häuschen. Man betritt, aus der KuK-Stadt kommend, ohne Übergang den muslimischen Teil. Von außen scheint alles friedlich zu sein. Aber, so erzählen die beiden Lehrerinnen, die Stadt – und das Land – werden im Innern beherrscht vom Hauptproblem: der ethnischen Isolation. Sie ist nach dem Ende des Krieges 1995 geblieben, auch bei fortschreitender Säkularisierung der beiden Religionen – beim Islam langsamer, beim Christentum schneller. Verdeckt wird sie auch von einer künstlich erzeugten wirtschaftlichen Scheinblüte. Auf die Frage, wie es weitergehen soll in diesem Land, bekomme ich keine klare Antwort, oft nur ein Schulterzucken. Ich begreife, warum so viele junge Menschen das Land verlassen wollen. Ivica Mršo, sagt mir: Bosnien und Herzegowina is closed. Wer kann, möchte raus. Vor allem nach Kroatien. Dort ist das Meer mit einer schönen warmen Küste. Man kann nach Italien!

Beim letzten Treffen mit Pero Sudar wird mir noch einmal überdeutlich klar: Die „Schulen für Europa“, die Lehrerinnen und Lehrer, die dort arbeiten, leisten im Grunde Sisyphos-Arbeit. Aber wie hat der französische Schriftsteller und Philosoph Albert Camus einmal gesagt: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Dass das möglich ist, habe ich hier gesehen.

Pero Sudar macht sich keine Illusionen: Im Grunde ist Bosnien und Herzegowina eine Figur auf dem Schachbrett der Großmächte geblieben – und so konstruiert worden, dass es nicht der eigentlichen Bevölkerungsmehrheit, den Muslimen, gehören darf. Es ist aus der Perspektive der Großmächte, Russland und USA, ein kleines Steinchen des weltweiten Kampfes gegen das politische Erstarken des Islams. Innerhalb dieses Blickfeldes, darüber ist sich Pero Sudar im Klaren, werden die „Schulen für Europa“ nicht von allen als sinnvoll angesehen. Aber, so fügt er verschmitzt lächelnd hinzu, sie sind ein Faktum, und das Abschaffen wäre schwieriger, als die Gründung gewesen ist. Und die war auch nicht ganz leicht. Widerstände waren auch in Rom zu spüren. Dort wurde Pero Sudar einmal gefragt, ob die Schule, bei so wenig katholischem Religionsunterricht im Lehrplan, noch eine „katholische“ Schule sei. Es gibt das Festungsdenken auf allen Ebenen. Die „Schulen für Europa“ sind ein Versuch, die Festungen von innen her aufzubrechen, damit Menschen aufbrechen können in ein sinnvolles Leben draußen vor den Toren.

Pero Sudar wird sehr deutlich:

Es wäre sehr wichtig, diesem Land und seinen Bürgern und Völkern eine wahre Chance zu geben. Es handelt sich um ein multiethnisches und interreligiöses Land, in dem seit Jahrhunderten die Verschiedenheiten mit- und nebeneinander existieren. Dieses Land sollte, das wünsche ich mir, als ein Beispiel dafür angesehen werden, dass ein Leben in Vielfalt heute möglich ist! Trotz allem, was hier geschehen ist, sind unsere Bürgerinnen und Bürger immer noch bereit, friedlich zusammen zu leben und dafür auch die nötigen Opfer zu bringen. Aber sie sind mit Recht nicht mehr bereit, eine konstitutionelle und zukunftslose Ungerechtigkeit, die uns wegen der fremden Interessen auferlegt wird, zu akzeptieren. Um dieses Land zu retten, müsste man schnell handeln. Es könnte bald zu spät sein, weil ein Volk dieses Landes, die Kroaten, unter dem Druck der institutionellen Ungerechtigkeiten und der flachen Pragmatik der internationalen Vertreter, immer mehr auswandert. Dies ist eine wahre Gefahr, weil dieses Land nur mit Serben und Bosniaken nicht bestehen kann.

Auf dem Weg zum Flughafen besuche ich noch die Grundschule in Stup. 400 Kinder kommen täglich hierher. Der Charakter der Schule ist ländlicher und die Zahl der muslimischen Kinder größer. Hier wird nur katholischer Religionsunterricht erteilt. Es gibt noch viel zu tun.

Ivica Mršo kommt und fährt mich zum Flughafen. Im Unterschied zur Ankunft herrscht hier heute bedrängende Hektik. Ein Sonderflug in den Libanon ist angesagt. Christliche Pilgerinnen und Pilger, die den Marienwallfahrtsort Medjugorje, zwei Autostunden entfernt, besucht haben, wollen in ihre Heimat zurückkehren. Ich muss über Zagreb, Hauptstadt Kroatiens, zurück fliegen. Die Direktverbindung nach Frankfurt ist nicht zustande gekommen.

Bosnien und Herzegowina, ein Land am Rande des Abgrunds?

Ja und Nein! Ja, weil die menschen- und wirklichkeitsferne Politik der Großmächte nichts ist als Lähmung, als Verhinderung von Leben. Nein, weil es Menschen dort gibt, die dagegen aufstehen und angehen – und andere mitnehmen. Es sind unglaublich starke Menschen. Sie tauchen – leider – nicht in den Schlagzeilen auf. Aber in den Herzen der Kinder und Jugendlichen sind sie fest verankert. Sie bleiben, wo andere die Flucht ergreifen. Ein starkes Stück!