Theologische und pastorale Aspekte des Menschenhandels

aus OWEP 2/2015  •  von Ottmar Fuchs

Prof. Dr. theol. Ottmar Fuchs (geb. 1945) war nach dem Studium der Philosophie und Theologie in Bamberg und Würzburg und der Priesterweihe (1972) zunächst in der Seelsorge tätig. Promotion und Habilitation erfolgten im Fach Pastoraltheologie. 1981/1982 wirkte er als Professor für Pastoraltheologie und Kerygmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät Bamberg, danach bis zur Emeritierung im Jahr 2010 als Professor für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.

Zusammenfassung

Menschenhandel, weltweit ein milliardenschweres „Kapital“, entwürdigt die Menschen bis zum äußersten. Seine Wurzeln liegen in der Einstellung, Menschen für eigene Zwecke zur Ware zu erniedrigen. Die staatliche Verfolgung des kriminellen Menschenhandels und das Engagement vieler Befreiungsinitiativen ist auf breiter Basis mit einem Mentalitätswandel zu unterstützen, in dem Menschen über ihren Nutzen hinaus ihre eigene davon unabhängige Würde erhalten und behalten. Dieses Anliegen trifft auch die Religionen und ihre Gottesvorstellungen. In der Entwürdigung Gottes am Kreuz hat die christliche Pastoral eine eindeutige Perspektive: nämlich sich in der Spur des Gekreuzigten mit den Entwürdigten zu solidarisieren und dafür sowie wie für den nicht verzweckenden Umgang mit Menschen soziale und spirituelle Kräfte zu mobilisieren.

Menschenhandel als Spitze des Eisbergs

Der Menschenhandel, sei es in der sexuellen Ausbeutung, sei es in Ausbeutung von Arbeitskraft, ist die Spitze des Eisbergs, der mit den destruktiven Trieben der Menschen und ihrer kapitalistischen Beschleunigung von Gier und Wachstum gegeben ist. Die Grenzen zwischen krimineller Energie und Kapitalgewinn sind labil und fließend, wie die öffentlichen Beispiele der Steuerhinterziehung zeigen.

In der Kriminalisierung der Sklaverei in der Moderne zeigt letztere zwar ein anderes Bewusstsein der Sklaverei gegenüber, doch in der Folge geht die damit verbundene Haltung im Frühkapitalismus nicht verloren, nämlich Menschen weitgehend im Kontext ihrer rentablen Arbeits- und Marktfähigkeit zu benutzen. Das System zeigt sich bis zur Kenntlichkeit entstellt, nämlich den Menschen als Ware zu betrachten, auf Kosten anderer vorwärts zu kommen, das entscheidende Stück des Mehrseins und Mehrhabens den anderen gegenüber wenn nötig rücksichtslos herzustellen, damit die Gier (gar nicht zuerst die Habsucht) befriedigt wird. Der Finanzcrash zeigt den Irrsinn und die unzähligen Opfer dieser Strategien weltweit. Mahatma Gandhi hat das Problem durchschaut: „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“

Es geht immer zuerst darum, den kriminellen Menschenhandel mit allen staatlichen und rechtlichen Mitteln zu bekämpfen Aber es geht auch darum, ihn als die äußerste Verwirklichungsformen von Einstellungen, Haltungen und Praktiken wahrzunehmen, die es in vielen, auch religiösen Bereichen der Gesellschaft gibt, und so seine Verwurzelungen im Alltag zu entlarven. Was ist das „Wesen“ des Menschenhandels? Wann beginnt das?

Die oft verschleierte Fratze von (auch religiösen) Institutionen und Menschen ist abzunehmen, damit offenbar werden: Habsucht, Herrschsucht, Befriedigungssucht und Gewalttrieb, Gier, die Erniedrigungssucht, die Gewaltfaszination, das für Andere schädliche Ausleben des Sexualtriebes, und wo man sich nicht scheut, Menschen für die eigenen Zwecke einzusetzen, gar ihre Not auszunutzen, und sie zu erniedrigen. Wo Menschen schon lange vor kriminellem Verhalten zur Ware werden, mit jeder Art von Verdinglichung von Menschen. Die notwendige Entrüstung über die Anderen, über die Täter, verbindet sich dann mit dem entsprechenden Erschrecken über katastrophale Haltungen, die als normal gelten und ungefährlich daherkommen.

Wenn ein deutscher Generalvikar sagt, dass man mit der Priesterweihe die Menschenrechte verliert, weil man Gehorsam schwört, zeigt sich darin schon die Wurzel solcher Einstellungen. Schon jede Instrumentalisierung eines Menschen, jedes ihn zum Objekt der eigenen Wünsche oder von Systemen zu machen, ist eine Form oder Vorform der Sklaverei. Denn Menschenhandel und Menschensklaverei beginnen in den Köpfen, beginnen in den Herzen der Menschen, genährt von ihrer Gier und Herrschsucht. Es ist die Sucht nach Zugriffigkeit, Menschen in der Hand zu haben und zu halten, sie zu besitzen, sie für die eigenen Zwecke einzusetzen. Wo sogar „Liebe“ an eine Wenn-Dann-Struktur gebunden wird, wo sie klammert und die Freiheit knebelt, wo sie mit Unterwerfung erkauft ist, beginnt das „Sklavenhaus“.

Ausgebeutet und erniedrigt. (Copyright: Inge Bell & Ales Pickar)

Am schlimmsten ist die Doppelverdinglichung von Arbeit und Sexualität, in der Zwangsprostitution als Kombination von beidem. Die Genderperspektive drängt sich unabweisbar auf und die entsprechende Herrschsucht und Unterwerfungssucht von Männern gegenüber den Frauen: Warum ist gerade der Frauenhandel ein besonderer Anteil des Menschenhandels, mit der darin extremen Demütigung von Frauen als Frauen? Entsprechende Unterdrückungsmechanismen begegnen bereits im Alltag: Sexuelle Belästigung im Alltag, Ausgrenzungs- und Unterdrückungsstrategien, Mechanismen der Degradierungen. Es gibt wenige Kontexte und Rollenträger, die hier unschuldig sind. In der Zwangsprostitution ereignet sich die gewalttätige Demütigung am intensivsten, weil hier, wie bei der Folter, der Körper direkt getroffen wird.

Nacktes Leben

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben spricht in seinen Schriften zum „Homo sacer“ (zum „endgültig verdammten und ausgegrenzten Menschen“) von der Strategie der Herrschenden, bestimmte Menschen und Kreise auf das nackte Leben zu reduzieren. Es ist die souveräne Macht, die über den Ausnahmezustand der anderen entscheidet und bestimmte Lebewesen außerhalb der Rechtsordnung stellt. Das Leben, das in dieser Ordnung gefährlich ist, wird zum Ausnahmezustand erklärt und zugleich wird beansprucht, über das Ausgeschlossene zu herrschen.

Derart radikalisiert Agamben die Vorstellung des doppelt ausgeschlossenen Menschen (aus der Gottesbeziehung, insofern seine Opferung verboten ist, und aus der Menschenbeziehung, insofern seine Tötung nicht strafbar ist). „Das ‚Sacer esto‘ im römischen Recht nämlich bedeutete einen doppelten Ausschluss des Delinquenten: Durch die Straffreiheit der Tötung aus der Sphäre des Menschen und durch die Nichtzulassung der Opferung aus der Sphäre der Götter. Ein verurteilter homo sacer existiert als lebendiger Toter im Niemandsland jenseits von Gottes- und der Menschenwelt, in dessen Grauzone zulässige Tötung und verbotene Opferung zusammenfallen. Als ‚vogelfreier Wolfsmensch‘ verkörpert er das nackte Leben im Zugriff souveräner Macht.“ (Christian Bauer).

Im christlichen Bereich kann diese Beschreibung mit dem gekreuzigten Christus in Verbindung gebracht werden, denn dieser ist am Kreuz ebenso verflucht wie vernichtet. So kann ich mir keine theologische Disziplin vorstellen, die nicht diese Perspektive des geschundenen Gottessohnes mit der Wahrnehmung aller Geschundenen und ihrem Leiden verbindet und sich zugunsten ihrer Rettung und „Auferstehung“ stark macht. Es geht um das Empowerment, um die Ermächtigung zugunsten der Definitionsmacht der Betroffenen. Und in dieser Dynamik gleichzeitig um die Erschütterung von Haltungen und Mentalitäten, die in sich, und wenn auch noch unsichtbar, die Brut der Versklavung, der Ausgrenzung und der Unterjochung von Menschen in sich tragen.

Biblische Spur 1: Die Sklavin des Naaman

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an die persönliche und strukturelle Umkehr des Naaman (in 2 Kön 5). Die junge Sklavin, die er im Krieg geraubt hat, ist auf der untersten sozialen Stufe. Gleichwohl taucht sie am Anfang der Geschichte auf und ist die erste, die spricht: Der hautkranke Feldherr kann Heilung beim Propheten in Israel, bei Elischa finden. Naaman macht sich tatsächlich auf die Suche nach Heilung. Denn niemand anders kann ihm helfen. Alle Machtstrategien versagen (Diplomatie, Geld und Militär). Die Sklavin aus Israel bewegt ihn zum Systemwechsel.

Der feindliche aramäische Feldherr wird in der Hässlichkeit seiner Herrschaft, in der Ausbeutung, in seinem Siegersein entlarvt und muss sich aller Macht entledigen, um gesund werden zu können. Die Empfehlung der Sklavin ist die Basis der ganzen Geschichte, und Naaman muss auf dem Höhepunkt der Geschichte tief hinuntersteigen, ja er muss werden wie die Sklavin selbst, nackt, ohne alle Sicherung und ganz unten. Dies wäre die leitende Perspektive für Herrschende: Aus der Perspektive der Sklavin kann man entdecken, wie man die Hässlichkeit des Bösen los wird und wo persönliche und strukturelle „Heilung“ zu finden ist.

Die Sklavin ist „homo sacer“: Sie ist doppelt ausgeschlossen, als Israelitin, als Feindin, und als Anders- und Falschgläubige. Sie ist weder gesichert, noch opferfähig und darin ist sie vogelfrei. Sie verkörpert tatsächlich das nackte Leben im Zugriff der Macht. Der Souverän bekommt Aussatz. Damit zeichnet sich das nackte Leben der Anderen in seinen eigenen Leib ein, wird darin offenbar. Seine Machtausübung ist krank, eklig, schmutzig und unheilbar. Der Ausweg besteht darin: Er muss werden wie die Sklavin, sich entäußern, bis aufs nackte Leben im Jordan, im Land, wo er keine Macht hat, wo ein fremder Gott herrscht. Von einer Feindin wird er ins nackte Leben gestoßen. Ihre Ohnmacht wird zur Macht, zu Gunsten des Anders-Werdens des Mächtigen. Auf dessen Seite ist notwendig: Hinhören, Ortswechsel, Teilen und Sich-heilen-Lassen. Dies ist der einzige und zugleich unwahrscheinlichste Ausweg: Dass das Kapital sich selbst abgibt, dass die Menschen ihre Gier abstellen. Aber wie? Diese Geschichte ist eine Erinnerung, auch eine Erfindung gegen die Realität, gegen den Irrealis, die Unmöglichkeit ihrer Veränderung, mit Hoffnung und zum Protest befähigend.

Biblische Spur 2: Gericht über Israel

Im „Gericht über die Völker“ bei (Am 1-2) spricht der Prophet Amos: Der Herr brüllt vom Zion her, aus Jerusalem lässt er seine Stimme erschallen. Da welken die Auen der Hirten, und der Gipfel des Karmel verdorrt … So spricht der Herr: Wegen der Verbrechen, die Israel beging, nehme ich das Gericht nicht zurück: weil sie den Unschuldigen für Geld verkaufen und den Armen für ein Paar Sandalen, weil sie die Kleinen in den Staub treten und das Recht der Schwachen beugen. Sohn und Vater gehen zum selben Mädchen, um meinen heiligen Namen zu entweihen.“ (Am 2,6 f.).

Israel wird hier die (auch sexuelle) Ausbeutung der Armen und Fremden (in einer Art von frühkapitalistischen Verhältnissen) vorgeworfen und damit das Vergessen seiner Geschichte mit Gott: „Dabei bin ich es gewesen, der euch aus Ägypten herausgeführt und euch 40 Jahre lang durch die Wüste geleitet hat …“ (Am 2,10). Wenn Israel jetzt in sich selber „Ägyptisches“, also sklavenhalterisches Verhalten aufweist, wird es wie diese mit dem Gericht bedroht.

Eine bezeichnende Stelle für das Phänomen, dass Teile Israels selbst zu Ägypten werden können, ist das Bundesbuch Exodus 22, 24-26: „Einen Fremden sollst du nicht ausnutzen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen. Ihr sollt keine Witwe oder Waise ausnützen. Wenn du sie ausnützt und sie zu mir schreit, werde ich auf ihren Klageschrei hören.“ (Ex 22,20 ff.).

Gott hört den Schrei der Armen, genauso wie er den Schrei Israels gegen Ägypten gehört hat. Er wendet sich in Israel gegen die Ausbeuter und Schinder, wie er sich gegen die Ägypter gewendet hat. Denn Gottes emotionalstes Motiv ist Mitleid! In ihm spiegelt sich der elementare Opfer-Täter-Gegensatz.

Heikle Gottesbeziehung

Ist die Kirche die Verbündete der Opfer? Der Jesuitenpater Antonio Vieira verteidigt im 16. Jahrhundert im portugiesischen Kolonialbereich die Sklaverei der importierten Schwarzafrikaner als ihren Weg durch diese Hölle und dadurch als Weg zum Himmel, also als diesseitige Hölle, die die künftige verhindert. Hier werden Heil und Wohlergehen (nach dem Tod) an ein ganz bestimmtes Wenn-Dann gebunden und anderen verordnet. Himmel und Erbarmen Gottes gibt es nur unter schwersten Bedingungen. Diese Ideologie war daran Schuld, dass in Lateinamerika nicht selten die Klöster die letzten waren, die die Sklavenhalterschaft aufgegeben haben. Doch es gibt auch die andere Seite in den Kirchen, die die „Mission Sklavenbefreiung“ vertreten haben.

Theologische Anmerkungen zu diesem Thema fangen also bei der Theologie im engsten Sinn des Wortes an: Nämlich welche Gottes Rede und welche Gottes Anrede ist uns gegeben, ist uns erlaubt? In welchem Verhältnis „hält“ uns Gott? Wie weit sind Religionen selbst geeignet, Versklavungswünsche von Menschen zu unterstützen und zu betreiben? Ist Gott selbst bezüglich der Menschen und der Schöpfung ein Sklavenhalter? Biblisch ist alles zu begründen: die Befreiung aus dem Sklavenhaus wie die Unterwerfung der Anderen.

So haben die Weißen in Südafrika ihre Apartheidspolitik durchaus mit einschlägigen biblischen Texten zu legitimieren gewusst, die sie rassistisch und chauvinistisch auszulegen vermochten. Der Buchstabe der Bibel allein rettet nicht vor religiös legitimierter Entsolidarisierung, sondern allein der Geist bzw. die Intention, mit denen die Bibel gelesen wird, nämlich in der in den biblischen Texten selbst zu Tage tretenden Dynamik zum je universaleren Heil Gottes und von daher zur je universaleren zwischenmenschlichen Solidarität.

Auch in der Gottesbeziehung geht es um das Verhältnis von Liebe und Freiheit, von Nähe und Abhängigkeit, von Distanz und Instrumentalisierung. Denn in ihr erleben die Menschen eine religiöse Mentalität, die sie auch auf die zwischenmenschliche Beziehung übertragen. Der Theologie, dass Gott den Menschen Freiheit und Autonomie schenkt und sich das viel kosten lässt, steht jene Theologie gegenüber, dass Gott die Menschen um seiner eigenen Selbstdarstellung willen abhängig hält. Jedenfalls ist letzteres immer auch eine wohlfeile religiöse Rechtfertigung für einen entsprechenden Umgang mit den Menschen. Dabei verdinglicht man Gott mit einer entsprechenden Wenn-Dann-Struktur und hat so die Möglichkeit, rückwirkend Gott in den Griff zu bekommen: nämlich wenn man die Bedingungen erfüllt, hat Gott darüber hinaus keine Freiheit, auch noch einmal ganz anders zu reagieren, so ganz anders, wie dies Jesus in der Geschichte der Arbeiter im Weinberg verdeutlicht (vgl. Mt 20,1-16).

Dass alle Menschen von Geburt an erwünscht und geliebt sind, dass die Geburt selbst der erste Ausdrucksvorgang und das wichtigste Ausdrucksmedium der Liebe durch den Schöpfer ist, beinhaltet eine ganz andere Mentalität. Nämlich im zwischenmenschlichen Bereich genau diese bedingungslose Annahme allen Menschen sozial erlebbar werden zu lassen und selbst zu erleben.

Wege in der Pastoral

Es ist also dem Rudelverhalten entgegenzusteuern und jenem Wolfshundverhalten, wo die fremden Jungen vom neuen Herrscher umgebracht werden, damit er seine Gene durchsetzen kann. Die Mentalität des biogenetischen „Infantozids“ beginnt schon da, wo Familien nur für ihre eigenen Kinder sorgen und ihnen schon die Kinder der Nachbarschaft völlig egal sind.

Der christliche Glaube bremst eine solche Mentalität durch die Vorstellung, dass alle Menschen geliebte Kinder Gottes sind, dass Gott der Vater aller ist. Dies ist die mächtigste religiöse Blockade gegen jede Art von Ausbeutung und Verzweckung.

Oder das Gebot der Feindesliebe, das die Nächstenliebe, nämlich sich und die anderen wie sich selbst zu lieben, bis ins Äußerste hinaustreibt und dabei die Innen-Außengrenzen immer mehr nach Außen verschiebt, bis hin zu der „Liebe“ den Feinden und den Hässlichen gegenüber. Ohne die Feindesliebe hätte die Nächstenliebe noch nicht diese Radikalisierung im Leib.

Wie werden Menschen zu solcher Freiheit befähigt? Ein wichtiger Aspekt ist: Wenn sie nicht bei Widerspruch und mangelndem Wohlverhalten mit Liebes- und Gemeinschaftsentzug bestraft werden und bestrafen, wenn sie sich frei verhalten können. Wenn Menschen sich nicht verteidigen müssen, um leben zu dürfen. In einem solchen sozialen Zusammenhang entsteht Ich-Stärke, theologisch: Charismenstärke. Es geht um die Freiheit von jeder Art von Zwangskollektivismus, um die Freiheit davon, andere erniedrigen, ausbeuten und verzwecken zu müssen, um sich selbst als wichtig und wertvoll erfahren zu können. Es geht darum, sich nicht permanent wehren zu müssen, um etwas zu sein. Christliche Gemeinden und Gemeinschaften könnten und sollten solche Begegnungsräume sein – auch als Ermöglichungsbasis dafür, gegen die Apathie in Teilen der Gesellschaft Empörung und Wut zu setzen und entsprechende Schritte zu gehen.

Wobei sich die Empörung auch gegen Gott selber richtet, denn er ist letztlich für alles verantwortlich. Er ist es, der in den Staub des Todes legt (Psalm 22,16). Gott ist es aber auch, der diesen Tod und alle Tode selbst erleidet. Auch in diesem Sinn ist Gott „heilig“, nämlich „sacer“, dass Gott sich ins „nackte Leben“ stoßen lässt und in solchem Souveränitätsverzicht Solidarität zeigt. Auch wenn dies noch keine befriedigende „Antwort“ auf unsere Fragen nach dem „Warum“ ist, ist diese Solidarität doch das entscheidende Unterpfand dafür, dass es „einmal“ eine befriedigende Antwort geben wird, die nicht unterhalb des Niveaus dessen ergeht, was erlitten und im Einsatz für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit erkämpft wurde.


Literaturhinweise:

  • Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt (Main) 2001.

  • Christian Bauer: Transgressionen der Moderne. Grenze und Horizont einer Theologie nach Gottes und des Menschen Tod. In: ders., Michael Hölzl (Hrsg.): Gottes und des Menschen Tod? Mainz 2003, S. 19-47.

  • Ulrike Bechmann: Die Sklavin des Naaman. Kriegsgefangene, Prophetin, Friedensfrau. Stuttgart 2004.

  • Ottmar Fuchs: „A pauperibus evangelizari“. Einige Aspekte zur „Definitionsmacht“ der Armen. In: Theologische Quartalschrift 193 (2013) H. 3, S. 251-263.

  • Ottmar Fuchs: Der zerrissene Gott. Das trinitarische Gottesbild in den Brüchen der Welt. Ostfildern 2014.

  • Gustavo Gutiérrez: Gott oder das Gold. Der befreiende Weg des Bartolomé de Las Casas. Freiburg 1990.

  • Franz Weber: Gewagte Inkulturation. Basisgemeinden in Brasilien: Eine pastoralgeschichtliche Zwischenbilanz. Mainz 1996.