Die Putin-Doktrin – eine Gefahr für die europäische Sicherheit

aus OWEP 3/2015  •  von Ruprecht Polenz

Ruprecht Polenz war von 1994 bis 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages, von 2005 bis 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Seit 2013 ist er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde.

Zusammenfassung

Mit der völkerrechtswidrigen Annektierung der Krim und der andauernden militärischen Aggression gegen die Ukraine verletzt der Kreml die Prinzipien der Charta von Paris von 1990, auf denen der Frieden in Europa beruht und die auch Russland unterschrieben hat. Deutschland und die EU müssen sich darauf einstellen, dass ihr Verhältnis zu Russland für längere Zeit auch durch Konfrontation geprägt sein wird. Die EU muss geschlossen und in enger Abstimmung mit den USA agieren, um ihr langfristiges Ziel zu erreichen: einen gemeinsamen Wirtschafts- und Sicherheitsraum, der auch Russland umfasst.

I.

Ein Video von der Siegesparade auf dem Roten Platz im Jahr 2005. Das ist nur zehn Jahre her – doch was für ein Unterschied. Mit den Worten von Michail Zygar, dem Chefredakteur von „TV-Dozhd“:

Schaut und fühlt den Unterscheid. Keinerlei Militärtechnik. Die Hauptrolle bei der Parade spielen die Veteranen. Sie sind auch die wichtigsten Gäste. Wladimir und Ludmila (!) Putin kommen zu Fuß auf den Roten Platz. Sie setzen sich neben George Bush und seine Frau Laura. Dort sitzen auch alle Führer der G 8 (außer Blair). Und der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko sitzt in der ersten Reihe. Die Parade wird von Verteidigungsminister Sergej Iwanow abgenommen (damals noch Nachfolger). ‚Wir verneigen uns vor dem Mut aller Europäer, die mit den Faschisten gekämpft haben‘, sagt Putin. ‚Wir haben die Pflicht, weder kalte noch heiße Kriege zuzulassen.‘ Während die russische Hymne gespielt wird, zeigt die Kamera Putin und Bush in der Nahaufnahme. Nachdem die Hymne ausgeklungen ist, sagt Bush Putin irgendetwas Angenehmes und der russische Präsident nimmt Bush lächelnd bei der Hand. Die Moderatoren der Fernsehübertragung tragen Georgsbänder. Nur sie, denn es ist das erste Jahr, in dem sie wieder auftauchen. Wie lang ist das her!“

Nur zehn Jahre später, am 9. Mai 2015 ist aus dem Tag des stillen Gedenkens an die Opfer des Zweiten Weltkriegs in Putins Russland „ein Fanal des Größenwahns“ geworden, wie Viktor Jerofejew in der FAZ vom 9. Mai 2015 schreibt. „Der siebzigste Jahrestag des Sieges markiert den Beginn einer neuen Ära.“ Russland habe sämtliche moralischen und viele materiellen Verpflichtungen gegenüber dem Westen über Bord geworfen. Dieser Tag des Sieges sei ein willkommener Anlass, aller Welt zu zeigen, „dass sich das Land von diesen verlogenen Freundschaftsbanden befreit hat“. Das enorme Ausmaß der Siegesfeiern in Moskau, bei dem dieses Jahr Soldaten, Panzer, Raketen und Flugzeuge das Bild der Parade prägen, bediene ganz widersprüchliche Gefühle: „Sakrale Empfindungen, militärischen Stolz, metaphysische Selbstbespiegelung, Rachedurst, Kitschbedürfnisse, Sentimentalität, Rührseligkeit, schlecht versteckte Arglist und Drohgebärden“.

Viele westliche Staats- und Regierungschefs hatten aus Protest gegen Russlands Ukraine-Politik die Siegesfeiern in Moskau boykottiert. Nur etwas mehr als 20 Staatsgäste waren gekommen. Die Liste zeigt vor allem, wer alles fehlt, wie sehr Russland sich inzwischen selbst isoliert hat und auf wen sich die russische Diplomatie jetzt konzentriert: Ägypten, Armenien, Aserbaidschan, Bosnien und Herzegowina, China, Indien, Kasachstan, Kirgistan, Kuba, Serbien, Südafrika, Tadschikistan, Venezuela, Zypern.

II.

Was bedeuten diese Entwicklungen für Deutschland? Wie werden, wie sollten sich die deutsch-russischen Beziehungen entwickeln? Welche Möglichkeiten haben wir, darauf Einfluss zu nehmen?

Um diese Fragen beantworten zu können, brauchen wir zunächst Klarheit darüber, was sich in der Politik des Kremls verändert hat, wo die Gründe dafür liegen und welche Ziele jetzt verfolgt werden. Daran lassen sich strategische Überlegungen anschließen, wie die deutsche Politik dazu beitragen kann, Frieden, Sicherheit und Stabilität in Europa zu sichern – am Besten mit Russland, aber notfalls auch in Konfrontation zu einer Politik des Kremls, die gegenwärtig das Fundament infrage stellt, auf dem der Frieden in Europa beruht.

Noch zu Zeiten des Kalten Krieges hatte 1973 der so genannte Helsinki-Prozess begonnen, der 1975 in die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki mündete. 35 Staaten, darunter alle europäischen Staaten (außer Albanien und Andorra) sowie Kanada, die USA und die Sowjetunion verpflichteten sich darin, folgende zehn Prinzipien einzuhalten: 1. Souveräne Gleichheit aller Staaten; 2. Keine Anwendung / Androhung von Gewalt; 3. Unverletzlichkeit der Grenzen; 4. Territoriale Integrität der Staaten; 5. Friedliche Regelung von Streitfällen; 6. Nichteinmischung in innere Angelegenheiten; 7. Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit; 8. Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsrecht der Völker; 9. Zusammenarbeit zwischen den Staaten; 10. Erfüllung völkerrechtlicher Verträge nach Treu und Glauben.

Auf diesen Helsinki-Prinzipien, die nach dem Ende des Kalten Krieges 1990 in der Charta von Paris von allen Beteiligten nochmals bekräftigt wurden, beruht der Frieden in Europa. Durch die militärische Invasion und die völkerrechtswidrige Annektierung der Krim hat Russland 2014 diese Prinzipien verletzt. Seitdem führt Russland Krieg gegen die Ukraine durch die militärische Unterstützung so genannter Separatisten im Donbass und mit eigenen Soldaten.

Gleichzeitig unterdrückt Putin mit immer weiter verschärften Gesetzen über Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) nicht nur die russische Zivilgesellschaft, sondern er sucht auch eine der wichtigsten europäischen Ideen zu unterbinden, die Frieden und Sicherheit bringen soll: den freien Austausch zwischen Bürgern. Schon seit 2012 mussten sich russische Organisationen, die sich um Menschenrechte, Erinnerung und Austausch kümmern und dafür auch Geld aus dem Ausland erhalten, als „ausländische Agenten“ registrieren lassen. Jetzt erlauben es neue Regelungen, dass die Behörden ausländische Stiftungen oder NGOs zu „unerwünschten Organisationen“ erklären können, wenn sie „die Sicherheit des Staates“ oder die „verfassungsmäßige Ordnung“ gefährden. Diese Gummi-Ermächtigung gestattet den Behörden uferlose Eingriffe, um den Kontakt von Russen zu unbequemen oder gar oppositionellen NGOs zu erschweren und zu unterbinden. Demokratisierung Russlands unerwünscht – das ist die klare Botschaft Putins an Deutschland und Europa.

Russen sollen möglichst auch nicht mehr ins Ausland reisen. In einer spektakulären „Reisewarnung“ rät die russische Regierung ihren Bürgern generell von Auslandsbesuchen ab. Jenseits der Landesgrenzen seien sie nicht sicher, heißt es. Das Außenministerium in Moskau erklärte im Mai, Russen seien in Drittstaaten vor Strafverfolgern oder Sondereinsatzkräften aus den Vereinigten Staaten nicht sicher: „Die amerikanischen Behörden setzen die inakzeptable Praxis fort, in der ganzen Welt Jagd auf Russen zu machen.“ Auch durch solche Reisewarnungen sucht der Kreml den freien Austausch und Kontakte von Russen zu Menschen anderer Länder zu unterbinden.

III.

Putin hat sehr genau verfolgt, wie schnell Mubarak gestürzt worden war. Die Rosen-Revolution in Georgien, die 2003 zum Sturz von Schewardnadse geführt hatte, die Orangene Revolution in der Ukraine 2004 und der überraschende Sturz von Janukowitsch 2014 haben Putins Angst vor einem russischen Majdan weiter verstärkt. Immerhin hatten 2011/12 Zehntausende in Moskau, Sankt Petersburg und anderen großen Städten Russlands gegen die gefälschten Parlamentswahlen protestiert.

In seinen ersten beiden Amtszeiten als Präsident hatte Putin von hohen Energiepreisen profitiert. Die gestiegenen Erlöse aus dem Export von Öl und Gas ermöglichten Rentenerhöhungen, bessere Bezahlung von Armee und Beamten und wachsenden Wohlstand für breitere Teile der Bevölkerung. Die Jahre wurden aber nicht für eine durchgreifende Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft genutzt. Russland blieb ein Land, das wie ein Land der Dritten Welt von Rohstoff-Exporten abhängt. 52 Prozent der Staatseinnahmen stammen inzwischen aus dem Öl- und Gassektor. Als Putin an die Macht kam, waren es 9 Prozent. Weil eine Justizreform ausblieb, gibt es keine Rechtssicherheit und die Korruption grassiert. Beides führt seit Jahren dazu, dass viele Russen ihrem eigenen Staat nicht trauen und ihr Kapital ins Ausland schaffen, statt im Land zu investieren. Inzwischen ist der Ölpreis seit längerem unter die magische Grenze von 100 Dollar/Barrel gefallen, die Putin braucht, um den russischen Staatshaushalt auszugleichen. Durch Fracking verschieben sich die Energiemärkte auf der Welt. Die USA werden vom Importeur zum Exporteur. Auch deshalb ist so schnell mit für Russland auskömmlichen Energiepreisen nicht zu rechnen.

War es Putin gelungen, in seinen ersten beiden Amtszeiten die Bevölkerung durch die Lieferung materieller Güter zufrieden zu stellen, steht ihm diese Möglichkeit ohne wirkliche Reformen nicht mehr zur Verfügung. Wirkliche Reformen – unabhängige Justiz, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, Demokratie mit freien Wahlen und Opposition – will Putin aber nicht, weil sie seine Macht infrage stellen würden. Deshalb hat er sich entschieden, statt materieller Güter immaterielle Güter zu liefern, um die Bevölkerung hinter sich zu versammeln. Unter tatkräftiger Mithilfe der Russischen Orthodoxen Kirche hat Putin eine Ideologie russischer Größe entwickelt, eine Mischung aus Patriotismus und Nationalismus, die die russische Welt („Russki mir“) gegen den Westen abgrenzt und in Stellung bringt.1 Die Unsrigen und die Anderen, Freund – Feind. Putins Ideologie ist antiwestlich, antiliberal und antidemokratisch. Es ist der äußere Feind, der die russische Bevölkerung hinter ihm zusammenschweißen soll.

Beim Zeichnen eines entsprechenden Geschichtsbildes hilft Putin, dass Stalins Rolle nie wirklich aufgearbeitet wurde. So erscheint der Diktator nur als der Sieger im Großen Vaterländischen Krieg und Putin kann sogar drangehen, den Hitler-Stalin-Pakt zu rechtfertigen. In dieses Narrativ fügen sich nahtlos die Ziele seiner heutigen Außenpolitik: Kontrolle des „nahen Auslands“, Delegitimierung der Nato und Schwächung der EU.

Schon bisher hatte Russland die so genannten „frozen conflicts“ genutzt, um in der Republik Moldau, Armenien und Georgien einen Fuß in der Tür zu behalten. In Transnistrien, Abchasien und Südossetien stehen russische Truppen. Gleiches gilt wegen des „eingefrorenen“ Konflikts um Nagorny Karabach auch für Armenien. Putin kann über diesen Hebel nach Bedarf Einfluss auf Länder nehmen, denen er vor allem in Fragen der Außen- und Bündnispolitik nur eine eingeschränkte Souveränität zubilligt. Solange diese Konflikte nicht gelöst sind, so sein Kalkül, ist weder an eine EU- noch an eine Nato-Mitgliedschaft zu denken. In diese Strategie passt das russische Vorgehen gegen die Ukraine. Nach der Annektierung der Krim soll im Donbass ein „Transnistrien im Osten“ geschaffen werden. Dieser Hebel könnte je nach Bedarf zur Destabilisierung der Ukraine genutzt werden. In Bosnien und Herzegowina zeigt die Republika Srpska eindrucksvoll, wie das geht. In jedem Fall ließe sich ein Beitritt der Ukraine zur EU oder gar Nato auf diese Weise verhindern. Die russischen Forderungen nach einer Föderalisierung der Ukraine sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Der – russisch dominierte – Donbass soll in allen außenpolitischen Fragen der Ukraine und insbesondere bei Entscheidungen über Bündniszugehörigkeiten ein Vetorecht erhalten. Die russischen Soldaten in Armenien, Georgien, der Ukraine und der Republik Moldau unterstreichen die Putin-Doktrin: Danach sind nur die Grenzen Russlands sichere Grenzen, wo auf beiden Seiten der Grenze russische Soldaten stehen.

Die Nato sei absprachewidrig nach dem Ende des Kalten Krieges immer weiter nach Osten und gegen Russland vorgerückt, behauptet Putin, und trifft dabei vor allem in Deutschland auf offene Ohren.2 Gegen diese Delegitimierungskampagne hilft weder, dass Gorbatschow selbst immer wieder betont, solche Absprachen habe es bei der Wiedervereinigung Deutschlands gar nicht geben können. Schließlich hätten 1990 sowohl die Sowjetunion wie auch der Warschauer Pakt noch bestanden. Auch der Hinweis, dass es die mittel- und osteuropäischen Länder des Baltikums, Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei selbst waren, die nach ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion möglichst schnell in die Nato wollten, überzeugt diejenigen nicht, die wie Putin in der Nato die Wurzel allen Übels sehen.

IV.

Neben dem Ziel, die Nato zu delegitimieren und damit die USA aus Europa zu drängen, will Putin die EU schwächen und spalten. Er pflegt inzwischen enge Kontakte mit zahlreichen rechtspopulistischen Parteien wie z. B. dem Front National in Frankreich, der FPÖ in Österreich, Jobbik in Ungarn, dem belgischen Vlaams Belang, der bulgarischen Ataka, den serbischen Dveri oder der italienischen Lega Nord, die ihrerseits in ihren Ländern gegen die EU zu Felde ziehen. Für diese Rechtspopulisten hat Putin ein überzeugendes ideologisches Angebot: Antiamerikanismus, Schwulenfeindlichkeit, familiäre Werte, Fremdenfeindlichkeit, Antiglobalisierung, Macho-Gehabe verbunden mit regelmäßigem Kirchenbesuch.

Gezielt versucht der Kreml, einzelne Länder aus der Sanktionsfront der EU gegen Russland herauszubrechen: Griechenland, Ungarn, Zypern, Slowakei, Bulgarien. Wegen der erforderlichen Einstimmigkeit aller 28 EU-Mitglieder bei Sanktionsbeschlüssen ist diese Strategie besonders gefährlich. Denn Russlands fortgesetzte militärische Aggression gegen die Ukraine wird sich nur stoppen lassen, wenn die EU geschlossen bleibt und wenn der Westen gemeinsam handelt. Es muss das Ziel der deutschen und europäischen Russland-Politik sein, dass Russland zu den Friedensprinzipien der KSZE-Schlussakte und der Charta von Paris zurückkehrt.

Mit den Waffenstillstandsabkommen von Minsk ist dafür ein Teil- Fahrplan erarbeitet worden. Aber der Waffenstillstand ist immer noch sehr fragil und wird oft verletzt. Die Grenze zwischen der Ukraine und Russland ist weder durch die internationalen Beobachter der OSZE noch durch die Ukraine selbst ausreichend gesichert und kontrolliert, sodass russischer Nachschub für die so genannten Separatisten weiter ungehindert ins Land kommen kann. Noch muss befürchtet werden, dass auch die ukrainische Stadt Mariupol mit russischer Unterstützung angegriffen wird. Die EU müsste bereits jetzt klar machen, dass sie in diesem Fall die Sanktionen weiter verschärfen würde. Dabei sollte auch der russische Ölexport in den Blick genommen werden. Denn nur wenn durch wirksame Sanktionen das Kosten-Nutzen-Kalkül des Kremls verändert wird, weil die ökonomischen und politischen Kosten weiter zunehmen, besteht die Aussicht, die russische Aggression gegen die Ukraine zu stoppen.

Wie 2008 in Georgien wird die Nato auch in der Ukraine nicht militärisch intervenieren. Der Grund liegt in der militärischen Eskalationsdominanz, die der Kreml in diesem Fall auf seiner Seite hat. Deshalb wären auch Waffenlieferungen an die Ukraine sehr problematisch und wenig erfolgversprechend. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat das Dilemma auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2015 mit folgenden Worten auf den Punkt gebracht: „Ich glaube nicht, dass wir die ukrainische Armee so ausrüsten und ertüchtigen können, dass Putin davon überzeugt wird, er könne sie nicht besiegen.“ Damit diese Haltung auf Putin nicht wirkt wie eine Einladung „Eat-as-much-as-you-can“, sind die Sanktionen so wichtig.

Aber es gibt auch eine klare militärische rote Linie: die Ostgrenze der Nato-Mitgliedsstaaten. Polen und die baltischen Staaten müssen sich darauf verlassen können, dass im Fall eines Angriffs auf ihr Territorium gemäß Art. 5 des Washingtoner Vertrags der Bündnisfall gilt. Es ist deshalb richtig, dass die Nato die Vorgänge in der Ukraine zum Anlass nimmt, ihre Bereitschaft zur Bündnisverteidigung zu unterstreichen. Insofern gewinnt Abschreckung wieder an Bedeutung. Und weil das heutige Russland viel schwächer ist als die Sowjetunion zur Zeit des Kalten Krieges, wird glaubhafte Abschreckung auch jetzt den Frieden sichern.

Wegen der großen russischsprachigen Minderheiten vor allem in Lettland und Estland muss sich das Bündnis dabei auch auf Szenarien einer so genannten hybriden Kriegsführung einstellen, wie Russland sie gegenwärtig gegenüber der Ukraine anwendet. Ein Bestandteil dieser hybriden Kriegsführung ist eine bisher in diesem Ausmaß unbekannte Propaganda. Vor allem das russische Fernsehen verbreitet auf allen Kanälen rund um die Uhr Putins Version der Ereignisse – ohne jegliches Fragezeichen oder gar Widerspruch oder Kritik. „Russia Today“, das russische Auslandsfernsehen, transportiert diese Bilder nach Europa und in alle Welt.

V.

Offene Gesellschaften können nicht mit staatlicher Gegenpropaganda antworten. Aber sie sollten etwas dafür tun, damit sich die Menschen in Russland und die russisch sprechenden Minderheiten in ihren Ländern möglichst objektiv und ausgewogen informieren können. Am einfachsten und schnellsten könnte dieses Ziel erreicht werden, wenn die EU die britische BBC in die Lage versetzte, ihr internationales Programm auch auf Russisch zu senden. Die BBC verfügt über hohes internationales Ansehen und ist unabhängig.

Auch wenn Russland zivilgesellschaftliche Kontakte immer mehr erschweren sollte, müssten es Visa-Erleichterungen gerade russischen Studenten, Wissenschaftlern und den normalen Russen ermöglichen, sich ein eigenes Bild von westlichen Gesellschaften zu machen, unabhängig von der antiwestlichen Propaganda des Kreml. Gesprächsforen wie der Petersburger Dialog oder die vielen deutsch-russischen Städtepartnerschaften sollten genutzt werden, um der Selbstisolierungspolitik des Kremls entgegenzuwirken. Ziel der Russland-Politik muss ein Europa mit Russland bleiben.

Aber im Augenblick ist nicht erkennbar, ob und wann der Kreml zu einer Politik auf der Basis der Helsinki-Prinzipien zurückkehren will. Deutschland und die EU müssen sich deshalb auf eine möglicherweise länger andauernde Phase einstellen, in der ihr Verhältnis zu Russland auch durch Konfrontation geprägt ist. Es ist deshalb auch auf längere Sicht von einem Nebeneinander von Kooperation und Sanktionen auszugehen. Dabei hängt die Aufrechterhaltung der Sanktionen von der russischen Politik ab.

Langfristiges Ziel der Osteuropa-Politik der EU bleibt ein gemeinsamer Wirtschafts- und Sicherheitsraum, der sowohl West- wie Osteuropa inklusive Russland umfasst. Auch deshalb ist es richtig, Ländern wie der Republik Moldau, Ukraine und Georgien eine politische Perspektive für eine spätere EU-Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen, falls sie durch entsprechende Reformen die Kopenhagener Beitrittskriterien erfüllen: Rechtsstaat, Demokratie, Marktwirtschaft, Schutz der Minderheiten, wettbewerbsfähige Wirtschaft. Das wird nicht heute oder morgen der Fall sein. Aber ähnlich wie beim Stabilitätspakt für den Balkan, bei dem 2003 in Thessaloniki allen Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien politisch eine EU-Perspektive in Aussicht gestellt wurde, sollte dies auch gegenüber den Ländern der östlichen Partnerschaft3 erfolgen.

Nur so erhalten die notwendigen Reformen in der Ukraine, in der Republik Moldau und Georgien ein klares Ziel, das geeignet ist, bei der Überwindung der Widerstände zu helfen. Um die Erblasten der Sowjetunion endgültig zu überwinden, sind diese Länder auf die Transformationskraft der EU angewiesen.


Fußnoten:


  1. Vgl. dazu den Beitrag von Oleksandr Zabirko in vorliegendem Heft. ↩︎

  2. Vgl. dazu auch die Analyse von Hannes Adomeit in vorliegendem Heft. ↩︎

  3. Dieses Programm wurde 2009 in Prag beschlossen und soll dazu dienen, die gesellschaftliche Transformation in der Ukraine, in Weißrussland, der Republik Moldau, Armenien, Georgien und Aserbaidschan zu unterstützen und diese Länder letztlich näher an die Europäische Union heran zu führen. (Anmerkung d. Redaktion) ↩︎