Die Waldenserkirche in Italien – eine beachtete Minderheit

aus OWEP 4/2015  •  von Susanne Labsch

Susanne Labsch (geb. 1957) studierte an der Waldenserkirche in Rom. Sie wurde in der Waldenserkirche in Italien ordiniert, war von 1985 bis 1990 Pfarrerin in Torre Pellice (Italien) und koordinierte von 2001 bis 2015 den „Runden Tisch“ mit der Waldenserkirche, an dem diejenigen evangelischen Landeskirchen, Hilfswerke und Vereinigungen zu Beratungen zusammenkommen, die regelmäßige Verbindungen zur Waldenserkirche pflegen. Sie ist derzeit Pfarrerin an der Christuskirche in Karlsruhe. Verheiratet ist sie mit Dr. Albert de Lange, Historiker und wissenschaftlicher Vorstand des Deutschen Waldensermuseums in Ötisheim-Schönenberg.

Zusammenfassung

Durch den ersten Besuch eines Papstes in der Waldenserkirche im Juni 2015 erhielt diese älteste und trotz ihres Minderheitenstatus größte evangelische Kirche in Italien viel internationale und ökumenische Aufmerksamkeit. Die Waldenserkirche nimmt in Italien eine wichtige Rolle wegen ihres ökumenischen und diakonischen Engagements ein, das sie aus Mitteln der Kultussteuer OPM(*) in Italien und verbunden mit ökumenischen Hilfswerken und säkularen Initiativen erfüllt.


(*) Diese Steuer wurde 1984 in Italien eingeführt und beträgt 8 Promille der Lohn- bzw. Einkommensteuer, daher der italienische Begriff „Otto per Mille“ (OPM). Der Steuerzahler kann verfügen, ob die Mittel zugunsten von Religionsgemeinschaften, sozialen, kulturellen oder humanitären Maßnahmen verwendet werden. Dabei wird die Höhe so ermittelt, dass die Waldenser so viele Prozente des Steueraufkommens bekommen, wie Steuerbürger ihr Kreuz auf dem Steuerbogen für die Waldenserkirche gesetzt haben.

Im Sommer 2015 geriet die Waldenserkirche in Italien in die nationalen und auch internationalen Schlagzeilen: Am 21. Juni 2015 besuchte erstmals ein Papst, Franziskus, die Waldenserkirche in Turin und damit diese evangelische Minderheitskirche. Deren Namensgeber Petrus Waldes, ein Kaufmann aus Lyon, war 800 Jahre zuvor als Ketzer gebrandmarkt worden. Ein ökumenischer Durchbruch, 800 Jahre nach der Laienpredigt des Waldes und bald 500 Jahre seit Gründung der evangelischen Waldenserkirche in Italien?

Geschichtlicher Überblick

Doch zunächst: Wer sind diese Waldenser eigentlich? Die evangelische Waldenserkirche in Italien hat ihren Ursprung weit vor der Reformation in einer Laienbewegung, die vom Lyoner Kaufmann Petrus Waldes um 1180 ausging. In einer geistlichen Krise beschloss er, dem Evangelium gemäß weiterleben zu wollen, verkaufte seine Habe, versorgte seine Familie und setzte dann seine Mittel für die Übersetzung der Bibel in die Volkssprache und für die Errichtung einer Armenküche ein. Waldes vertrat das Recht der Laien, die Bibel in der eigenen Sprache zu lesen und auszulegen, und zog mit seinen Anhängerinnen und Anhängern als in Armut lebender Wanderapostel umher. Sie nannten sich „die Armen Christi“ – ihre Gegner bezeichneten sie als „Waldenser“. 1184 wurden sie von der Synode von Verona als Ketzer bezeichnet, aber noch nicht verfolgt wie die gleichzeitig auftretenden dualistisch ausgerichteten Katharer, die Gottes Schöpfung als Teufelswerk ansahen.

Der Konflikt mit dem Papst verschärfte sich 1214, da ihm die „Armen Christi“ im Gegensatz zu den Franziskanern den Gehorsam verweigerten. Ab 1230 wurden die Waldenser von der Inquisition verfolgt. Sie suchten Zuflucht in abgelegenen Tälern der Cottischen Alpen westlich von Turin und entsandten von hier aus als Kaufleute getarnte Wanderprediger nach Nord- und Mitteleuropa aus. Sie befolgten die Bergpredigt und lehnten Eide und Gewalt ab, sodass ihnen die Inquisitoren nicht viele Fragen zu stellen brauchten, um sie zu „überführen“.

Die Waldenser hatten Verbindung zu den Hussiten in Böhmen und den aus diesen hervorgegangenen Böhmischen Brüdern, sodass Martin Luther beide Bewegungen verwechselte. In den Jahren 1555 bis 1559 schlossen sich die Waldenser der Reformation in der calvinistischen Ausprägung an und bildeten 1561 eine Kirche, die sie nun stolz selbst „Waldenserkirche“ nannten. Nach ihrer Kirchwerdung begann eine Zeit wiederkehrender Verfolgungswellen: Im französischen Luberon und in Kalabrien wurden die Waldenser vernichtet, im Piemont gewalttätig bedrängt und unter König Ludwig XIV. im 17. Jahrhundert schließlich aus Frankreich vertrieben. Viele fanden Aufnahme in Hessen und Württemberg, wo sie Kolonien gründeten. Als Glaubensflüchtlinge erhielten sie Privilegien wie Religionsfreiheit und anfängliche Steuerfreiheit. Einigen Waldensern gelang mit Hilfe der protestantischen Niederlande und Englands die Rückkehr in die Waldensertäler im Jahr 1689.

Die Waldenser in Italien

Es sollte bis 1848 dauern, bis die Waldenser in Italien die Bürgerrechte, wenn auch nicht die Glaubensfreiheit erlangten. Das unter der faschistischen Regierung in Italien 1929 ausgehandelte Konkordat, das der römisch-katholischen Kirche die Rolle einer Staatskirche zusprach, blieb bis 1984 in Geltung. 1974 wurde der „Bund Evangelischer Kirchen in Italien“ (Federazione delle Chiese Evangeliche in Italia, FCEI) gegründet, dem Baptisten, Methodisten, Lutheraner, Waldenser und Adventisten und die Heilsarmee beitraten. Die Waldenser- und Methodistenkirche bilden seit 1975 eine Union in der Synode und Pfarrschaft.

Heute hat die Waldenserkirche Gemeinden in den großen Städten Turin, Mailand, Venedig, Florenz, Rom, Neapel und Palermo, außerdem in vielen Provinzen. 100 Pfarrerinnen und Pfarrer sind im aktiven Dienst. Besonders bekannt sind die von Pfarrer Tullio Vinay begründeten Begegnungszentren in Agape und Riesi auf Sizilien. Die Waldenserkirche unterhält eine international anerkannte Theologische Fakultät und ein Gymnasium. Die Diakonie umfasst Heime für pflegebedürftige Menschen und Gästehäuser.1

Die Casa Valdese in Torre Pellice bei Turin (Aufnahme: Dr. Albert de Lange)

1985 schlossen die Waldenser mit der italienischen Regierung einen Staatsvertrag, der ihnen den Zugang zur Krankenhaus- und Militärseelsorge eröffnete. Seit 1990 nehmen die Waldenser auch die Möglichkeit in Anspruch, Kultussteuermittel aus den so genannten „Otto per Mille“ (OPM) zu erhalten. Die Waldenser nutzen diese Mittel ausschließlich für sozialdiakonische und kulturelle Projekte sowohl in Italien als auch in der weltweiten Ökumene. Sie fördern dabei auch Initiativen aus dem katholischen Bereich.

Das Verhältnis zur katholischen Kirche

Sicher gibt Papst Franziskus der Ökumene Schwung: Er nennt die Protestanten „Schwestern und Brüder“, anders als Benedikt XVI., der weiterhin infrage stellte, ob evangelische Gemeinden Kirche sein können. Kardinal Bergoglio kannte die Waldenser aus Argentinien; die dortige Waldenserkirche wurde durch Auswanderer 1860 gegründet, bald spanischsprachig und ist sozialdiakonisch engagiert.

Auf die Vergebungsbitte des Papstes für die blutigen Verfolgungen in der Geschichte der Waldenser reagierte die Synode der Waldenser- und Methodistenkirche als höchste kirchliche Instanz: Sie formulierte in einem Brief, in dem sie für den Besuch und die Initiative des Papstes dankte, sie könne nicht einfach für alle um ihres Glaubens willen verfolgten Waldenser schnell antworten, sondern wünsche sich eine gemeinsame Aufarbeitung der Geschichte, keine schnelle Abbitte und Vergebung, sondern einen Weg zur „versöhnten Verschiedenheit“. Einige italienische Medien deuteten diese differenzierte Antwort als Affront gegenüber dem Papst, während Bischof Bruno Forte, der Vorsitzende der Ökumenekommission der italienischen Bischofskonferenz, die Einladung zur Aufarbeitung annahm.

Das bedeutet einen grundlegenden Wandel in den ökumenischen Beziehungen in Italien, wo sich die die italienischen und römischen Institutionen oft päpstlicher gebärden als der Papst selbst und andererseits sich manche Protestanten bisher hinter einem Antipapismus verschanzt hatten und ihre eigene Identität eher in Abgrenzung als in positiven Aussagen definierten. Allerdings ist die innerevangelische Ökumene in Italien mit dem „Bund der Evangelischen Kirchen in Italien“ (FCEI) deutlich enger und verbindlicher entwickelt als in anderen evangelischen Kirchen in Europa.

Öffentliches Wirken der Waldenser

Die Waldenser- und Methodistenkirche ist in Italien durch ihren Einsatz der Kultussteuer „Otto per Mille“ (OPM) national und international bekannt geworden. Im Unterschied zur römisch-katholischen und anderen Kirchen, die diese Steuermittel zum Erhalt der religiösen Funktionen verwenden, setzt die Waldenserkirche die ihr zugewandten OPM-Mittel nicht für die Bezahlung ihrer Pfarrerinnen und Pfarrer ein, sondern ausschließlich für sozialdiakonische und kulturelle Projekte in Italien und im Ausland. Über die Ausgaben und Einnahmen wird in den Medien genau Auskunft gegeben.

Eines der großen durch OPM ermöglichten Projekte lautet „Mediterranean Hope“. In Lampedusa auf Sizilien wurde ein Begegnungs- und Beobachtungszentrum für die Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten aufgebaut, die über die Mittelmeerroute Asyl in Europa suchen. Ein Teil des evangelischen Engagements für die Flüchtlinge besteht dabei in der Betreuung der Hinterbliebenen derer, die im Mittelmeer ertrunken sind, und in der würdigen Bestattung der Opfer. Hier arbeiten die Waldenser auch mit Erzbischof Francesco Montenegro von Agrigent zusammen, der wegen seines Engagements für Flüchtlinge von Papst Franziskus zum Kardinal erhoben wurde.

Diesen diakonischen und kulturellen Aktivitäten der Waldenser und Methodisten in Italien und im Ausland bringt die säkulare Zivilgesellschaft viel Interesse entgegen. Die Waldenser- und Methodistenkirche hat kein eigenes Werk für ökumenische Diakonie gegründet, sondern unterstützt Entwicklungsprojekte zu nachhaltiger Landwirtschaft, Gesundheitsvorsorge oder Konfliktprävention auch durch die ökumenische Diakonie ihrer Schwesterkirchen zum Beispiel in Deutschland oder der Schweiz.

Die Waldenser- und Methodistenkirche in Italien bildet eine kleine evangelische Minderheit. Sie zählt ihre konfirmierten Mitglieder; das waren 2014 insgesamt 17.822. 9.000 von ihnen leben in einem kleinen Winkel im Nordwesten Italiens, in den Waldensertälern westlich von Turin. Dazu kommen die so genannten „Sympathisanten“, d. h. nicht eingetragene Mitglieder, die aber an Gottesdiensten und Bildungsveranstaltungen teilnehmen und sich aktiv in den sozialdiakonischen und kulturellen Initiativen einbringen. Damit kommt die Waldenser- und Methodistenkirche auf 24.000 Personen (darunter ca. 4.000 evangelische Zuwanderer insbesondere aus Ghana und Korea). Insgesamt bestehen 130 verfasste Ortsgemeinden; eine große Gemeinde hat zwischen 800 und 1.500 Mitgliedern, mittelgroße 300-800, eine kleine Kirche weniger als 300 Mitglieder. Die Kirche ist synodal verfasst, 88 Pastorinnen und Pastoren arbeiten in den 130 verfassten Ortsgemeinden. Hinzu kommen ehrenamtliche Prädikantinnen und Prädikanten, die so genannten „Predicatori locali“.

Im Jahr 2014 gingen laut Gemeindegliederstatistik 200 konfirmierte Mitglieder verloren – eine Erosion, die spürbar ist. Der OPM-Einsatz hat die Waldenserkirche in der italienischen Gesellschaft zwar sichtbar gemacht, doch bleibt zu fragen, ob diese kleine evangelische Kirche in ihren sozialdiakonischen Aktivitäten aufgehen und darin verschwinden wird.

Waldenserkirche als Kirche aus Zuwanderung

Deutlicher Zuwachs in den Gemeinden kommt von den Migrantinnen und Migranten insbesondere aus Ghana und anderen afrikanischen Ländern, die sich der Waldenser- und Methodistenkirche anschließen. Ein großes, seit Jahren laufendes Projekt in der Waldenser- und Methodistenkirche lautet „Essere Chiesa Insieme – Zusammen Kirche sein“ (ECI). Die evangelischen Gemeinden sprechen also nicht nur italienisch, denn ein Großteil der Gemeindejugend ist nicht in Italien geboren worden oder stammt aus Migrantenfamilien der ersten Generation.

Ende 2014 fand das erste ECI-Jugendfestival mit der FGEI, dem Evangelischen Jugendbund in Italien, statt. Ethnische Kirchen wollen mit den jungen Menschen oft ihre eigene Kultur bewahren, z. B. die Sprachen und Kulturen des Herkunftslandes. Die jungen Zuwanderer finden in Italien andere Verhältnisse zwischen Mann und Frau und zwischen den Generationen vor, als sie sie aus ihrem Herkunftsland kennen. Das bedeutet einen Traditionsbruch für die Eltern; die Jungen passen sich in der Schule und Gemeinde an, jedoch nicht mehr der ethnischen Herkunftsgemeinde. 40 Prozent der Methodisten und Waldenser sind erst seit drei Generationen oder noch kürzerer Zeit evangelisch!

Nicht nur Diakonie, Bildung und OPM, sondern auch die Evangelisierung ist ein wichtiges Aufgabenfeld der Waldenser und Methodisten. Im Mai 2014 gab es nach langer und heftiger Diskussion eine Evangelisierungswoche in der gesamten Waldenser- und Methodistenkirche, denn das Wort „Evangelisation“ war ziemlich verpönt. 70 Prozent der Gemeinden haben dabei neue Aktivitäten angeboten. „Nach 20 Jahren haben wir gemerkt, dass Evangelisierung möglich ist. Wir können nun sagen, wer wir sind und was wir wollen“, berichtete der Moderator bei einem Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern evangelischer Kirchen und Werke in Deutschland im Frühjahr 2015. Hinzu kommt, dass die Waldenser- und Methodistenkirche einen Generationswechsel ermöglichen muss von den jetzt 50- und 60jährigen an den entscheidenden Stellen hin zur jüngeren Generation unter Einbeziehung der eingewanderten Mitglieder – hier geht sie anderen Kirchen in Europa voraus.

Ausblick

Italien durchlebt eine große wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Krise, die natürlich auch die Waldenser und besonders deren jüngere Generation hart trifft. Die Waldenser möchten durch ihre Haltung mit dazu beitragen, die Folgen schlechter Regierung wie Klientelismus und Korruption zu überwinden.

Dank des Einsatzes der Kultussteuer „Otto per Mille“ spielt die Waldenser- und Methodistenkirche in Italien eine wichtige Rolle. So stößt diese christliche Minderheit wichtige Themen in der Gesellschaft an und trägt sie weiter; aktuell wird dies deutlich bei den Diskussionen um ein neues Gesetz zur Religionsfreiheit. Italien war lange Zeit ein durch den römischen Katholizismus geprägtes monokonfessionelles Land. Gegenwärtig verhandeln die staatlichen Institutionen mit den Kirchen über das neue Gesetz zur religiösen Freiheit, das allen Kirchen und verfassten Religionsgemeinschaften Rechte und Pflichten gibt. Die Bischofskonferenz hat dem Gesetz zur Gottesdienstfreiheit („Libertà religiosa“) zugestimmt. Künftig soll zum Beispiel an staatlichen Schulen allgemeine Bibelkunde und Geschichte der Religionen unterrichtet werden. Auch in dieser Hinsicht muss sich die Waldenserkirche vorbereiten und an den Lehrplänen mitarbeiten.

Der protestantischen Waldenserkirche wird also von den jetzigen politischen Verantwortungsträgern eine besondere Kompetenz in den Fragen des Verhältnisses von Kirche und Gesellschaft, Staat und Kirche zuerkannt. So trägt eine kleine evangelische Minderheitskirche mit einer langen Geschichte in und außerhalb Italiens zur Modernisierung des Landes bei.


Fußnote:


  1. Informationen auf Englisch unter www.chiesavaldese.org, auf Deutsch unter www.waldenser.de↩︎