Aufbruch und Ernüchterung

aus OWEP 3/2019  •  von Anna Kulke

Anna Kulke (geb. 1988) hat in Kyjiw Tourismus und Kunstgeschichte studiert. Seit 2016 studiert sie Katholische Theologie in Münster.

Anna Kulke (Foto: privat)

Ich wurde 1988 in einer mittelgroßen Stadt im äußersten Osten der historischen Region Wolhynien, im Nordwesten der Ukraine, geboren. Um präzise zu sein, sollte ich sagen, dass ich in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik das Licht der Welt erblickte. Obwohl ich also in der Sowjetunion geboren wurde, ist für mich mein Geburts- und Heimatland immer die Ukraine gewesen. Die sowjetische Ukraine habe ich nie bewusst kennengelernt, obwohl ihre Spuren auch heutzutage im Land immer noch präsent sind. So schnell konnte das, was für die längste Zeit des 20. Jahrhunderts existiert hatte, nicht verschwinden. Es bleibt lebendig, nicht nur im Stadtbild und in den Erzählungen, sondern gerade auch in der Mentalität der älteren Generationen, die in der Sowjetunion geboren und sozialisiert wurden und die einen Großteil ihres Lebens als Erwachsene in ihr verbracht haben.

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich für viele Ukrainer ein Fenster zum Westen geöffnet, das dann alsbald zu einer Tür wurde: Während Anfang der 1990er Jahre noch 52 Millionen Menschen in der Ukraine lebten, sind es heute wohl nur noch 42 Millionen, vielleicht auch noch weniger. Die meisten Ukrainer, die heute außerhalb der Ukraine leben, sind ausgewandert, da sie nach Arbeit und besseren wirtschaftlichen Lebensbedingungen gesucht haben, die ihnen ihr Heimatland nicht mehr bieten kann. Aber nicht nur wirtschaftliche Not bringt Ukrainer dazu, ihr Heimatland zu verlassen: Die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs gewonnene Bewegungsfreiheit und der damit ermöglichte internationale Austausch haben zu neuen Kontakten und Möglichkeiten geführt, die zur Zeit der Sowjetunion undenkbar gewesen wären. Auch auf mein Leben hatte dies direkte Auswirkungen: Ich bin mit einem Deutschen verheiratet und lebe heute im Westen Deutschlands. Wir haben uns während des Studiums bei einem deutsch-ukrainischen theologischen Seminar kennengelernt. Unsere Beziehung wäre zu Zeiten der Sowjetunion nur mit größten Schwierigkeiten möglich gewesen, wenn überhaupt. In dieser Hinsicht haben die Veränderungen der späten 1980er und der frühen 1990er Jahre, die in Deutschland mit der Chiffre „1989“ verbunden werden, direkte positive Auswirkungen auf mein heutiges Leben.

Das Positive in diesen Veränderungen wird allerdings nicht von allen Ukrainern und in allen Generationengleichermaßen gesehen. Gerade die Generation meiner Großeltern trauert oftmals der oberflächlichen Stabilität des sowjetischen Systems nach, in dem jeder Arbeit und ein gesichertes soziales Standing hatte. Viele aus der Generation meiner Eltern sind in den 1990er und 2000er Jahren angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage auf der Suche nach Arbeit ausgewandert, worunter besonders die zurückgebliebenen älteren Familienmitglieder leiden. In ihren Augen würden sie dann manchmal die sowjetische Stabilität dem Umstand vorziehen, dass ihre Familien heute zwischen mehreren Ländern zerrissen sind und man sich nur selten sieht. Entsprechend kritisch fällt ihr Blick auf die heutige Ukraine: Diese hätte ihnen nichts gebracht, die Unsicherheiten seien unerträglich groß geworden und gerade die traumatischen Erfahrungen der 1990er Jahre, in denen viele ihr Gehalt nicht regelmäßig erhielten und ein Großteil der Bevölkerung in handfester materieller Not lebte, haben tiefe Narben hinterlassen. Während sich früher der Staat um alles sorgte, müsse heute jeder selbst schauen, wo er bleibt. Die staatliche Mindestrente reicht ohne familiäre Unterstützung nur für ein Leben in großer Armut, und heute gehört es überall in der Ukraine zum Stadtbild, dass Menschen im Rentenalter am Straßenrand und an U-Bahn-Ausgängen sitzen und Obst und Gemüse aus ihren Gärten verkaufen, um irgendwie über die Runden zu kommen.

Unwilligkeit und Unfähigkeit der Politiker seit der Unabhängigkeit der Ukraine, an diesem Umstand etwas zu ändern, haben viele Menschen frustriert. Allzu oft gingen und gehen Menschen in der Ukraine nicht in die Politik, um sich uneigennützig für die Verbesserung der Lebenssituation der Bevölkerung einzusetzen, sondern bloß, um persönlichen Nutzen aus den erlangten politischen Ämtern zu erzielen. Die wirtschaftliche Macht im Land ist in den Händen weniger Oligarchen konzentriert, die zugleich einen dominanten Einfluss auf die Politik ausüben. Bereits zweimal hat sich in der jüngeren Geschichte der Ukraine im Abstand von genau zehn Jahren zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen diese Situation formiert: 2003/2004 in der „Orangenen Revolution“ und 2013/2014 im Euromajdan bzw. in der „Revolution der Würde“. Den Euromajdan habe ich selbst vor Ort in Kyjiw miterlebt, und wie so viele Ukrainer hatte ich damals die Hoffnung, dass sich nun nachhaltige Veränderungen einstellen würden. Diese Erwartungen sind leider in der Folgezeit nur unvollständig eingelöst worden.

Was die Ukraine in meinen Augen braucht, sind engagierte Menschen und Politiker, die sich wirklich um die Verbesserung der Lage der breiten Bevölkerung bemühen. Eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation wird meiner Ansicht nach nur durch eine entschlossene und rücksichtslose Korruptionsbekämpfung erreicht werden können. Wenn der Großteil der Bevölkerung in der Lage ist, durch ehrliche Arbeit ein gutes Auskommen in der Ukraine zu haben, wird sich, so denke ich, auch die Haltung vieler Ukrainer zum eigenen Staat und zur eigenen Politik ändern. Eine verklärte Sicht auf die Sowjetunion, wie sie in manchen Bevölkerungsteilen weiterhin vorhanden ist, wird dann endlich zu einem Ende kommen.