Bei der Bürgerwehr in Estland steigen die Mitgliederzahlen

aus OWEP 3/2023  •  von Maris Hellrand

Die estnische Journalistin Maris Hellrand, geboren 1970 in Rakvere, arbeitet als Korrespondentin für internationale Medien in Tallinn. Schon während ihres Studiums der Politik- und Kommunikationswissenschaft in München war sie als Radiojournalistin für den US-Auslandssender Radio Free Europe tätig. Später arbeitete sie als freie Journalistin in Korea, Großbritannien und Singapur. Für Europas Kulturhauptstadt Tallinn betreute sie im Jahr 2011 alle internationalen Medien.

Zusammenfassung

Kaitseliit heißt der Freiwilligenverband der estnischen Streitkräfte, der vom Verteidigungsministerium finanziert wird. Dort lassen sich Bürger freiwillig militärisch ausbilden, um die reguläre Armee im Ernstfall zu unterstützen. Seit die Ausweitung des russischen Angriffskrieges in der Ukraine auch im Baltikum das Gefühl der Bedrohung verstärkt, findet auch die estnische Bürgerwehr immer mehr Zulauf. Die Zustimmung in der Bevölkerung ist ohnehin groß.

Freiwilliges Training im Wald

Die estnische Lokalpolitikerin Laila Talunik schmiert Tarnfarbe ins Gesicht ihrer Freundin. Es ist ein etwas anderer Schminkkurs im nordestnischen Wald. Die 42-jährige Sozialdemokratin ist seit März 2022 Mitglied der estnischen Bürgerwehr Kaitseliit. Der Umgang mit der Camouflage ist nur eine der zahlreichen Lektionen auf dem Stundenplan für dieses Wochenende. Außerdem bekommen die Neulinge eine erste Einführung in die Topografie, die Funk-Kommunikation, Orientierung und den Umgang mit Waffen. Zu den Lerninhalten gehört auch draußen Essen kochen, im Zelt übernachten, Wache halten und den Formationsmarsch üben.

Talunik sagt, der Krieg in der Ukraine habe den letzten Anstoß dafür gegeben, sich in der Landesverteidigung freiwillig zu engagieren. Ihr Mann ist Major der Luftabwehr in den estnischen Verteidigungskräften, deshalb ist Militärisches ihr keineswegs fremd. „Mir war auch klar, dass meine Familie sofort in Gefahr wäre, sollte Estland überfallen werden", sagt die Politikerin. "Wir haben ja gesehen, was in der Ukraine mit den Menschen geschehen ist, die auf der schwarzen Liste waren." Auch Estland hat eigene historische Erfahrungen damit, was Besatzung bedeutet.

Die freiwillige Kämpferin wusste sofort, dass sie angesichts der russischen Bedrohung nicht einfach sitzen und warten konnte, sondern ihre Familie verteidigen und zumindest eine ordentliche Abwehrschlacht mittragen sollte. „So brutal es auch klingt, ich muss bereit sein, auch mit der Waffe in der Hand meine Kinder und mich zu verteidigen“, sagt die zweifache Mutter. Noch hat sie nicht alle Einführungskurse belegt, etwa Medizin fehlt noch. Aber Talunik weiß schon jetzt, dass ihr der Wald und die Waffen am besten gefallen. Sie hofft sogar darauf, im Schießen richtig gut zu werden, nach etwas mehr Übung. „Die Fähigkeit, sich in der Natur ohne Google Maps zu orientieren, haben wir Stadtmenschen verloren“, bedauert Talunik. Um so nützlicher seien die neuen Kenntnisse. Die größte Herausforderung ist für sie persönlich, im Einsatz übernachten zu müssen. „Ich schlafe sowieso sehr schlecht, vor allem an fremden Orten und mit fremden Menschen im gleichen Raum,“ erzählt sie. „Da muss ich mich einfach auf eine schlaflose Nacht einstellen und vielleicht mehrere Wacheschichten übernehmen. Und am nächsten Tag nicht meckern.“ Außer einem praktischen Einsatz leisten Mitglieder einen finanziellen durch einen Jahresbeitrag von zwölf Euro. Talunik hat der Bürgerwehr seit ihrem Beitritt mehr als 100 Stunden gewidmet. Dabei liegt die jährliche Mindestanzahl eigentlich nur bei 48 Stunden. Das schafft man locker an ein paar Wochenenden.

Erschütterte Illusion einer sicheren Zukunft

Mart Rummo ist eigentlich Übersetzer von Spielfilmen. Mit 49 Jahren hat er damit eigentlich seinen Traumjob gefunden. Er schaut normalerweise Tag für Tag gemütlich Filme, sitzt im warmen Zimmer mit einer Tasse Kaffee am Schreibtisch und schreibt. „Doch vor einem Jahr geschah etwas, das den ganzen Spaß auf den Kopf stellte", sagt Rummo. Der russische Angriff auf Kiew erschütterte die Illusion einer sicheren Zukunft. Auch Rummo meldete sich bei der Kaitseliit an, um etwas zu unternehmen. Jetzt, nach etwa der Hälfte der Einführungsübungen, räumt er allerdings ein, dass der Freiwilligendienst nicht wirklich etwas ist, was die Seele befriedigt: „Der Formationsmarsch ist lästig, die Ausrüstung ist verdammt schwer, die Vorlesungen sind langweilig, das trockene Essen ist kein Genuss, es gibt keinen Schlaf in einem Zelt in der Winterkälte." Der Übersetzer fragt sich jetzt: "Ist das das Leben, das ich wollte?" Doch seine Antwort darauf lautet: " Nein, aber wenn die Dinge so sind, wie sie in der Welt sind, muss ich etwas für meine eigene Sicherheit tun.“

Talunik und Rummo sind zwei von fast 4.500 Gleichgesinnten, die seit 2022 der estnischen Bürgerwehr Kaitseliit beigetreten sind. Die Mitgliederzahl des Freiwilligenverbandes der estnischen Streitkräfte ist nach dieser letzten Welle von 25.000 auf knapp 30.000 Freiwillige angestiegen. Ein Grund zur Freude, aber auch eine Herausforderung für General Riho Ühtegi, denn die neuen Mitglieder müssen ordentlich ausgebildet und ausgestattet werden. Ühtegi glaubt, dass viele schon lange mit dem Gedanken gespielt hätten, mitzumachen. Aber Russlands Großangriff auf Ukraine sei dann der letzte Impuls gewesen, der die Mitstreiter dann motiviert habe.

Kaitseliit wurde bereits 1918 gegründet und 1990 wieder aktiviert, also schon anderthalb Jahre bevor Estland nach Jahrzehnten als Teilrepublik der Sowjetunion seine Freiheit und Unabhängigkeit wiedererlangte. Die freiwillige Bürgerwehr besteht aus Mitgliedern der Kampfeinheiten, Frauenbürgerwehr und Jugendorganisationen, die alle als Teil der breit aufgestellten Landesverteidigung eine Rolle spielen. Die Einheiten sind regional organisiert. Außerdem gibt es die Cyber-Bürgerwehr, in der sich IT- und Kommunikationsexperten freiwillig engagieren.

General Ühtegi führt Kaitseliit seit 2019. Davor hatte er eine Dienstzeit im Generalstab hinter sich und war eine Zeitlang als Kommandeur des estnischen Kontingents beim NATO-Einsatz in Afghanistan.

„Das Bewusstsein, dass Krieg wirklich möglich ist, ist bei den Esten sehr scharf angekommen“, sagt Ühtegi. „Die große Anzahl neuer Mitglieder zeigt, dass die Menschen sich Sorgen machen sowohl um sich persönlich wie auch um Estland.“ Für die meisten sei vor allem wichtig, sicherzustellen, dass man nicht hilfebedürftig sei, sondern anderen bei Bedarf helfen könne. „Das ist auch das Hauptziel von Kaitseliit.“

Etwa die Hälfte der neuen Mitglieder hat vorher keinen Wehrdienst geleistet. Sie gehören zu den Jahrgängen, in denen viel umgestellt wurde. Deshalb bietet Kaitseliit auch Kurse für das Basiswissen an und ist laut Ühtegi so flexibel, dass auch von dem Routineprogramm abgewichen werden kann. „Viele kommen aus kulturellen Berufen oder sind hochgebildete Führungskräfte, die ihre Zeit anders planen möchten“, erzählt der General. So sei beispielsweise das ganze Tallinner Architekturbüro Molumba beigetreten und formiere nun sogar eine eigene Einheit.

Lehren aus der Ukraine

Während die Kriegsführung in der Ukraine für viele Laien überraschend altmodisch sei, hätten sich die Grundsätze von Kaitseliit dadurch nicht verändert, so der General. „Das, was in Ukraine geschieht, das haben wir vorausgesehen“, sagt er. „Die erste Phase 2022, die Verteidigung von Kiew – für genau solche Operationen haben wir uns vorbereitet. Unsere Aufgabe ist die nichtlineare Kriegsführung, also nicht Frontlinien halten, sondern wir decken das ganze Land ab und egal, wo sich der Gegner befindet, wir sind immer da.“

Diese Asymmetrie bedeute, dass, wenn der Gegner konventionell Krieg führt und beispielsweise Luftwaffe und Kanonen gegen feste Einheiten einsetzt, die Territorialverteidigung darauf mit verstreuten Einheiten antworte. Dem Gegner falle es schwer, diese in der Landschaft zu finden. Ühtegi erklärt: „Kaitseliit ist leichte Infanterie. Wir können den Gegner nicht festhalten, wohl aber mürbe machen." Das Motto sei seit eh und je: „Jeder Busch schießt – dadurch greifen wir die Moral des Gegners an.“ Er nennt als Beispiel eine Kriegssituation, in der die Angreifer schon bei Tallinn seien - und damit 220 Kilometer von der Grenze entfernt, aber der Kampf gegen sie bei Narva, der zweitgrößten Stadt Estlands, an der Grenze zu Russland immer noch weitergehe. Dadurch benötige der Gegner sehr große Ressourcen, erläutert Ühtegi die Strategie der Freiwilligenverbände.

Die Eigenheit und Stärke der Organisation ist, dass die ganze estnische Gesellschaft einbezogen wird. Neben den eigentlichen Kämpfern spielen auch Verstärker und Ermöglicher (lokale Gemeinden) eine wichtige Rolle. Sie sollen so lange wie möglich die Wirtschaft in Gang halten.

Was neu ist seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine, sind Pläne, die eine Evakuierung der Bevölkerung vorbereiten sollen. Eigentlich wäre das die Aufgabe des Rettungsdienstes, der aber nach Einschätzung von Militärexperten im Ernstfall klar überfordert wäre. Deshalb wurden bei der Bürgerwehr 20 Evakuationseinheiten mit je 60 Personen geschaffen, die auch schon ihre Zusammenarbeit üben.

Frauenpower in der Bürgerwehr

Anders als nach der Krim-Annexion und dem Beginn der Kämpfe in der Ostukraine 2014 sind bei dieser neuen Welle von Freiwilligen an der estnischen Bürgerwehr ungewöhnlich viele Frauen beteiligt. Viele von ihnen sind älter als 50 Jahre. Ühtegi sagt, dass sich von den 1.300 neuen Frauen etwa die Hälfte für eine militärische Position in Kaitseliit entschieden haben. „Der Krieg war ein Anstoß für viele. Frauen sind realistischer als Männer und haben einen stärkeren Überlebens- und Schutzinstinkt." Sie wollten nicht im Notfall Hilfe brauchen, sondern selbst helfen können.

Auch die 53-jährige Modedesignerin Anu Lensment sieht das so: „Als ich der Bürgerwehr beitrat, war mein Hauptgedanke nicht, dass ich nun die Verteidigung Estlands übernehmen würde, sondern dass ich zumindest nicht diejenige sein würde, der geholfen werden muss, wenn etwas Verrücktes passiert und der Krieg hierherkommt", sagt sie. "Damit ich wenigstens weiß, wie ich mich und meine Familie verteidigen kann.“

Ihre Freundin, Textilarchäologin Jaana Ratas, ergänzt: „Da jeder in der Bürgerwehr seine eigenen Aufgaben hat, können wir etwas für den Staat tun." Es gehe darum, nicht in Panik zu geraten, wenn etwas geschehe, sondern organisiert zu handeln. "Damit man nicht zu einer Person in Not wird, sondern anderen helfen kann.“

Mehr als 80 Prozent in der Bevölkerung sind gegenüber Kaitseliit positiv eingestellt. Unter den Esten liegt die Vertrauensrate sogar bei 94 Prozent, bei den anderen Bürgern, darunter auch russischsprachigen, liegen die Umfragewerte bei weniger als 56 Prozent, besagt eine Untersuchung im Auftrag des estnischen Verteidigungsministeriums vom Frühjahr 2022.

Aleksandar Moissejenko wohnt in Narva und hat den sogenannten grauen Pass eines Staatenlosen.1 Der 49-Jährige schafft es in der überwiegend russischsprachigen Stadt an der Grenze zur Russischen Föderation nicht, ausreichend Estnisch zu lernen, um die offizielle Sprachprüfung zu bestehen. Das ist aber die Voraussetzung, um die estnische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Trotzdem hat Moissejenko schon 2014 die Chance ergriffen, Mitglied der Bürgerwehr zu werden: „Ich bin Kaitseliit aus dem Wunsch heraus beigetreten, der estnischen Kultur und dem Staat näher zu sein", sagt er. "Ich habe gemerkt, dass das Leben mit einem grauen Pass irgendwie an mir vorbeigegangen ist, und das wollte ich korrigieren."

Der Beitritt zur Kaitseliit sei das erste gewesen, was er habe tun können. „Ich konnte mehr mit Esten interagieren, als sie nur auf der Straße in Narva zu treffen." Der Beitritt sei ihn eine Herausforderung gewesen. "Ich wollte mitmachen, mich verändern, etwas für den Staat tun, meine estnische Sprache verbessern, Teil dieser Gesellschaft werden." Seine Familie habe das allerdings negativ aufgenommen. "Es war fast so: Du bist ein Verräter an allen Russen.“ Der russische Angriff gegen die Ukraine habe für ihn vieles klarer gemacht: „Seit Beginn des Krieges hat jeder, der in Kaitseliit mitarbeitet, verstanden, dass Krieg keine Theorie ist, die uns in den Klassenzimmern beigebracht wurde", sagt Moissejenko. Krieg sei in der heutigen Welt weiter möglich. In der unmittelbaren Nachbarschaft liege nun mal ein Staat, der eine sehr aggressive Politik verfolge. "Vielleicht hat jeder angefangen, darüber nachzudenken, dass vielleicht eines Tages tatsächlich der Moment kommen wird, an dem er die Entscheidung treffen muss, zu den Waffen zu greifen und sein Land zu verteidigen", glaubt Moissejenko. Dabei spielt für ihn keine Rolle, welche Sprache der Angreifer spreche.

Schaut man auf die Landkarte und projiziert die russisch besetzten Gebiete der Ukraine auf Estland, bedeckt diese Fläche leicht das ganze Land. General Ühtegi gesteht, dass das, was in Ukraine passiert, natürlich Angst mache: "Wir haben damit gerechnet, dass ein Angriff hier 50.000 bis 150.000 russische Soldaten involviert, heute sehen wir, dass 300.000 Mann kein Problem sind", sagt er. "Wir wissen nicht, wo für Russland die Schmerzgrenze liegt." Schon heute gebe es geschätzt mehr als 100.000 Gefallene, aber die Schmerzgrenze sei offenbar noch nicht erreicht. "Kann Russland wirklich zwei Millionen Menschen in den Krieg schicken?", fragt sich der Militär. "Das wäre die estnische Bevölkerung mal zwei. Dagegen anzukommen, ist kompliziert.“

Estland ist gut vorbereitet

Ühtegi ist gleichzeitig davon überzeugt, dass Estland gut vorbereitet ist und sich auf die Alliierten der NATO verlassen könne. „Wenn ein Konflikt hier beginnen sollte, sind wir nicht allein – wir sind zusammen mit den anderen baltischen Ländern, jetzt auch schon mit den nordischen und der NATO." Das bedeute, dass der Gegner seine Einheiten streuen müsse. Aus der Geschichte habe man außerdem gelernt, dass der Angreifer etwa vier Mal mehr Kämpfer als der Verteidiger aufstellen müsse, um ein Territorium einzunehmen und zu kontrollieren. Übertragen auf Estland bedeutet das nach Ühtegis Rechnung, dass der Gegner die 40.000 estnischen Verteidiger mit 160.000 Mann angreifen müsse. Für das ganze Baltikum müssten das 500.000 sein.

Kaitseliit sollte im Kriegsfall etwa 10.500 Personen aufstellen, bis 2024 soll die Zahl noch auf 20.000 steigen. Unter den 17.500 männlichen Mitgliedern sind alle Altersgruppen vertreten, aber nicht alle könnten ins Gefecht ziehen. Ältere können aber mit Unterstützungstätigkeiten beitragen. Es steht eine weitere große Umstellung bevor, denn die Reserve der Verteidigungskräfte soll einbezogen werden und als Einheiten der Region in die Kaitseliit integriert werden.

Ühtegi zeigt sich alles in allem zuversichtlich: „Wir haben uns immer darauf vorbereitet, uns auch allein zu verteidigen. Das verlangt der NATO-Artikel 3, und mit diesem Ziel haben wir die Territorialverteidigung aufgebaut." Je besser man darauf vorbereitet sei, sich selbst zu verteidigen, desto besser klappe das auch kollektiv. "Falls Russland Estland, Lettland oder Litauen angreift, müssen die Verantwortlichen sich dessen bewusst sein, dass das ein Angriff gegen die ganze Allianz ist.“


Fußnote:


  1. Nach dem Zerfall der Sowjetunion führte die Republik Estland das Staatsbürgerschaftsrecht aus dem Jahr 1938 wieder ein. Esten wurden automatisch alle, die vor der "Besatzung" Esten waren oder damals Vorfahren mit estnischem Pass hatten. Vor allem die russischsprachigen Bürger bekamen deshalb nach der Unabhängigkeit 1991 nicht etwa automatisch die estnische Staatsbürgerschaft. Nur wer einen Sprach- und Verfassungstest ablegt, erhält einen estnischen Pass. Wer das nicht will oder kann, bleibt "Staatenloser" mit grauem Reisepass oder beantragt den russischen Pass. ↩︎