Der Glockenturm der Kiewer Sophienkathedrale

Antonina Beresowenko ist Philologin mit einem Schwerpunkt auf Soziolinguistik und Studien zur Nationalidentität. Sie ist Professorin an der Abteilung für ukrainische Sprache, Literatur und Kultur der Nationalen Technischen Universität der Ukraine in Kiew.

Zusammenfassung

Das Gelände rund um die Kiewer Sophienkathedrale ist eines der eindrucksvollsten Architekturensembles der Ukraine. Man betritt es vom zentralen Sophienplatz durch ein Tor im Glockenturm, der baulich nicht mit der im 11. Jahrhundert erbauten Kathedrale verbunden ist. Die Geschichte des Glockenturms ist in vielerlei Hinsicht mit der kulturellen und der politischen Geschichte der Ukraine verbunden.

Weltkulturerbe in Kiew

Der Glockenturm an der Kiewer Sophienkathedrale ist ein Denkmal des Kosaken- (oder Masepa-)Barocks, der das Stadtpanorama des heutigen Kiews prägt und als Stätte des UNESCO-Weltkulturerbes anerkannt ist.

Er war ursprünglich aus Holz. Der aus Syrien stammende Reisende Paul von Aleppo besuchte Kiew von 1654 bis 1656 und berichtet bereits von ihm als höchsten Turm, den er jemals gesehen habe. Nach einem Brand wurde an seiner Stelle 1699 – 1706, finanziert durch den Hetman Iwan Masepa, ein Turm aus Stein gebaut, der das erste Steingebäude auf dem Gelände der Kathedrale nach den Bränden und Zerstörungen des Mittelalters war.1 Der Name des Architekten ist unbekannt, aber der Name eines der Baumeister ist erhalten – der „Untermeister in Steinbauten Sawa Jakowljew“.

Damals war der Glockenturm noch dreigeschossig. Aber als nach einem Erdbeben Risse auftraten, wurden die oberen beiden Geschosse 1744 – 1748 abgetragen und nach einem Plan des Architekten Gottfried Johann Schädel umgebaut.2 Der dritte Stock des Turms wurde im Osten mit einer Statue des Apostels Andreas und des Fürsten Wolodymyr des Großen ausgeschmückt, den Begründern des Christentums in der Kiewer Rus, im Westen mit Statuen des Erzengels Raphael und des Apostelschülers Timotheus, was symbolisch den Zusammenhang mit der Bautätigkeit der Metropoliten Rafajil Saborowski (1731 – 1747) und Tymofij (Timotheus) Schtscherbazki (1748 – 1757) darstellte. Während ihrer Regentschaft geschah der Umbau.

Das einzigartige barocke Stuckdekor wurde von ukrainischen Meistern aus Schowka geschaffen, den Brüdern Iwan und Stepan Stobenski. Eine barocke Kuppel mit einer vergoldeten Spitze krönte das Bauwerk. Leider schlug 1807 der Blitz ein, und sie verbrannte, wurde jedoch 1812 im Stil des Klassizismus erneuert. Im Gefolge seiner nächsten Renovierung wurde sie auch ersetzt. Anschließend ließ 1851/52 der Architekten Symon Petljura Sparro ein viertes Geschoss mit einer birnenförmigen Holzkuppel anbauen, die mit vergoldetem Messing gedeckt war. So besteht der Turm heute aus zwei unteren rechteckigen und zwei oberen achteckigen Geschossen. Nach dieser Erweiterung erreichte die Höhe des Glockenturms 76 Meter.

Traditionell war der Turm vielfarbig, erst im 19. Jahrhundert wurde er nach der Renovierung durch Sparro zweifarbig. Damals wurde die Oberfläche der Wände in Azurblau gemalt, der Stuck weiß. Diese Farbkombination ist bis in unsere Zeit erhalten. Interessant ist, dass man in den 1930er Jahren die Möglichkeit diskutierte, die Vielfarbigkeit wieder herzustellen. Vor allem unter Fachleuten fand der Vorschlag Gefallen, den Turm in Ultramarin zu bemalen, mit weißem Stuck und goldenen Elementen. Aber diese Idee wurde von den sowjetischen Beamten abgelehnt, weil sie darin eine Anspielung auf die „Petljura-Farben“ sahen.3

Ungewöhnliche Engel

Die Ausschmückung der Wände des Glockenturms an der Sophienkathedrale gilt als die bedeutendste Umsetzung der Besonderheiten des Kosaken-Barocks. Alle Wände des Gebäudes sind reich mit verschiedenen Stuckelementen geschmückt. Darin sind Halbreliefs eingeflochten.

Sie zeigen Cupido-Figuren, Vasen, Blumen in Körben, Girlanden, Blumengebinde, heraldische, zweiköpfige Adler, Baldachine über Nischen und Masken. Die interessantesten Darstellungen der Halbreliefs, die sich auf der Westfassade des Glockenturms befinden, sind aber Figuren von schnurrbärtigen Engeln, die wie junge ukrainische Burschen aussehen, in umgürteten Fellmänteln und mit nach oben erhobenen Armen.

Wenn man sie betrachtet, sieht man unwillkürlich eine Parallele zwischen diesen Gestalten und dem Bild der Gottesmutter Oranta im Altarraum der Sophienkathedrale. Sowohl die Gottesmutter als auch die ukrainischen Engel-Burschen tragen einen Chiton, ihre Kleidung ist umgürtet, und die Arme sind erhoben. Dabei sind die Posen der Hände unterschiedlich. Die Oranta hat offene Handflächen, doch die Engel haben Fäuste (ein Symbol von Macht, ein unbedingtes Attribut des Kosakentums), in denen sie eine Krone und Weinreben halten, die sakralen Zeichen für irdische und göttliche Macht.

Seit ihrer Erbauung ist die Kiewer Sophienkathedrale gewissermaßen ein Haus für die Sophia-Oranta, die der Legende nach die Schutzherrin Kiews ist, und solange ihre Mosaikdarstellung mit den erhobenen Händen besteht, solange wird auch Kiew bestehen.

Im Dekor des Glockenturms wandelt sich die Idee einer schützenden Macht in die Gestalten der ukrainischen Engelsburschen, in denen man leicht ukrainische Kosaken erkennt. Sie gelten als Verteidiger der ukrainischen Staatlichkeit, die sich auf den orthodoxen Glauben stützt. So verkörpert die Dekoration des Glockenturms genau die symbolische Ebene der politischen Bemühungen des Auftraggebers des Gebäudes, des Hetmans Iwan Masepa.

Die Glocken und ihr Schicksal

Interessant ist auch die Geschichte der Glocken. Im zweiten Geschoss wurde 1705 eine dreizehn Tonnen schwere Bronzeglocke aufgehängt, die vom Kiewer Meister Opanas Petrowytsch gegossen wurde. Ihr Durchmesser beträgt 1,55 Meter, ihre Höhe 1,25 Meter.

Die Erinnerung an Hetman Masepa, den Mäzen der Arbeiten, ist auf der Glocke im Guss verewigt: „Diese Glocke wurde im Jahr 1705 nach Geburt Christi zur Zeit der Hetmanschaft von Iwan Masepa unter dem Metropoliten Warlaam Jasinski für die Metropolitankirche der Heiligen Sophia, der göttlichen Weisheit, aufgehängt“; daneben befindet sich das Wappen des Hetmans. Es ist bemerkenswert, dass auch das Wappen von Masepa in sich eine Darstellung der Sophienkirche enthält, ja sein zentrales Element ist die Abbildung der Heiligen Sophia, eine Rotunde auf sieben Säulen.

Die Namen von Hetman Masepa, Metropolit Jasinski und die Symbole der göttlichen Weisheit und Kraft, die auf der Glocke eingegossen sind, fügen sich zu einer Art Botschaft über die Staatsgründungsabsichten des Hetmans an die Zukunft zusammen. Paradoxerweise ist gerade diese Glocke mit dem Namen „Masepa“ (manchmal nennt man sie auch „Masepin“) die einzige von zwanzig Glocken aus dem Glockenturm, die in der Zeit der sowjetischen Schreckensherrschaft nicht heruntergeholt wurde. Im Geiste der kommunistischen Epoche wurde die Sophienkathedrale 1930 für Gottesdienste geschlossen. Man vermutet, dass damals die Glocken von ihrem Turm geholt wurden, um sie „für die Zwecke der Industrialisierung“ einzuschmelzen.

Und nur „Masepa“ blieb wegen ihres Ornamentschmucks, der von großem musealem Wert war, in der Zeit dieses atheistischen Wütens an ihrem Platz. Heute schmückt sie wie zur Zeit des Hetmans Masepa das erste Geschoss des Glockenturms über dem Triumphbogen seiner Ostfassade.

Der Lauf der Geschichte wäscht nicht immer die dunklen Folgen der Epochen und Generationen ab. Zuweilen werden ganz im Gegenteil das Wesen, Ausmaß und die Folgen historischer Taten erst mit der Zeit deutlicher. Der Triumphbogen wurde in der russisch-sowjetischen Historiographie so genannt, weil auf dem Platz vor ihm Zar Peter I. seinen Sieg bei Poltawa über die Armeen von Masepa und Karl IX. von Schweden im Jahr 1709 gefeiert hat. Heute wissen wir, dass er schon seit seiner Errichtung 1705 so genannt wurde, und zwar wegen der spirituellen Bedeutung, die das Eintreten auf das Territorium der Sophienkathedrale, der Hauptkirche des Kosakenstaates, hatte.

Gegenwärtig verteidigt die unabhängige Ukraine ihre europäischen (Masepischen) Bestrebungen im Krieg gegen die russische Aggression. Doch schon damals zeigte sich, dass der imperiale Charakter des russischen Staates, wie er zur Zeit von Peter I. geformt wurde, sich mit der gegenwärtigen Dynamik einer zivilisierten Welt nicht vereinbaren lässt.

Die „Masepa“ erklingt selten. Aber in diesem Jahr zum Geburtstag des Hetmans ertönte am 20. März die Glocke.4 Die Kiewer hörten ihren Klang. Sie ertönte über dem Triumphbogen der Kiewer Sophienkirche und verbreitete über Kiew den samtenen Ton der Note d, und der Geist der Masepa-Zeit verband sich mit dem Pathos der Hilfe für die heutigen Ukraine.

Aus dem Ukrainischen von Thomas Bremer.


Fußnoten:


  1. Iwan Masepa machte ab 1669 bei den Kosaken Karriere und stieg zu ihrem Heeresführer (Hetman) auf. ↩︎

  2. Gottfried Johann Schädel (1680-1752; auf Ukrainisch Johann Gottfried Schädel genannt) war ein deutscher Architekt, der in russischen Diensten stand und von 1731 bis zu seinem Tod in der Ukraine gearbeitet hat. Er ist in Kiew bestattet. ↩︎

  3. Symon Petljura Sparro war im Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution Oberhaupt eines kurzlebigen ukrainischen Staates, dessen Flagge blau-golden war. ↩︎

  4. Außer dem Geburtsdatum 20./30. März 1639 trifft man zuweilen auch ein anderes Datum – den 29. August (8. September) 1639. Das jeweils erste Datum bezieht sich auf den damals gebräuchlichen julianischen Kalender, das zweite auf den heutigen (gregorianischen). ↩︎