Der Sprung über die Schatten der Vergangenheit
Im Spätherbst 2015 jährte sich der legendäre Briefwechsel zur Aussöhnung zwischen den katholischen Bischofskonferenzen Deutschlands und Polens zum 50. Mal. Dieser Briefwechsel kurz vor dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils gilt als Meilenstein der Aussöhnung zwischen beiden Völkern und hat angesichts zunehmender Spannungen im deutsch-polnischen Verhältnis nichts an Aktualität verloren. Auf diese Probleme geht ein Schreiben der polnischen Bischöfe von der Kontaktgruppe mit der Deutschen Bischofskonferenz vom 8. September 2017 ein. – Nachstehend folgen Auszüge aus diesen Dokumenten, die Michael Albus zusammengestellt und z. T. sprachlich bearbeitet hat. Die Vorlagen finden sich unter http://potsdamer-konferenz.de/verstaendigung/1965-polnische-bischoefe.php und http://episkopat.pl/appell-der-polnischen-bischofe-von-der-kontaktgruppe-mit-der-deutschen-bischofskonferenz/ (letzter Zugriff: 23.11.2021).
Versuchen wir zu vergessen!
Auszüge aus dem Hirtenbrief, den die polnischen Bischöfe an ihre deutschen Mitbrüder am 18.11.1965 kurz vor dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils geschrieben haben:
„Hochwürdige Konzilsbrüder!
Es sei uns gestattet, ehrwürdige Brüder, ehe das Konzil sich verabschiedet, Ihnen, unseren nächsten westlichen Nachbarn, die freudige Botschaft mitzuteilen, dass im nächsten Jahr die Kirche Christi in Polen und mit ihr zusammen das gesamte polnische Volk das Millennium seiner Taufe und damit auch die Tausendjahrfeier seines nationalen und staatlichen Bestehens begehen wird.
Wir laden Sie hiermit in brüderlicher, aber auch zugleich in feierlichster Weise ein, an den Kirchenfeiern des polnischen Millenniums teilzunehmen. …
Nach kurzer Unabhängigkeit von etwa 20 Jahren (1918 - 1939) brach über das polnische Volk ohne seine Schuld das herein, was man euphemistisch einfach als Zweiten Weltkrieg bezeichnet, was aber für uns Polen als totale Vernichtung und Ausrottung gedacht war. Über unser armes Vaterland senkte sich eine furchtbare finstere Nacht, wie wir sie seit Generationen nicht erlebt hatten. ...
Das Land war übersät mit Konzentrationslagern, in denen die Schlote der Krematorien Tag und Nacht rauchten. Über sechs Millionen polnischer Staatsbürger, darunter der Großteil jüdischer Herkunft, haben diese Okkupationszeit mit ihrem Leben bezahlen müssen. Die führende polnische Intelligenzschicht wurde einfach weggefegt. ...
Alle polnischen Familien hatten ihre Todesopfer zu beklagen. Wir wollen nicht alles aufzählen, um die noch nicht vernarbten Wunden nicht wieder aufzureißen. Wenn wir an diese polnische, furchtbare Nacht erinnern, dann nur deswegen, damit man uns heute einigermaßen versteht, uns selbst und unsere heutige Denkart... Wir versuchen zu vergessen. …
Ein großer Teil der Bevölkerung hatte diese Gebiete aus Furcht vor der russischen Front verlassen und war nach dem Westen geflüchtet. – Für unser Vaterland, das aus dem Massenmorden nicht als Siegerstaat, sondern bis zum äußersten geschwächt hervorging, ist es eine Existenzfrage (keine Frage „größeren Lebensraumes“!). ...
Seid uns wegen dieser Aufzählung dessen, was im letzten Abschnitt unserer tausend Jahre geschehen ist, liebe deutsche Brüder, nicht gram! Es soll weniger eine Anklage als vielmehr eine eigene Rechtfertigung sein! Wir wissen sehr wohl, wie ganz große Teile der deutschen Bevölkerung jahrelang unter übermenschlichem nationalsozialistischem Gewissensdruck standen, wir kennen die furchtbaren inneren Nöte, denen seinerzeit rechtschaffene und verantwortungsvolle deutsche Bischöfe ausgesetzt waren. ...
Trotz dieser fast hoffnungslos mit Vergangenheit belasteten Lage, gerade aus dieser Lage heraus, hochwürdige Brüder, rufen wir Ihnen zu: Versuchen wir zu vergessen! Keine Polemik, kein weiterer kalter Krieg, aber der Anfang eines Dialogs, wie er heute vom Konzil und von Papst Paul Vl. überall angestrebt wird. ...
In diesem allerchristlichsten und zugleich sehr menschlichen Geist strecken wir unsere Hände zu Ihnen hin in den Bänken des zu Ende gehenden Konzils, gewähren Vergebung und bitten um Vergebung. Und wenn Sie, deutsche Bischöfe und Konzilsväter, unsere ausgestreckten Hände brüderlich erfassen, dann erst können wir wohl mit ruhigem Gewissen in Polen auf ganz christliche Art unser Millennium feiern.“
Wir ergreifen in brüderlicher Ehrfurcht die dargebotenen Hände
Auszüge aus der Antwort der deutschen Bischöfe an ihre polnischen Brüder:
„Hochwürdigste Mitbrüder im bischöflichen Amt!
Mit Bewegung und Freude haben wir Ihre Botschaft vom 18. November dieses Jahres und Ihre freundliche Einladung zur Tausendjahrfeier der Christianisierung des polnischen Volkes empfangen. ...
Furchtbares ist von Deutschen und im Namen des deutschen Volkes dem polnischen Volke angetan worden. Wir wissen, dass wir Folgen des Krieges tragen müssen, die auch für unser Land schwer sind. Wir verstehen, dass die Zeit der deutschen Besatzung eine brennende Wunde hinterlassen hat, die auch bei gutem Willen nur schwer heilt. Umso mehr sind wir dankbar, dass Sie angesichts dieser Tatsache mit wahrhaft christlicher Großmut anerkennen, wie in der Zeit des Nationalsozialismus auch ein großer Teil der deutschen Bevölkerung unter schwerem Gewissensdruck gestanden hat. ...
Eine Aufrechnung von Schuld und Unrecht – darin sind wir einer Meinung – kann uns freilich nicht weiterhelfen. Wir sind Kinder des gemeinsamen himmlischen Vaters. Alles menschliche Unrecht ist zunächst eine Schuld vor Gott, eine Verzeihung muss zunächst von ihm erbeten werden. An ihn richtet sich zuerst die Vaterunserbitte Vergib uns unsere Schuld! Dann dürfen wir auch ehrlichen Herzens um Verzeihung bei unseren Nachbarn bitten. So bitten auch wir zu vergessen, ja, wir bitten zu verzeihen. Vergessen ist eine menschliche Sache. Die Bitte um Verzeihung ist ein Anruf an jeden, dem Unrecht geschah, dieses Unrecht mit den barmherzigen Augen Gottes zu sehen und einen neuen Anfang zuzulassen.
Dieser Anfang ist besonders belastet durch die bitteren Folgen des von Deutschland begonnenen und verlorenen Krieges. Millionen von Polen mussten aus dem Osten in die ihnen zugewiesenen Gebiete übersiedeln. Wir wissen wohl, was darum für das heutige Polen diese Gebiete bedeuten. Aber auch Millionen Deutsche mussten ihre Heimat verlassen, in der ihre Väter und Vorfahren lebten. ...
Am Schluss Ihres Schreibens stehen die kostbaren Worte, die für unsere beiden Völker eine neue Zukunft eröffnen können: ‚Wir strecken unsere Hände zu Ihnen hin in den Bänken des zu Ende gehenden Konzils, gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.‘ Mit brüderlicher Ehrfurcht ergreifen wir die dargebotenen Hände. Der Gott des Friedens gewähre uns auf die Fürbitte der ‚Regina Pacis‘, dass niemals wieder der Ungeist des Hasses unsere Hände trenne.
*Am 8. September 2017 richteten die polnischen Bischöfe von der Kontaktgruppe mit der Deutschen Bischofskonferenz einen Appell an die Öffentlichkeit:
Die Vergebung ist keine konjunkturelle Entscheidung
Der Aussöhnungsprozess, den wir in den vergangenen Jahren gemeinsam unternahmen und konsequent realisierten, ist ein Vorbild für viele andere Staaten auf der Welt. Es ist erforderlich, zu erinnern, dass dieser Prozess vor über 50 Jahren initiiert worden ist mit dem Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe, der von Kardinal Stefan Wyszyński und den Erzbischöfen Karol Wojtyła und Bolesław Kominek unterzeichnet wurde. In diesem Brief befanden sich die denkwürdigen Worte: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“ Sie haben nichts an ihrer Bedeutung und Aktualität verloren. Die Vergebung ist keine konjunkturelle Entscheidung, die von den Umständen abhängt, sondern ein unwiderruflicher Akt der Barmherzigkeit, welcher der Gerechtigkeit nicht widerspricht, sondern sie ergänzt.
In den vergangenen Jahrzehnten haben wir von deutscher Seite viele Gesten erfahren, die auf die Versöhnung der beiden Nationen abzielten und auf die Überwindung der Folgen der tragischen und schmerzhaften Ereignisse, welche die Geschichte der beiden Nationen füllen. Einen dauerhaften Platz besitzen in dieser Geschichte die Worte von Helmut Kohl, die er in Krzyżowa, zwei Tage nach dem Mauerfall in Berlin, ausgesprochen hatte: „Lasst uns vom Altar aus in Richtung einer guten, friedlichen, von Gott gesegneten Zukunft gehen: für unsere Völker, für das polnische und das deutsche Volk, für uns alle in Europa.“ Solche Gesten und solche Worte darf man weder vergessen noch missachten, denn sie ebneten uns letztendlich den Weg für die Völker des vereinten Europas und sind auch bis heute verpflichtend. ...
Das Kapital des Guten in den gemeinsamen Beziehungen zwischen den Gesellschaften, Nationen und Ländern, das über Jahre angesammelt wurde, darf man weder vergeuden noch verspielen. Das Kapital der Versöhnung und der Beziehungen muss geschützt, gestärkt und vermehrt werden zum Wohle unserer Heimatländer. …
In diesem Kontext hoffen wir, dass die für unser Land und die internationalen Beziehungen zuständigen Personen, welche die schon vollbrachten Versöhnungsprozesse vor Augen haben, auf diesem Kapital aufbauen werden. …
Wir sind voll der Hoffnung, dass auf dieser Ebene der „Stil eines Handelns für den Frieden“ von beiden Seiten fortgesetzt wird.