OWEP 2/2018

OWEP 2/2018

Schwerpunkt:
Wege zur Versöhnung

Editorial

Versöhnung – was für ein Wort! Ein theologischer, ein philosophischer, ein politischer, ein religiöser Begriff. Jedenfalls ein Begriff von dauernder Aktualität an wechselnden Schauplätzen und Tatorten menschlichen Handelns oder Nichthandelns.

Die Wortgeschichte weist aus, dass Versöhnung etwas mit „Sühne“ zu tun hat. Also auch mit der Aufarbeitung roher oder subtiler Gewalt, die wir Menschen uns immer wieder antun. Wege der Versöhnung sind Geh-Versuche, der sinnlosen Gewaltpraxis die unbedingte und bedingte Bereitschaft zum Frieden entgegenzusetzen, um ein tragfähiges Miteinander zu ringen.

Wenn wir auf den gegenwärtigen Zustand der „modernen“ Welt schauen, erscheint die Bereitschaft zur Versöhnung dringender und notwendiger denn je. Davon berichtet diese Ausgabe von OST-WEST. Europäische Perspektiven. Sie konzentriert sich – dem Auftrag gemäß – auf Mittel- und Osteuropa und nimmt Brennpunkte in den Blick, an denen sichtbar wird, dass die Sehnsucht nach und der Auftrag zur Versöhnung eine lange, schmerzliche Geschichte und eine unabsehbare und manchmal auch unübersichtliche Zukunft haben: das deutsch-polnische Verhältnis, Bosnien und Herzegowina, Albanien, das ferne und unbekannte Berg-Karabach, um nur ein paar zu nennen.

Auschwitz kann dabei nicht ausgespart werden: das erratische und bleibende Gewaltsymbol menschlicher Geschichte und der bleibend abgründige Anlass, durch konkrete Erinnerung das Modell eines tragfähigen menschlichen Miteinanders zu versuchen. Immer wieder. Erinnern und versöhnen bleiben Aufträge, solange es Menschen gibt.

Wir neigen zur Gewalt. Jede und Jeder. Und wir haben – oft verschüttet – Sehnsucht nach Versöhnung. Kein Bereich bleibt dabei ausgespart. Staaten, Völker, Religionen und Gesellschaften, Personen sind damit konfrontiert. Mit dieser Ausgabe wollen wir zum Nachdenken und Handeln anregen.

Die Redaktion

Kurzinfo

Versöhnung lässt sich sowohl als Begriff wie als Vorgang nur schwer fassen. Eine Definition wird weit ausgreifen müssen, und ob Versöhnung letztlich gelingt oder misslingt, hat viel mit persönlicher Erfahrung zu tun. Dass sie notwendig ist, liegt auf der Hand: Europa befindet sich derzeit in einer krisenhaften Situation, Populismus und neuer Nationalismus machen sich breit. Vielfach kommen dabei alte, offenbar nicht gelöste Konflikte ans Tageslicht, kaum vernarbte Wunden brechen auf. Hier gilt es, das Gespräch zu suchen, um zumindest Wege zur Versöhnung zu finden. Das vorliegende Heft möchte ein wenig dazu beitragen.

Eröffnet wird die Abfolge der Beiträge mit einem grundlegenden Essay von Prof. Dr. Thomas Hoppe, Professor für Katholische Theologie unter besonderer Berücksichtigung der Sozialwissenschaften und der Sozialethik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Der Schwerpunkt seiner Überlegungen liegt auf dem Wesen dessen, was Erinnerung ausmacht. Nur ein Mensch, der zu einer schonungslosen Selbstanalyse bereit ist, kann die eigene Schuld erkennen und einen Zugang zum anderen, zum Opfer, finden, das seinerseits ebenfalls zu einer Öffnung bereit sein muss, damit Versöhnung überhaupt beginnen kann. Das Ganze ist schwierig, bedarf vieler Schritte und kann leider auch scheitern, sodass oft erst die nächste Generation zu einem behutsamen Zueinander finden wird. Wie langwierig solche Entwicklungen sein können, zeigt der Text des polnischen Historikers Dr. Robert Żurek, der die Phasen des deutsch-polnischen Versöhnungsprozesses seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts nachzeichnet. Auch hier hat es in den letzten Jahren trotz aller Fortschritte neue Irritationen gegeben, sodass die Menschen in beiden Ländern weiterhin zum ehrlichen Gespräch auf Augenhöhe aufgefordert bleiben.

So abwegig es auf den ersten Blick zu sein scheint: Auch das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, Synonym für schlimmste Verbrechen, die der Mensch dem Mitmenschen antun kann, ist ein „Ort der Versöhnung“. Pfarrer Dr. Manfred Deselaers, Seelsorger am Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcim, stellt in seinem Artikel neben der Geschichte von Auschwitz auch dessen aktuelle Funktion als Besinnungs- und Begegnungsort vor, an dem im 21. Jahrhundert Menschen aus aller Welt zusammenkommen.

Die darauf folgenden Beiträge zeichnen Versöhnungsbemühungen in einzelnen Ländern nach und stehen damit stellvertretend für viele andere weltweit. Dr. Jasna Dragović-Soso, Professorin für Internationale Beziehungen im (evtl.: am?) Goldsmiths College der Universität London, erläutert die langwierigen und letztlich erfolglosen Bemühungen zur Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission für Bosnien und Herzegowina. Im Mittelpunkt der Darlegungen des aus Armenien stammenden Rechtswissenschaftlers Harutyun Grigoryan steht der hierzulande nahezu vergessene Konflikt um Berg-Karabach, eine überwiegend von Armeniern bewohnte Region im Kaukasus, wegen deren Status es zwischen Armenien und Aserbaidschan bereits mehrfach zu militärischen Konflikten gekommen ist. Eine Lösung ist nicht in Sicht, und leider ist auch der Einsatz der internationalen Gemeinschaft bisher nicht sehr hilfreich gewesen. Einen anderen Weg zur Versöhnung beschreibt Dr. Dagmar Heller, Mitarbeiterin des Konfessionskundlichen Instituts des Evangelischen Bundes in Bensheim. Sie zeichnet ein seit über zwanzig Jahren laufendes Projekt der Kirchen in Belarus, Polen, der Ukraine und Deutschland nach, das in vielen kleinen Schritten dazu beigetragen hat, dass orthodoxe, katholische und evangelische Christen in diesen Ländern gegenseitiges Misstrauen abbauen und in einigen Bereichen eine Zusammenarbeit vereinbaren konnten. Schließlich schildert Luigj Mila, Generalsekretär der Kommission Justitia et Pax Albanien, in wenigen markanten Strichen die Geschichte Albaniens nach, das sich 1967 zum „ersten atheistischen Staat der Welt“ erklärt hat und massiv gegen jegliche Form der Religionsausübung vorging. Die katholische Kirche nimmt bei der Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Gläubigen eine Vorreiterrolle ein.

Abgeschlossen wird die Abfolge der Texte mit einem grundlegenden Aufsatz unter dem Titel „Gewaltbelastete Vergangenheit und gesellschaftliche Versöhnungsprozesse“ von Dr. Jörg Lüer, Geschäftsführer der Deutschen Kommission Justitia et Pax. Der Autor würdigt kritisch die Beiträge des Heftes und ergänzt sie durch eigene Gedanken zur Vielschichtigkeit von Versöhnungsprozessen.

Unter der Rubrik „Dokument“ folgen Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen den Bischofskonferenzen Polens und Deutschlands 1965, die in die berühmten Worte „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“ einmünden. Da sich, wie schon angedeutet, in den letzten Jahren zwischen Polen und Deutschland wieder Differenzen häufen, haben sich mehrere polnische Bischöfe 2017 mit einem Appell an die Öffentlichkeit gewandt, der die Verantwortlichen beider Länder ermahnt, das erreichte Einvernehmen nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Auch hieraus werden Auszüge zitiert.

Zwei Interviews schließen das Heft ab. Dr. Bernd Fabritius, der Präsident des Bundes der Vertriebenen (BdV), äußert sich zur historischen Rolle der Heimatvertriebenen in der deutschen Gesellschaft und skizziert, inwieweit sie heute und auch künftig als „prädestinierte Brückenbauer in ihre Herkunftsgebiete“ für Deutschland und seine Nachbarn im östlichen Europa eine gesellschaftliche und politische Bedeutung haben könnten. Dr. Gerhard Albert, scheidender Geschäftsführer von Renovabis, blickt auf die Entstehung und Entwicklung von Renovabis aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Gründung unter dem Leitgedanken „Bleibender Auftrag zur Versöhnung“ zurück.

Ein kurzer Ausblick auf Heft 3/2018, das im August 2018 erscheinen wird: Unter dem Schwerpunkt „Europa und der Islam“ wird das Heft die innerislamische Debatte („Euroislam“ versus „Fundamentalismus“) beleuchten und die Lage der Muslime u. a. in Deutschland, Bosnien und Herzegowina, Frankreich, Russland und Ungarn behandeln. Ein weiteres Thema wird der Dialog zwischen Christen und Muslimen sein.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

82
Authentische Erinnerung – Fundament für tragfähige Versöhnung
Thomas Hoppe
90
Europäische Dimension der deutsch-polnischen Versöhnung
Robert Żurek
97
Auschwitz – ein Ort der Versöhnung?
Manfred Deselaers
106
Geschichte eines Versagens. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission für Bosnien und Herzegowina
Jasna Dragović-Soso
117
Möglichkeiten und Hindernisse von Versöhnung am Beispiel Berg-Karabach
Harutyun Grigoryan
125
Versöhnung in Europa – Ein ökumenisches Projekt der Kirchen in Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland
Dagmar Heller
133
„Wie können wir zu einer Versöhnung kommen?“ Albanien und seine kommunistische Vergangenheit
Luigj Mila
137
Gewaltbelastete Vergangenheit und gesellschaftliche Versöhnungsprozesse. Überlegungen zu den Beiträgen dieses Heftes
Jörg Lüer
145
Der Sprung über die Schatten der Vergangenheit. Der Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe 1965 – der Appell der polnischen Bischöfe 2017 (Dokument)
Michael Albus
150
„Heimatvertriebene sind prädestinierte Brückenbauer in ihre Herkunftsgebiete.“ Ein Gespräch mit Dr. Bernd Fabritius, dem Präsidenten des Bundes der Vertriebenen (BdV)
Christof Dahm und Burkhard Haneke
155
25 Jahre Renovabis – Bleibender Auftrag zur Versöhnung. Ein Gespräch mit Dr. Gerhard Albert, Geschäftsführer von Renovabis
Christof Dahm und Burkhard Haneke

Summary in English

Both as a term and a process, reconciliation is hard to comprehend. A definition will have to go far afield, and its success (or failure) is often concerned with personal experiences. Currently, Europe is in a critical situation, populism and new nationalisms are spreading. Frequently, old and obviously unsolved conflicts are brought up, barely scarred wounds open up. Accordingly, it is important to seek the conversation in order to find at least paths towards reconciliation. The current issue would like to contribute to this on the basis of articles and documents.