Die Erfahrung von Glaubensherausforderungen

aus OWEP 2/2022  •  von Lidija Losowa

Die Kulturhistorikerin Lidija Losowa (geb. 1983) kommt aus Kiew, ist Mitarbeiterin im Zentrum „Duh i Lytera“ und lebt seit Anfang März in Deutschland im Exil. Sie widmete sich in den letzten Jahren zahlreichen Projekten zu Religion und Versöhnung.

Gespräche vor dem Krieg

Lidija Losowa (Foto: privat)

In den letzten Monaten vor dem Krieg sind wir von der Gemeinde der „Kleinen Sophia“ in Kiew jeden Sonntag nach dem Gottesdienst mit einigen Gemeindemitgliedern und dem Priester Georgi Kowalenko in ein kleines Café gegangen und haben oft stundenlang über verschiedene Dinge gesprochen: über die kirchliche und die politische Lage in der Ukraine und in der Welt, darüber, was uns leben lässt und wie wir unsere Gemeinde und die Kirche sehen wollen, und manchmal auch, was wir machen werden, wenn der Krieg beginnt. Und obgleich die Spannung jede Woche und jeden Tag wuchs, wollten wir nicht so richtig an den Krieg glauben. Doch am 24. Februar um fünf Uhr morgens wurde die Hoffnung darauf, dass das irgendwie vorbeigeht, von einem Schockzustand nach einem dumpfen starken Schlag vor dem Fenster abgelöst, der einen physisch fühlen ließ, dass die schrecklichsten und am wenigsten vorstellbaren Prognosen doch wahr würden. Am Tag zuvor war mein Geburtstag, die Gäste gingen spät, sodass ich erst drei Stunden, bevor alles anfing, ins Bett kam und nicht in tiefen Schlaf fiel.

In diesem ersten Zustand, einer Mischung von Angst und Lähmung, fühlten sich der Glaube und das Gebet wie durch dickes Glas an. Nein, die Frage „Wo ist Gott jetzt?“ kam mir nicht – vermutlich genau deswegen, weil wir in unserer kleinen christlichen Gesellschaft viel über die theologische Komponente des russisch-ukrainischen Konflikts gesprochen haben, die Häresie von der „Russischen Welt“ und ähnlich Dinge. Ich habe verstanden, was geschieht, und wusste, dass Gott auch hier ist, aber seine Gegenwart zu spüren war mir nicht möglich. Ich erinnere mich, dass ich wie im Traum begann, chaotisch Sachen zu packen, mich zu erinnern, wo der nächste Schutzkeller war (den ich früher nur auf einer Stadtkarte gesehen hatte), zur Wohnung meiner Mutter zu gehen, der es nicht gut ging, zu denken, was jetzt sein wird, was zu tun ist – und zu beten. In mir waren nur ein dumpfes, hölzernes Jesusgebet, ein „Herr, erbarme dich“, und ein Gebet an die Gottesmutter, doch ohne sie konnte ich es nicht aushalten und nichts entscheiden.

In Kiew war ich nur zwei Tage, und das Schlimmste in dieser Zeit war die drohende Erwartung von Bombardierungen, der Klang der Warnsirenen und die bedrohliche Leere bekannter Straßen. Am Tag, nachdem ich die Stadt verlassen hatte, schlugen Splitter einer russischen Rakete in ein Haus ein, das nur zehn Minuten zu Fuß von meinem entfernt war. Dann begann eine lange Reise durch die Ukraine und Rumänien nach Deutschland, große Angst um meine Mutter, die sich zum Bleiben entschlossen hatte, und um Freunde, Zusammenzucken bei jeder Mitteilung über Luftalarm zu Hause in der Telefon-App, ganztägige Lektüre der Nachrichten und von Chats sowie Kontakt mit mir nahen Menschen.

Jetzt, in Ungewissheit über die Zukunft, aber in Sicherheit, gemeinsam mit meiner Mutter, die sich dann doch evakuieren ließ, im warmherzigen Kreis der Freunde aus dem Laurentiuskonvent in Laufdorf bei Frankfurt (Main), habe ich keine Angst mehr vor Flugzeuggeräuschen und warte nicht auf das Sirenenheulen. Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, wie angespannt die Realität zu Hause empfunden wird, vor allem an den Brennpunkten. In diesem Zusammenhang will ich gleich ehrlich sagen, dass es mir sehr schwer erscheint, über die Erfahrung von Glaubensherausforderungen zu berichten. Meine Erfahrung ist die Erfahrung eines Flüchtlings, der das Land in der ersten Woche verlassen hat, und nicht die Erfahrung eines Menschen an der Front oder die von jemandem, der die letzten drei Wochen in der Hölle verbracht hat, die Mariupol jetzt ist. Oft scheint mir, dass ich im Vergleich zu Menschen, die so etwas erlebt und überlebt haben, gar nicht das Recht habe, überhaupt auch nur zu sprechen. Anderseits habe ich das klare Gefühl, dass es das Geringste ist, das ich jetzt für die Ukraine tun kann: der Welt gegenüber Zeugnis abzulegen von meinem Weg und vom Weg derjenigen, die bei mir sind; deswegen möchte ich doch darüber sprechen.

Ohne Furcht vor dem Tod

Natürlich ist die wichtigste Existenzfrage, wenn man unter Bombardierungen lebt, damit verbunden, wie man es lernt, sich nicht vor dem Tod zu fürchten und sich an die Auferstehung zu erinnern. Ein Christ lernt das eigentlich sein ganzes bewusstes Leben lang, man liest davon, man denkt darüber nach, und es gibt hervorragende Menschen, die praktisch immer auf diesem Niveau sind. Doch bei mir und bei vielen, mit denen ich befreundet bin, ist es in der jetzigen Situation oft so, dass die Lähmung mit der Zeit vom Kopf besiegt wird. Mit ihr auch das Gefühl von Ausweglosigkeit und Schuld wegen der eigenen Schwäche des Geistes, wegen des Mangels an Glauben daran, dass der Herr zuhört, wegen der Unfähigkeit, etwas für sich zu entscheiden oder sich vollständig dem Schmerz der anderen zuzuwenden und so zu helfen, wie es nötig ist. Natürlich erinnern wir uns, dass „die Stärke Gottes in der Schwäche liegt“, und in Momenten der Kraftlosigkeit geschehen tatsächlich unerwartete Dinge (ein Anruf, zwei aufbauende Worte, ein wie durch ein Wunder gefundener Platz im Auto für die Evakuierung), aber nicht immer. Oft gelangt man von dem, was man mit den eigenen Augen sieht, was man hört oder liest, in einen zerschlagenen und erdrückten Zustand. Und dann wartet man, wenn es sich ergibt, einfach darauf, dass sich das Leid in Ertragen verwandelt, von Ertragen in Erfahrung, und von Erfahrung in Hoffnung (Röm 5,3-5) – und dass die Hoffnung nicht täuscht, also dass dieser ganz Alptraum möglichst bald zu Ende ist.

Unbeantwortete Fragen

Doch außer den Fragen, die mit Leben und Tod zu tun haben, tauchen ständig auch andere auf, die einen mit der Zeit wahnsinnig machen können und den Glauben an die Christen und das Christentum erschüttern. Bis zu diesem Krieg kam es nicht vor, war es unmöglich wirklich zu glauben, dass die Welt – und auch die christliche Welt – so verwundet, blind, brutal und absurd ist. Wie kann es sein, dass viele Menschen in Russland immer noch ihrem Fernsehgerät glauben und nicht ihren Nächsten, die ihnen erzählen, was in der Ukraine wirklich geschieht? Wie kann das sein, was Patriarch Kirill und viele Geistliche und Gläubige (verschiedener Konfessionen) in Russland und Belarus sagen? Wie kann das sein, dass in den Kommentaren im Telegram-Kanal von Vater Kirill Hovorun so viel Bosheit und Anschuldigungen von russischen Orthodoxen gepostet wird? Wie kann es sein, dass einige Bischöfe in der Ukraine selbst „neutral“ bleiben, die vom Krieg sprechen, aber davon schweigen, wer ihn in unserem Land führt? Wie ist es möglich, dass evangelische Christen in Russland glauben, dass ihre Glaubensgeschwister in der Ukraine über ihren Schmerz schweigen müssen, um die russischen Gläubigen nicht zu beleidigen? Wie kann man zum Gebet für den Frieden aufrufen, ohne die Dinge bei ihrem Namen zu nennen?

Hier in Deutschland ist mir noch eine Frage an die Kirche in den Sinn gekommen. Vor einigen Tagen bin ich zum Abendgottesdienst in eine griechisch-orthodoxe Kirche gegangen, doch kurz nach dem Beginn rief mich meine Mutter an, die bis dahin einige Tage hierher unterwegs war und gerade von Krakau nach Frankfurt fliegen wollte. Sie hatte sich nur mit Mühe von der Evakuierung überzeugen lassen, war zum ersten Mal in ihrem Leben im Ausland und auf einem internationalen Flughafen. Natürlich war sie ganz durcheinander. Als ich zum Ausgang ging, um mit ihr zu sprechen, hielten mich erboste Gemeindemitglieder auf und erklärten mir voller Ärger, dass man in der Kirche während des Gottesdienstes nicht umhergehen und an das Telefon gehen darf.

Das Hadern mit den Ritualen

Als ich meine Situation erklärte, hat sie das nicht besonders beruhigt: „Ja, aber das ist eine Kirche!“ Mir tat es weh, dass die Tragödie in der Ukraine und mein persönliches Drama ihnen weniger wichtig schienen als die Ordnung und die Schönheit eines Gottesdienstes in der Fastenzeit. Die ganze restliche Zeit in der Kirche habe ich mich bemüht, ihnen zu verzeihen, weil sie so etwas nie erlebt hatten. Es ist interessant, dass meine Freundin aus Luhansk, Leiterin eines Kirchenchores, die schon lange in Kiew lebt, mir gleich am nächsten Tag schrieb, das Schrecklichste sei, dass sie den Sinn für die langen Gottesdienste verloren habe, die sie jetzt in der Evakuierung in einem Kloster in Czernowitz singt. Ich habe begriffen, dass es mir ähnlich ergangen ist. Wenn solche Dinge wie jetzt mit uns geschehen, wirken viele kirchliche Rituale unangemessen und sinnlos, zu sehr von der Realität entfernt – und man ist enttäuscht über die eigene Tradition.

Die Frage nach der christlichen Haltung zu Gewalt und Gegengewalt stellte sich für mich schließlich als große Herausforderung heraus. Viele Freunde merkten an (und das kann ich auch aus meiner Erfahrung bezeugen), dass während der Ereignisse die alttestamentlichen Verfluchungen des Psalmisten sehr gut verständlich wurden, die früher zu „unchristlich“, brutal, unnötig erschienen. Ich beschäftige mich seit einigen Jahren mit Projekten von Dialog und Konfliktbearbeitung und mag dieses Thema sehr, aber im Krieg reduziert sich das darauf, dass man mit einer tausend Kilometer entfernten Raketenabschussrampe nicht in Dialog treten kann - auch nicht mit einem Flugzeug, aus dem Bomben fallen. Wenn durch die russischen Raketen, Panzer, Schüsse Menschen ums Leben kommen – und vor allem die unschuldigen und verletzlichsten –, dann ist es ganz natürlich, nicht nur vor Schmerz zu schreien, sondern auch die zu verfluchen, von denen das ausgeht. Es ist natürlich, den Feind zu hassen, seinen Tod zu wünschen, sich darüber zu freuen, dass die ukrainische Armee nicht nur immer mehr Flugzeuge und Panzer vernichtet, sondern auch die „menschlichen Reserven“ des Gegners, die Liquidierung ihrer Kommandanten, Panzerzüge, Bataillone zu wünschen.

Besonders scharf merkt man das, wenn man mitten im Geschehen ist. Vor einigen Tagen sagte das Oberhaupt der Orthodoxen Kirche der Ukraine, Metropolit Epiphani, dass das Töten eines Feindes keine Sünde sein, dass unser Krieg „gerecht“ sei. Der Satz „Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen“ bezeuge, dass Gott auf unserer Seite sei und wir daher gewinnen würden. Einerseits ist eine solche Theologie dazu berufen, unsere Streitkräfte, die zur größten Hoffnung für Millionen Ukrainer geworden sind, zu unterstützen und zur Verteidigung aufzurufen. Andererseits fällt es mir persönlich schwer, sie ganz anzunehmen, weil sie zu oft wie ein Spiegelbild der Theologie des Angreiferlandes erscheint.

Suche nach Antworten

In den Wochen, die seit Kriegsbeginn vergangen sind (das Leben wird jetzt vom 24. Februar an gerechnet), suche ich die ganze Zeit Antworten auf die Herausforderungen, vor denen jetzt das Gewissen steht. Worin bestehen mein Glaube und meine Hoffnung? Wie kann man in Zeiten des Krieges ehrlich und menschlich zugleich sein? Wie kann man die Beziehungen zur eigenen kirchlichen Tradition neu bauen? Ist Feindesliebe möglich oder erlaubt, wenn er einen tötet? Ist es richtig, nach Versöhnung zu suchen? Und vor allem: Was hilft einem dabei, seinen Weg inmitten von Dunkelheit, Gewalt, Schmerz und Ungewissheit zu ertasten?

Ich sage gleich das Wichtigste: Um zu spüren, dass das Leben mehr ist als der Tod, und um sich langsam von der lähmenden Angst zu befreien, hilft jetzt vor allem die Solidarität von Menschen, die sich an verschiedenen Orten und auf verschiedene Weise aus der Tiefe ihrer eigenen religiösen oder nichtreligiösen Überzeugungen bemühen, bei einem zu sein, und die ihren Beitrag dazu leisten, damit Erleuchtung und Frieden eintreten. Und eine besonders feste Unterstützung ist jetzt natürlich die Solidarität von Christen. Um Boden unter den Füßen und die Einheit der Kirche als Leib Christi zu spüren, ist es jetzt wichtig, die Erklärungen von Kirchenführern und anderen Persönlichkeiten in der Ukraine und in der Welt zu hören, und auch die kollektiven und individuellen Stimmen von Menschen in Russland, die keine Angst haben, die Wahrheit zu sagen (etwa die Erklärung von 286 russischen Priestern, die zum Krieg „Nein“ gesagt haben). Ein besonderes Geschenk ist die Erklärung von orthodoxen Theologen, die die „Russische Welt“ zur Häresie erklärt haben und behaupten, dass Gespräche über einen Bruderkrieg und Aufrufe zum Frieden dann keinen Sinn haben, wenn sie nicht die mörderische Absicht und die Schuld der einen Seite anerkennen, sondern das Gebet zu einer Rechtfertigung für Tatenlosigkeit verdrehen.

Aber nicht weniger wichtig sind die unmittelbaren Kontakte, die Zeugnisse von Mitmenschlichkeit, Liebe und Freundschaft mitten im Dickicht der schrecklichen Ereignisse. Um Gott vertrauen und nach vorne sehen zu können, genügen einfache Gesten, die jetzt sehr stark wirken: ein aufrichtiges Interesse von Freunden und ganz Unbekannten an meinem Leben, das eigene Interesse am Leben, die Versuche, Menschen miteinander in Kontakt zu bringen, mit Geld zu helfen, mit der Suche nach einer Unterkunft, Arbeit oder einem Transportmittel für die Evakuierung. Oft hilft sogar einfach die Frage „Wie geht es dir?“

Gemeinsame Gebete

Im christlichen Milieu wird die Ökumene jetzt von etwas „Spekulativem“ rasch zu etwas Natürlichem und Leichtem. Wenn in einer kritischen Situation echte Menschlichkeit praktiziert wird, hören die Grenzen einfach auf zu existieren. So beten etwa hier, im Laurentiuskonvent, wo man schon 30 Jahre lang Flüchtlinge aus allen Ecken der Welt als liebe und werte Gäste aufnimmt, einige orthodoxe Ukrainer – sowohl aus dem Moskauer Patriarchat als auch aus der Orthodoxen Kirche der Ukraine (zu der ich gehöre) morgens und abends gemeinsam mit Deutschen in deutscher Sprache, singen Taizé-Lieder und fühlen sich nicht weniger im Haus Gottes (jetzt merkwürdigerweise sogar mehr) als in einer orthodoxen Kirche.

Natürlich will ich eine Gemeinde meiner Tradition finden, in der das Wichtige nicht von Zweitrangigem verstellt wird. Aber ich habe jetzt das Gefühl, dass Christus deutlich und spürbar alle vereint, die zu Ihm hinstreben. In der Fastenzeit kann und muss man einfach dort von Herzen beten, wo man gerade ist und wo Seine Gegenwart absolut ersichtlich ist.

Was die Feindesliebe betrifft, so ist es jetzt für mich besonders wichtig, die Solidarität derjenigen Christen aus Russland zu spüren, die mit dem Regime nicht übereinstimmen und sogar für das Vorgefallene um Vergebung bitten, obwohl sie keine unmittelbare Beziehung dazu haben. Das haben mir in den ersten Tagen des Krieges einige orthodoxe Russen geschrieben, Teilnehmer an Kursen der christlichen Bildungsplattform ETHOS, deren Tätigkeit ich in den letzten zwei Jahren koordiniert habe.

Es gab auch noch andere Fälle. Als meine Freundin, die Kulturwissenschaftlerin und Patrologin Darja Morosowa, mit ihrer kleinen Tochter zwei Wochen in einem besetzten Dorf in der Nähe von Kiew ohne Tageslicht und Kommunikationsverbindung war, machte mich ein junger Priester der Russischen Orthodoxen Kirche ausfindig, der sich in Deutschland befand und der sie suchte. Er grämte sich wirklich über das Vorgefallene, freute sich, als Darja herauskam, teilte seine Gedanken mit seinen Gemeindemitgliedern in Russland und begann, ukrainischen Flüchtlingen in Deutschland zu helfen.

Wege gegen Propaganda

Noch ein Beispiel: Ein Freund aus Belarus, der vorher mit seiner russischen Frau einige Jahre in Charkiw gelebt hatte, gelangte durch Zufall im Dezember 2021 nach Sibirien und wurde dort zehn Tage vor dem Krieg zum Priester geweiht. Gestern erzählte er mir, dass seine Frau und er jetzt, am Boden zerstört von den Vorfällen, einen Weg suchen, zu den Gemeindemitgliedern durchzudringen, die von der langjährigen Propaganda verkümmert sind, und ihnen seine Liebe zur Ukraine, die Wahrheit über den Krieg und insgesamt eine andere, ehrliche und menschliche Sicht auf die Dinge zu vermitteln.

Und noch ein bemerkenswerter Fall: Eine enge Freundin aus Russland hatte die Ukraine liebgewonnen und zog im letzten Dezember nach Kiew um, weil es in der Ukraine mehr Leben und Freiheit gab. Dort traf sie einen jungen Mann, der ihr Bräutigam wurde. Und obwohl sie sich ein Jahr zuvor in einer schwierigen Lage von der Kirche entfernt hatte, spürte sie einige Tage vor dem Krieg dank unserer kleinen christlichen Gruppe das Bedürfnis zu beichten und zu kommunizieren. Doch das ging schon nicht mehr. Nach einer Woche im Schutzraum in der Kiewer Metro fuhren die beiden in der Umgebung aufs Land, von wo sie nicht mehr weiterkamen. Die Freundin empfindet oft viel Angst und Schmerz um sich und um Menschen in beiden Ländern. Doch mitten im Krieg geschah ein Wunder, das für die beiden eine starke Unterstützung darstellte: Sie konnten heiraten, und die Trauung führte ein Metropolit der Orthodoxen Kirche der Ukraine durch, der sich auch dort befand. Weil sie keine Ringe hatten, machten sie sich welche aus Aluminiumfolie. Solche Beispiele lassen es einfach nicht zu, dass der Feindeshass das Herz erfasst, auch in den tragischsten Umständen nicht.

In theologischer Hinsicht wird meine persönliche Position in der Gewaltfrage von dem Kapitel über den Krieg, den Frieden und die Gewalt im Dokument des Ökumenischen Patriarchats „Für das Leben der Welt. Auf dem Weg zu einem Sozialethos der Orthodoxen Kirche“ bestätigt: Auch wenn orthodoxe Gläubige am Krieg teilnehmen dürfen, geschieht das nur angesichts der „unausweichlich tragischen Realität“ dessen, dass „die Sünde manchmal die quälende Wahl zwischen der Verlängerung von Gewalt und dem Gebrauch von Gewalt mit dem Ziel, ihr ein Ende zu machen, verlangt“. Gewalt ist aber niemals positiv, „sündenfrei“ und bleibt nicht ohne Konsequenzen, es bedarf immer einer darauf folgenden Heilung aller beteiligten Seiten.

Natürlich geht es um Menschen und Nationen, nicht um Regime, und natürlich hat die humanitäre Katastrophe in der Ukraine ein solches Ausmaß angenommen, dass es außerordentlich schwer ist, an Versöhnung zu denken. Sogar jetzt, wenn ich das schreibe, verstehe ich, dass für viele in der Ukraine jedes Gespräch über die Russen schon als Verrat gesehen wird. Der Friede darf nur ehrlich und gerecht sein, ein Kompromiss mit dem Bösen ist unmöglich, und „einfach so“ zu vergeben wird nicht gehen. Und doch gibt es das Gefühl, dass unser Glaube an die Auferstehung auch den Wunsch danach bedeutet, dass die konkreten Fälle tiefer christlicher Erfahrung von Gemeinschaft, Verständnis, Solidarität letzten Endes in eine neue, freie Zukunft für die Menschen auf den verschiedenen Seiten des Krieges wachsen werden.

Deutsch von Thomas Bremer.