OWEP 2/2022

OWEP 2/2022

Schwerpunkt:
Sinnsuche im 21. Jahrhundert: Glaube und Zweifel

Editorial

Was gibt dem Leben von Menschen Sinn? Diese Frage wollte die Redaktion mit dem vorliegenden Heft angehen. Sie lässt sich nicht umfassend beantworten, aber wir wollten doch verschiedene Antwortmöglichkeiten aufzeigen. Für viele Menschen ist der Glaube die Stütze, die dem Leben Sinn verleiht, andere finden Sinn auch ohne Religion und verlassen sich auf andere Werte und Güter. Es zeigt sich, dass es sehr viele verschiedene Ansätze gibt, das eigene Leben mit Sinn zu erfüllen und somit sinn-voll zu handeln.

Als dieses Heft geplant wurde, war die Welt noch eine andere. Am 24. Februar hat Russland einen Krieg gegen die Ukraine begonnen. Millionen Menschen sind auf der Flucht, Tausende haben ihr Leben verloren, und ein Ende der Kämpfe ist momentan – Anfang Mai – noch nicht abzusehen. Der Krieg hat die politischen Gegebenheiten in der Welt verändert; mit Recht ist von einer „Zeitenwende“ die Rede. Doch stellt sich auch die Frage nach dem Sinn in Zeiten von Krieg und Aggression noch einmal anders. Was gibt den Eltern, die ihren gefallenen Sohn beklagen, Halt, was der Mutter, die ohne Kontakt zu ihrem Mann mit ihren Kindern ins Ausland geflohen ist? Kann auch der marodierende Soldat in seinem Tun Sinn sehen, über seinen materiellen Nutzen hinaus?

Der Krieg gegen die Ukraine hat es uns nicht erlaubt, die ursprüngliche Planung für dieses Heft beizubehalten. Wir haben in der Kürze der Zeit noch einige Artikel eingeworben, die den Krieg thematisieren; andere Artikel wurden von den Autorinnen und Autoren überarbeitet, wieder andere scheinen uns auch unter den neuen Umständen anregende und lesenswerte Impulse für das eigene Nachdenken zu geben. Somit ergibt sich ein Heft, das die Sinnfrage auch unter den neuen Gegebenheiten thematisiert und Ihnen in der schweren Zeit, die der Krieg mit sich gebracht hat, doch, wie wir hoffen, bei der Lektüre der Beträge Gewinn bringen kann.

Die Redaktion

Kurzinfo

Was gibt dem Leben von Menschen Sinn? Diese Frage steht im Mittelpunkt des aktuellen Heftes der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven – eine Frage, auf die es viele Antworten gibt, nicht nur religiöse. Die Planungen zu diesem Heft wurden wie vieles andere in den letzten Monaten von den aktuellen Ereignissen in der Ukraine überholt. Glaube und sein Pendant Zweifel, Sinn und Sinnlosigkeit treffen Menschen in der Situation des Krieges noch viel stärker als in scheinbar „normalen“ Zeiten, was in den Texten mehr oder weniger deutlich wird. Endgültige Antworten will und kann das Heft nicht bieten, vielleicht aber doch Gedankenanstöße.

Zwei grundlegende Beiträge eröffnen das Heft. Prof. Dr. Thomas Schwartz, Hauptgeschäftsführer des Osteuropahilfswerks Renovabis, bietet eine religionsphilosophische Einführung in die Frage nach dem Sinn des Lebens. Der christliche Glaube kann eine Antwort auf die Sinnfrage geben, freilich muss man sich darauf einlassen. Prof. Dr. Heinz-Günther Stobbe, einer der bedeutendsten deutschen Friedensforscher, befasst sich konkret mit der Frage von Sinn und Glaube angesichts des Ukraine-Krieges, besonders mit dem uralten Theodizee-Dilemma: Wie lässt sich die Vorstellung von Gott als Schöpfer der Welt („und er sah, dass alles gut war“) mit dem Leid von Kriegsopfern, etwa Frauen und Kindern, vereinbaren? Eine Antwort vermag nur der Blick auf den gekreuzigten Jesus vermitteln, der selbst Leid und Tod erfahren hat – möglicherweise für viele ein schwacher Trost, aber doch auch so etwas wie „Hoffnung wider alle Hoffnung“.

In den beiden nächsten Texten des Heftes richtet sich der Blick direkt auf die Vorgeschichte des Krieges und die aktuelle Situation. Der in Berlin und Tbilissi lehrende Literaturwissenschaftler Dr. Zaal Andronikashvili zeichnet Leben und Werk seines georgischen Landsmanns, des Philosophen Merab Mamardaschwili nach, der in der Sowjetunion seit den 1960er Jahren die gesellschaftlichen Zustände kritisch analysierte und in der Gorbatschow-Ära frühzeitig darauf hinwies, dass ein rein politisch-wirtschaftlicher Umbruch der Gesellschaft ohne tiefgreifende geistige Veränderungen zu einer Wiederkehr der alten autoritären Strukturen führen werde. Die Entwicklung in einigen Staaten des ehemaligen Ostblocks, besonders aber in Russland, hat ihm leider Recht gegeben.

Eine große Rolle bei der Bewertung der Kriegsgeschehnisse kommt den Medien zu. Entscheidend ist die Anwesenheit von Journalisten vor Ort, um soweit wie möglich Manipulationen und Fake News zu verhindern, wie OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen in ihrem Beitrag darlegt.

Es gibt viele Ansätze, ein Leben sinnvoll oder Sinn-erfüllt zu gestalten. Der Aspekt „Glück“ spielt dabei eine nicht unwichtige Rolle, allerdings gilt auch die Aussage „Glück allein macht nicht glücklich“. Gemma Pörzgen hat dazu den Glücksforscher Dr. Nico Rose interviewt. Im Gespräch geht es um Glückshormone, „Helferglück“ und vieles mehr.

Die zweite Hälfte des Heftes besteht aus Beiträgen, in denen acht Personen ihren individuellen Zugang zu den Grundfragen oder auch Grunderfahrungen „Sinn“, „Glaube“, „Zweifel“ und „Glück“ beschreiben. Es handelt sich um ganz unterschiedliche Schicksale, die nicht den Anspruch des Repräsentativen erfüllen, wohl aber zum Nachdenken anregen. Manche Leserin und mancher Leser wird Parallelen zum eigenen Leben erkennen. Autoren der Beiträge sind die Kulturwissenschaftlerin Lidija Losowa (Ukraine), die z. Zt. im Exil in Deutschland lebt, die ebenfalls in Deutschland lebende Schriftstellerin Volha Hapeyeva aus Belarus, dann – ihr Bericht aus Odessa ist ein dramatisches Zeitdokument – die Lehrerin Karina Beigelzimer (Ukraine), die Fotografin und Therapeutin Beata Frysztacka (Polen), die Germanistin Violeta Kyoseva (Bulgarien), der Historiker Dr. Matěj Spurný (Tschechien), der Priester und Theologiedozent Prof. Dr. Anton Tamarut (Kroatien) und die Dozentin für Rechtswissenschaften Prof. Dr. Andrea Zakar (Ungarn/Rumänien).

Abgeschlossen wird das Heft mit Hinweisen zu weiterführender Lektüre.

Ein Ausblick auf Heft 3/2022, das im August erscheinen wird: Unter dem Titel „Zeitenwende in Europa: Das Ende der Nachkriegsordnung“ wird es sich mit den politischen und gesellschaftlichen Folgen des Ukraine-Krieges befassen.

An dieser Stelle möchte ich noch ein paar Worte in eigener Sache anfügen. Am 30. Juni 2022 scheide ich nach 21 Jahren aus dem aktiven Dienst bei Renovabis aus. Damit endet auch meine Tätigkeit als Redakteur vom Dienst von OST-WEST. Europäische Perspektiven. Ich werde der Zeitschrift, die ich in mehr als 80 Ausgaben betreuen durfte, weiterhin verbunden bleiben und würde mich freuen, wenn auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, ihr in diesen bewegten und unsicheren Zeiten die Treue halten.

Mit herzlichen Grüßen
Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

82
Antworten, die der Glaube gibt. Eine religionsphilosophische Betrachtung zum Sinn des Lebens
Thomas Schwartz
90
Krieg und Sinn oder: Inwiefern Not zu beten lehrt
Heinz-Günther Stobbe
98
Anthropologische Katastrophe. Warum sich die sowjetische Geschichte wiederholt
Zaal Andronikashwili
106
Vertrauen in die Kraft der Medien
Gemma Pörzgen
112
Das Leben mit dem Glück. Ein Gespräch mit dem Glücksforscher Nico Rose
Gemma Pörzgen
119
Die Erfahrung von Glaubensherausforderungen
Lidija Losowa
127
Glaube oder Zweifel – ohne Beweisgrundlage
Volha Hapeyeva
131
Mein Leben in Zeiten des Krieges
Karina Beigelzimer
134
Woran ich glaube?
Beata Frysztacka
136
Auf der Liste des Lebens
Violeta Kyoseva
142
Sinnsuche in einer säkularen Welt
Matěj Spurný
145
Samen des Lichts
Anton Tamarut
152
Glückseligkeit im Schatten der Entbehrung
Andrea Zakar
157
Weiterführende Lektüre
OWEP-Redaktion

Summary in English

What gives meaning to people's lives? This question was supposed to be the focus of the current issue – a question to which there are many answers, not only religious ones. However, when the issue was planned, the world was a different place. On 24 February, Russia launched a war against Ukraine. This war puts many things that were previously considered certain to the test. Therefore, the issue also offers contributions on the topic of „Meaning in Times of War“. It does not and cannot offer definitive answers, but perhaps some food for thought.