Ein Leben nach der Wende

aus OWEP 3/2019  •  von Karina Beigelzimer

Karina Beigelzimer, geb. 1975, arbeitet als Lehrerin, Journalistin und Reiseleiterin in Odessa (Ukraine).

Als im Sommer 1991 die Ukraine ihre Souveränität erklärte, war ich gerade 16 Jahre alt. Jung, hoffnungsvoll und optimistisch eingestellt. Zwar konnte ich wegen meines Alters damals nicht an den ersten freien Präsidentenwahlen teilnehmen, aber mit Begeisterung verfolgte ich den Wahlkampf, vor allem im Fernsehen. Damals gewann der Ex-Kommunist Leonid Krawtschuk.

Karina Beigelzimer (Foto: privat)

Etwas später fand das Unabhängigkeitsreferendum statt. Mein Vater sagte, das sei der glücklichste Tag in seinem Leben. Er war ein großer Sowjetunion- und Kommunismusgegner. Politische Gewalt und Repressionen gehörten während der Sowjetzeit zur Erfahrung seiner Familie. Deshalb feierten wir am 31. Dezember 1991 zweimal – zuerst Silvester und dann das Ende der Sowjetunion. Auch wenn damals 92 Prozent der Abstimmungsberechtigten für die Unabhängigkeit gestimmt hatten, blieb die Frage offen, wohin der Weg des neuen Landes führen wird.

Die sieben Jahrzehnte der kommunistischen Epoche prägten noch sehr stark den Großteil des Landes. Einige lebten in jener Vergangenheit, die der andere Teil der Bevölkerung bekämpfte.

Als junge Studentin und später Journalistin und Deutschlehrerin konnte ich ins Ausland reisen und hoffte auf ein schnelles Wirtschaftswunder. Mein Land stürzte aber in eine tiefe Krise. Während die Armut rasant stieg, sank die Lebenserwartung der Menschen. Trotzdem bedeuteten die 1990er Jahre neue Rechte, Freiheiten und Möglichkeiten – das Staatsmonopol zerfiel, neue Medien und Diskussionsforen entstanden. In Odessa, meiner Heimatstadt, sah man immer mehr Cafés, Museen und Klubs. Das Kunstgeschehen erlebte eine neue Blütezeit.

Im Vergleich zu den wilden 1990er Jahren galten die 2000er als eher ruhige Zeit. Und dann kam das Jahr 2004. Ich arbeitete damals als Leiterin des Nachrichtenbüros der ukrainischen Medienholding in Odessa und das Thema „Orangene Revolution“ beherrschte die Titelseiten unserer Zeitungen und Zeitschriften. Auslöser für die heftigen Proteste waren die Präsidentschaftswahlen 2004, bei denen zahlreiche Wahlfälschungen zugunsten dem offen von Russland unterstützten Kandidaten Wiktor Janukowytsch auftauchten. Tausende Leute gingen damals für freie demokratische Wahlen auf die Straße. Sie erreichten, dass man die erste Stichwahl für ungültig befand. Die Bewegung der „Orangen Revolution“ und die Opposition feierten ihren ersten gemeinsamen Sieg. Diese Massenproteste in der Ukraine waren deutliche Zeichen dafür, dass der Untertanengeist, den wir aus der kommunistischen Sowjetunion geerbt haben, besiegt werden konnte. Bei der Wiederholung der Wahlen im Dezember 2004 erhielt der ehemalige Ministerpräsident und Chef der Nationalbank, Viktor Juschtschenko, die meisten Stimmen. Er versprach umfassende Reformen, Bekämpfung der Korruption und eine westliche Orientierung der Ukraine.

Die Erwartungen der Menschen waren sehr hoch, das Gleiche konnte ich auch von mir sagen. Ich fuhr sogar mit Vorträgen über dieses Ereignis nach Bulgarien und Polen. Es gab tatsächlich einige Verbesserungen im Land – man erhöhte Löhne und Renten, fast 18.000 Beamte wurden entlassen. Die Presse- und Meinungsfreiheit war die größte Errungenschaft der Orangenen Revolution. Im Endeffekt kam aber sehr viel ganz anders, als sich das Volk erhofft hatte und bald herrschte wieder politisches Chaos. Erneut brach der gesellschaftspolitische Zwiespalt zwischen dem Osten und dem Westen der Ukraine wieder auf, außerdem nahm die Korruption zu und die Wirtschaft lahmte.

Das alles hat bei den nächsten Präsidentenwahlen im Jahre 2010 Janukowitsch geholfen, an die Macht zu kommen. Der weigerte sich dann drei Jahre später, das umfangreich verhandelte und nunmehr unterschriftsreife Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Ehrlich gesagt habe ich einen richtigen Schock erlebt. Der Kurs der Ukraine Richtung EU gehörte viele Jahre zu meinen innersten Wünschen. Es reichte mir und Millionen anderer Ukrainer nicht mehr, dass wir zwar geografisch zur europäischen Familie gehörten, aber nicht politisch.

Die ganze Welt hielt den Atem an: Mitten in Kiew begannen friedliche Proteste gegen die Politik der Regierung, aber der Konflikt eskalierte, nachdem die Sicherheitskräfte mit Gewalt gegen die Protestierenden vorgegangen waren. Das waren kalte, düstere Februartage 2014 – durch Kugeln der Sicherheitskräfte ließen ca. 100 Demonstranten ihr Leben und Tausende wurden verletzt. Die Revolution brachte der Ukraine mehr Freiheit, aber nahm ihr den Frieden. Das Land hat seit 5 Jahren einen Dauerkonflikt mit dem Nachbarland Russland, welches die Krim annektierte und im Osten (Donbass) Krieg führt.

Ein wichtiger Traum von mir ging 2017 dann doch in Erfüllung – die Ukraine erhielt Visafreiheit mit der Europäischen Union. Endlich müssen wir nicht mehr ins Konsulat fahren und entwürdigende Prozeduren und Gebühren auf uns nehmen. Viel wichtiger ist es aber, dass immer mehr Menschen sich selber ein Bild vom Leben, Freiheit und Demokratie in den Ländern Europas machen können. Wahrscheinlich wird irgendwann mein anderer Traum auch wahr – unser Land wird die kommunistische Vergangenheit völlig loswerden und in die EU eintreten.