Ein Vogelnest als Wahrzeichen

Der Baiterek in der kasachischen Hauptstadt Astana
aus OWEP 4/2022  •  von Edda Schlager

Edda Schlager lebt seit 2005 in Kasachstan und arbeitet als Zentralasien-Korrespondentin, Reporterin, Buchautorin, Fotografin für zahlreiche deutschsprachige Medien, unter anderem Deutschlandfunk, ORF, SRF und das Magazin „Cicero“.

Zusammenfassung

Der markante Baiterek in der kasachischen Hauptstadt Astana ist eng mit dem Personenkult um den autoritären Ex-Präsidenten Nursultan Nasarbajew verbunden. Die Bevölkerung allerdings liebt den 105 Meter hohen Turm und sieht ihn als Wahrzeichen für die Unabhängigkeit Kasachstans – ganz wie es Nasarbajew einst beabsichtigte.

Machtdemonstration durch Architektur

Die Gegend rund um den beeindruckenden Baiterek-Turm zählt in der kasachischen Hauptstadt Astana zu den lebendigsten Vierteln. Geschäftige Anzugträger eilen von Ministerium zu Ministerium, dazwischen entspannen Touristen und Einheimische in Cafés mit Sommerterrassen. Unter ihnen auch die Bewohner der naheliegenden gläsernen Luxus-Wohnkomplexe, die klangvolle Namen tragen wie „Polarlichter“ oder „Ray Residence“.

Selbst an heißen Sommertagen stehen Menschen am Baiterek Schlange, um per Fahrstuhl zur hochgelegenen Aussichtsplattform hinauf-zugelangen. 1.500 Tenge, etwa drei Euro, kostet das Ticket für einen Erwachsenen, die Hälfte für Kinder bis 15 Jahre. Ordner lenken die Massen zu den zwei Fahrstühlen, mit denen es nach oben geht.

Dabei sah es hier vor zwei Jahrzehnten noch ganz anders aus. 1997 hatte der damalige Präsident Nursultan Nasarbajew die alte Hauptstadt Alma-Ata zunächst in Almaty umbenannt und ihr dann auch noch den Hauptstadtrang entzogen. Die Provinzstadt Akmola mitten in der Steppe sollte zum neuen Machtzentrum Kasachstans aufsteigen.

"Nasarbajew wollte seiner Macht auch architektonisch Ausdruck verleihen, seinen Claim abstecken“, sagt heute die kasachische Kunsthistorikerin Khalima Truspekova über die damalige Neugründung. Sie erforscht seit vielen Jahren die Identitätsfindung Kasachstans durch Architektur und Kunst. Parallel dazu wurde die Hauptstadt für einige Jahre in Astana umbenannt. Ab 2019 hieß der Regierungssitz dann zeitweise Nur-Sultan zu Ehren des langjährigen Herrschers, aber im September 2022 kehrte er zum vorherigen Namen Astana zurück.

Einfluss von Volksmärchen

Wer heute nach Astana kommt, ist überrascht von der futuristisch anmutenden Architektur der Stadt, an der international bekannte Architekten wie Norman Forster mitwirkten. Der auffälligste Orientierungspunkt ist der 105 Meter hohe Baiterek-Turm, der als Wahrzeichen der Hauptstadt gilt.

Er soll den Lebensbaum aus einem Volksmärchen nachbilden, heißt es in Stadtführern. Danach legte der heilige Vogel Samruk einst ein Ei – die Sonne – auf eine junge, kräftige Pappel. Das Ei wiederum wurde vom Drachen Aydakhar verschlungen. Deshalb kehrte der Vogel Samruk im folgenden Jahr zurück und legte erneut ein Ei in den Baum.

Es heißt, dass der jährlich wiederkehrende Konflikt zwischen der Sonne und dem Drachen den Zyklus der Jahreszeiten repräsentiere, dem das nomadische Leben in der Steppe folgt. Die Kuppel im Baiterek-Turm wiederum soll mit dieser Referenz auf das frühere Nomadentum der Kasachen die Wiedergeburt ihrer Nation symbolisieren.

Als Erschaffer des Baiterek gilt der 2020 verstorbene frühere Chef des Architektenverbands Kasachstans Akmurza Rustembekov. Er soll das Wahrzeichen von Astana entworfen haben. Angeblich habe ihm eine Skizze voller symbolischer Anspielungen auf die wichtigsten Merkmale der jungen Republik vorgelegen, die Staatschef Nasarbajew selbst zu Papier gebracht haben soll.

In kasachischen Künstlerkreisen hält sich allerdings seit langem das Gerücht, dass der Entwurf eigentlich von einem aus ihrem Kreis stamme und die Idee „gestohlen“ worden sei. Nachweisen lässt sich weder die eine Geschichte noch die andere. Und eine Urheberrechtsklage gegen den einstigen Präsidenten will in Kasachstan sicherlich niemand anstrengen.

Die um den Turm gepflanzten Bäume sind groß geworden, Statuen und Plastiken, die Symboliken der nomadischen Geschichte Kasachstans aufgreifen, schmücken den Nurzhol-Boulevard, an dem Präsidentenpalast und Baiterek liegen.

Heute ist von der Aussichtsplattform des Turmes aus tatsächlich das zu sehen, was sich Nasarbajew wohl vorgestellt hatte, als er sich die neue Hauptstadt vom japanischen Architekten Kisho Kurokawa auf dem Reißbrett entwerfen ließ.

Nasarbajews eigener Herrschaftsanspruch spiegelt sich nun in der „barocken“ Sichtachse wider, die von der Aussichtskugel auf dem Baiterek aus überschaut werden kann. In der einen Richtung liegt der Ak-Orda-Palast, dahinter die Glaspyramide des „Palastes für Frieden und Eintracht“ und noch weiter weg der neue Bahnhof. In der anderen Richtung als dritter Achspunkt neben Präsidentenpalast und Baiterek liegt das Freizeit- und Einkaufscenter Khan Shatyr: Ein riesiges transparentes, spitz nach oben zulaufendes Zelt, mit dem der britische Architekt Sir Norman Foster eine moderne Anspielung auf die Jurte, das kasachische Nomadenzelt, machte.

Symbolik als Gestaltungsprinzip

Vieles in der kasachischen Hauptstadt ist überladen mit Symbolik. Auch die Aussichtsplattform, das Ziel der meisten Besucher des Baiterek-Turms, liegt auf der symbolischen Höhe von 97 Metern – die für das Jahr der Hauptstadtwerdung stehen. Wer den Baiterek besucht, will dort unbedingt zur Kunst-Installation Ayala-Alakan.

Das ist ein in Gold gefasstes Dreieck, das mit einer Spitze genau zum Präsidentenpalast Ak Orda weist und den Abdruck der rechten Hand Nursultan Nasarbajews trägt. Das Kunstwerk, so heißt es in der offiziellen Beschreibung der Stadt, soll „die Verbindung zwischen dem Staat und seinen Bürgern, Frieden, Freundschaft und Harmonie“ symbolisieren. Seine Hand in den Abdruck Nasarbajews zu legen, soll Glück bringen.

Der Personenkult um den „Ersten Präsident der Republik Kasachstan“, so Nasarbajews offizieller Titel, ist mittlerweile politisch nicht mehr erwünscht. Doch vorbei ist er nicht. 2019 war Nasarbajew überraschend selbst zurückgetreten. Der Sinn dahinter – die moderierte Machtübergabe an einen Nachfolger, der das Amt des Präsidenten de facto nur symbolisch übernahm. Im Hintergrund hielt Nasarbajew als mächtigster Mann des Landes weiter die Fäden in der Hand. Neuer Präsident wurde Kassym-Jomart Tokayev, der ehemalige Senatssprecher.

Mit den Jahren füllt Tokayev sein Amt zunehmend selbstbewusster aus. Die blutigen Unruhen in Kasachstan Anfang 2022, die offiziell 238 Tote forderten, hat der Machthaber dank der militärischen Intervention durch das von Russland geführte Militärbündnis "Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit" (OVKS) unbeschadet überstanden – und zur Emanzipation von Nasarbajew genutzt.

Nasarbajew-Bilder wurden seitdem in vielen Amtsstuben abgehängt. Die Präsidentenresidenz in Almaty, die Anfang der 1990er Jahre das Machtzentrum des Landes war und bei den Unruhen im Januar teilweise zerstört wurde, wird abgerissen. Selbst bis vor kurzem noch als geschützt geltende Verwandte von Nasarbajew in hohen Ämtern müssen sich nun strafrechtlich für Korruption und Vetternwirtschaft verantworten. Nasarbajew genießt selbst als früherer Präsident weiterhin Immunität. Dennoch werten Beobachter diese Entwicklung als erste Zeichen einer seines sichtbaren Machtverlusts.

Auch in der kasachischen Bevölkerung wird Nasarbajew kritischer gesehen. Dass er und seine Vertrauten die Rohstoffe des Landes ausbeuteten, Milliarden anhäuften und ins Ausland schafften, dass er teure Prestige-Projekte durch ausländische Architekten umsetzen ließ, während die einheimische Wirtschaft kaum entwickelt wurde und große Teile der Bevölkerung am Existenzminimum leben, nehmen die Kasachen ihm nachhaltig übel.

Dennoch pilgern sie weiterhin zum Baiterek in Astana, legen ihre Hand in den goldenen Handabdruck des Ex-Präsidenten, als ob das eine mit dem anderen nichts zu tun habe. „Die jüngeren Generationen in Kasachstan“, sagt Kunsthistorikerin Truspekova, „sehen die autoritäre Gigantomanie der Hauptstadt deutlich weniger kritisch als ihre Eltern oder Großeltern. Im Gegenteil, sie sind wirklich stolz auf ihre Hauptstadt und identifizieren sich mit ihr. Und der Baiterek steht heute wie kein anderes Bauwerk in Astana für das unabhängige Kasachstan.“

Der Turm ist längst zum markanten Wahrzeichen der Hauptstadt geworden. Er prangt im Wappen von Astana und schmückt den 2.000-Tenge-Schein. Auch Truspekova mag den Baiterek und seinen Bezug zur kasachischen Geschichte. Allerdings wirke der Turm inzwischen mit seinen 105 Metern schon fast zu klein und werde von den rasant wachsenden neuen Hochhäusern ringsherum längst überragt. Dabei habe er das Stadtpanorama eigentlich dominieren sollen. „Fotografen versuchen, ihn stets größer zu fotografieren“, erzählt die Kunsthistorikerin schmunzelnd.

Astana ist inzwischen weit über das Regierungsviertel hinausgewachsen und wuchert in die Steppe hinein. Die Zahl der Einwohner ist von 287.000 im Jahr 1997 auf rund 1,2 Millionen angewachsen. Die ständigen Namenswechsel nehmen die Kasachen mittlerweile mit Humor und waren innerlich schon auf die letzte Rückbenennung vorbereitet. Der Baiterek wird ihnen aber wohl erhalten bleiben.