Gott vom Alexanderplatz
Zusammenfassung
Der Berliner Fernsehturm ist eine Ikone für das wiedervereinigte Berlin geworden. Er ist ein DDR-Produkt, das es erfolgreich in den Westen rübergemacht hat. Für viele Berliner bedeutet es nach Hause kommen, wenn er auf dem Weg in die Hauptstadt plötzlich ins Auge fällt.
Blickfang aus allen Richtungen
An einem Sommerabend sanken wir aus zehntausend Meter Höhe Berlin entgegen. Meine fünfjährige Tochter saß am Fenster des Flugzeuges, ich saß neben ihr, am Gang hatte mein siebenjähriger Sohn Platz genommen. Die Fünfjährige riss plötzlich die Augen auf: „Mama! Häuser! Mama! Der Fernsehturm! Da! Da! Da!“ Sie zog aufgeregt an meinem Arm, und mein Sohn beugte sich über meinen Schoß, um aus dem Fenster zu schauen und einen Blick hinunterzuwerfen. Da stand er, ein Bleistift zwischen Puppenhäusern. So klein sah der Berliner Fernsehturm, 368 Meter, aus der Höhe aus. Den gesamten Flug hatten meine Kinder entweder geschwiegen oder genörgelt, jetzt fingen sie an, fröhlich miteinander zu reden. Sie plapperten gelöst den ganzen Weg nach Hause.
Der Fernsehturm hatte auf sie wie ein Signal funktioniert: Wir sind zu Hause. Er begrüßt uns aus der Luft oder von der Straße aus, man sieht ihn von Pankow und von Kreuzberg aus, von Ost und West. Der Fernsehturm ist wahrscheinlich das meistfotografierte Objekt Berlins. In der Berliner Zeitung, wo ich lange als Redakteurin gearbeitet habe, gab es vor einigen Jahren die Ansage des Redaktionsleiters, dass man in den Social-Media-Accounts nicht täglich den Fernsehturm posten soll. Das sei zu klischeehaft. Fernsehturm-Overkill. Berlin sei mehr als der Fernsehturm, meinte er. Der Fernsehturm ist dauerpräsent und gleichzeitig unsichtbar. Wenn man in der Stadt tagein, tagaus lebt, gewöhnt man sich an ihn. Wie an ein Möbelstück. Oder Gott. Er wäre aber kein christlicher Gott, denn er kommt aus einem untergegangenen, atheistischen Land, der Deutschen Demokratischen Republik.
Wenn ich über den Fernsehturm nachdenke, fällt mir ein berühmtes Turmgedicht aus der DDR ein. „Turm von Babel“ heißt es, geschrieben Anfang der 1950er Jahre vom Nationaldichter Johannes R. Becher. Eine Strophe geht so: „Das Wort wird zur Vokabel/ um sinnlos zu verhallen/ es wird der Turm zu Babel / Im Sturz zu nichts zerfallen.“ Es wurde viel gerätselt, ob Becher damit das Ende des Staates vorausgesehen hat, den er kurz zuvor mitgegründet hatte. Oder ob er unter dem Eindruck der Atomkatastrophe von Hiroshima und Nagasaki das Ende der Menschheit beschwor.
Der Fernsehturm ist kein Turm zu Babel. Er ist nicht eingestürzt und nicht zerfallen. Er trotzte allen Wettern und neigte sich keinem Sturm, auch keinem politischen. Ihm ist auch das Schicksal seines abgerissenen Nachbarn, dem Palast der Republik, erspart worden.
Der Berliner Fernsehturm ist eine Ikone für das wiedervereinigte Berlin geworden. Ein Maskottchen, das in keiner Netflix-Serie über Berlin fehlen darf. Man kann seine markante Silhouette auf Tassen oder Schlüsselanhängern kaufen, und diese Schlüsselanhänger und Taschen werden dann in Bad Säckingen oder Tokio herumgetragen. Der Fernsehturm ist ein weltläufiger Turm.
Erfolgreich die Wende überstanden
Er ist ein DDR-Produkt, das erfolgreich in den Westen rübergemacht hat. So wie die frühere Kanzlerin Angela Merkel oder das Ampelmännchen. Wie es sich für einen Kosmopoliten gehört, hat er sogar eine eigene passende Website, „tv-turm.de“ sowie einen Marketingspruch: „Der Fernsehturm. A magnicity experience“. „Magnicity“ klingt nach einem Wortspiel aus den englischen Begriffen „magnificent“ („prächtig“) und „city“ (Großstadt). „Magnicity“ ist auch der Name einer seit der Pandemie existierenden App, mit der man laut Tourismusmarketing die Aussicht vom Fernsehturm mehrdimensional auf dem Handy genießen kann, ohne selbst auf dem Fernsehturm zu sein.
Auch die sozialistischen Planer, die den Turm errichtet haben, verstanden etwas von Marketing. Die Bauplanungen begannen in den 1950er Jahren, lese ich bei Wikipedia. Ursprünglich sollte der Fernsehturm in den Müggelbergen errichtet werden. Das ist so abseits, wie es klingt, am südöstlichen Rand Berlins, malerisch am See gelegen. Aber Müggelberge, das wäre kein Platz für einen Gott gewesen, fernab von allem. Niemand würde über den Fernsehturm reden, wenn er irgendwo fernab an einem See stehen würde. Würden Touristen den Fernsehturm besuchen, um eine „experience“ zu erleben, wenn er in den Müggelbergen stünde?
Es wurde nach einem Ort in der Innenstadt gesucht. Angeblich entschied Staats- und Regierungschef Walter Ulbricht selbst, dass der Turm im Marienviertel am Alexanderplatz errichtet werden sollte, dem Viertel, das im Zweiten Weltkrieg zerbombt wurde. Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, so lautet die berühmte Zeile aus der Nationalhymne der DDR. Der Fernsehturm sollte das Symbol für diese Auferstehung sein.
Er sollte in den Himmel steigen, als ein Zeichen für die Leistungsfähigkeit des Sozialismus. Ein Team um den legendären Architekten Hermann Henselmann erarbeitete die Grundideen: Die silbrig glänzende Kugel erinnert an den Sputnik, den ersten sowjetischen Satelliten im All. Der Turm selbst ist geformt wie eine Rakete. Als die Bauarbeiten begannen, war kein Material im Mangelstaat zu teuer oder zu weit weg. Der Stahl für die Kugel kam aus Belgien, die Klimaanlage für die Aufzüge aus Schweden und die Flugsicherheitsleuchten von Siemens aus München. Man kann den Turm als ein Ost-West-Joint-Venture interpretieren, von Anfang an.
Seine Architektur fiel aus der üblichen DDR-Bauweise heraus, die buchstäblich immer auf Linie war. Überall wurde rechteckig gebaut, Häuser, Verkleidungen, Lampen.
Vorstellung einer besseren Zukunft
Der Turm war anders, auffälliger, eleganter, er verkörperte eine Utopie. So wie das Land, in dem er stand, eine Utopie verkörperte, eine Vorstellung einer besseren Zukunft. Darüber wird heute gelacht und gespottet, aber damals wurde nicht nur unterdrückt und belehrt, es wurde auch gelacht, gehofft, geträumt. 1969 wurde der Turm eröffnet, zum 20. Geburtstag der Republik. Er war 368 Meter groß, das höchste Gebäude der beiden Deutschlands, höher als der Pariser Eiffelturm.
Ich war 1981 oder 1982 zum ersten Mal auf dem Fernsehturm, ich weiß nicht mehr, ob es mit meinen Eltern war oder mit meiner Schulklasse. Wir machten damals viele Schulausflüge nach Berlin, und jedes Jahr besuchten wir den Fernsehturm. Ich erinnere mich vor allem an die spektakuläre Aussicht. Ich war auf den „Westen“ neugierig, der so unerreichbar war wie Taiwan oder die Antarktis. Wie würde es dort aussehen? Anders als bei uns?
Die geteilte Stadt
Dass Berlin geteilt war, war für mich eine Normalität. Wir fuhren einmal im Monat zum Einkaufen nach Berlin, wegen der besseren Versorgung, meistens blieben wir in Schöneweide oder Friedrichshagen, aber manchmal fuhren wir zum Alexanderplatz.
Einmal kamen wir auf dem Weg dahin an der Mauer in der Nähe der Oberbaumbrücke vorbei, da hatte mein Vater lapidar gesagt: „Da ist die Mauer.“
Das Wort verhallte ohne Bedeutung, halt eine Mauer, eine von vielen. Die geteilte Stadt habe ich nicht als halb erlebt, sondern als etwas Ganzes. Bis heute gelingt es mir nicht, den Berliner Mauerweg zu überqueren, der die ehemalige Abgrenzung markiert, ohne an einen Grenzübergang zu denken. Ich hatte keine Ahnung, als ich damals als sieben- oder achtjährige den Turm hinunterschaute, dass die beiden Teile der Stadt eines Tages wieder zusammenwachsen werden.
Und obwohl ich vom Kopf her heute weiß, dass die Teile Berlins zusammengehören und für die meiste Zeit zusammengehörten, erscheint es mir doch künstlich. Wenn ich in Stadtteile wie Reinickendorf oder Wedding fahre, denke ich unwillkürlich: „West-Berlin“. Die Ost-Berliner Schriftstellerin Jenny Erpenbeck beschreibt in ihrem Essay „Heimweh nach dem Traurigsein“ ähnliche Gefühle und schlussfolgert: „Was ich mit den Gefühlen des Kindes nicht erlebt habe, kann ich als Erwachsener nicht nachholen.“ Ich schaute als Kind durch die Kugel hinaus. Erstaunlich. Der Westen sah von hier oben genauso aus wie der Osten. Die großen, gut riechenden West-Autos, von denen mein Vater und seine Kollegen träumten, waren genauso klein wie unsere mickrigen Wartburgs und Trabanten. Vielleicht leuchteten ihre Farben etwas mehr. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein.
Ich erinnere mich, dass ich keine Sehnsucht nach West-Berlin hatte oder Westdeutschland. Wir träumten von der großen Welt. Der ganz Großen. Wir wollten nicht nach München, sondern zum Mond.
Die Zeit der Raumfahrt
Mit sieben Jahren kannte jeder die Namen der Kosmonauten: Juri Gagarin, Walentina Tereschkowa, Sigmund Jähn. Es war die Zeit der Raumfahrt und der kühnen Zukunftsvisionen. Wenn ich erwachsen sein werde, so träumte ich, würden wir auf dem Mond leben, statt mit Autos würden wir uns mit hyperschnellen Fahrzeugen durch die Luft bewegen, vielleicht sogar beamen. Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.
Wir fahren heute immer noch mit Benzin-Autos auf der Erde herum, die Zukunft ist nichts mehr, worauf man sich freut. Und doch ist die Science Fiction überboten worden: Wir sind Cyborgs geworden, die an ihren Bildschirmen kleben und maschinell erstellte Kultur konsumieren. Auch der Fernsehturm ist Maschinenkultur geworden, siehe Magnicity-App.
Diesen Wandel vom Bürger zum Konsumenten begleitete der Fernsehturm, er steckte sogar mittendrin. 1989 wachte der Turm über die Demonstranten, die sich am 4. November auf dem Alexanderplatz versammelten. Hunderttausende kamen, es war die größte Demonstration der DDR, fünf Tage später fiel die Mauer. Der Turm wurde zum Symbol Berlins, zum Symbol der Freiheit, ein Zeichen dessen, was Menschen erreichen können, nicht im All, sondern im Hier und Jetzt. Christoph Hein, der Berliner Schriftsteller, hatte am 4.November 1989 von der „Vernunft der Straße“ gesprochen.
Der Fernsehturm als ein Stück Heimat
Der Turm sah zu, als ich in mein erstes Berliner Büro bezog, im Verlagshaus am Alexanderplatz, bei der Berliner Zeitung im zwölften Stock. Der Chefredakteur war ein sanftmütiger, belesener Bayer, der mich persönlich anrief, wenn ihm ein Text gut gefiel. Im Sommer wurde es in den Büros so heiß, dass mein Kollege seine Füße in einem Wassereimer steckte. Der Turm begrüßte mich morgens, wenn ich den Prenzlauer Berg herunterrollte auf dem Rad, er schob mich an, wenn ich abends wieder hochstrampelte. Seine Gegenwart beruhigte mich und gab mir Halt, den ich nach orientierungs- und ruhelosen Jahren brauchte. Er sagte zu mir: Du bist zu Hause.
Ich hatte in Hamburg studiert und gearbeitet, der wahrscheinlich westdeutschesten Stadt, doch es hatte mich zurückgezogen in die Berlin-Brandenburger Ruppigkeit. In die Stadt, in der man sprach wie ich, in der man wusste, was Schmalzstulle und Späti bedeutete, Mitropa und Schlüpper. Der Turm sah zu, wie ich zu seinen Füßen bis morgens um vier im Ostgut tanzte und in der DDR-Staatbank, er war dabei, als ich am nächsten Morgen wieder frisch am Schreibtisch saß.
Spiegel der Fantasie
Es gibt viele Leute, die behaupten, den Fernsehturm zu kennen. Sie sagen, der Fernsehturm wird „Telespargel“ genannt. Sie sagen, der Fernsehturm wird „Alex“ genannt (wie in einer Radiowerbung 2018). Es ist alles Quatsch. Der Fernsehturm heißt Fernsehturm und zwar schon immer. Die vielen Namen sagen höchstens etwas darüber aus, wie sehr der Turm die Menschen beschäftigt und ihre Fantasie anregt. Immer noch.
Alle möglichen Politiker haben sich an ihm abgearbeitet, haben ihn benutzt. Der DDR-Staats und Regierungschef Walter Ulbricht benutzte ihn als Prestigeobjekt, US-Präsident Ronald Reagan erwähnte in seiner berühmten „Tear-down-this-wall“-Rede 1987 die Lichtreflektion auf der Kugel des Fernsehturms: An sonnigen Tagen brach sich dort das Licht in der Form eines Kreuzes. Angeblich störte das die atheistischen Sozialisten so sehr, dass sie versucht hätten, das Kreuz mit Farbe und Putzmittel zu entfernen. Der frühere Bürgermeister Klaus Wowereit, der die halbe Stadt in den Nuller Jahren an Investoren verhökerte, verkaufte auch die Fernsehturmkugel an die Telekom, naja, zumindest vermietete er sie. Während der Fußball-WM 2006 wurde der Ball mit den Farben der Telekom beklebt. Der Fernsehturm nahm auch das hin.
Bedrohlich wurde der Turm nur einmal. 2001 flogen Flugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York. Mehr als dreitausend Menschen starben, die ganze Welt schaute geschockt und erschüttert zu. Türme waren nicht mehr Prestigeprojekte, sondern sie konnten Waffen werden. Der 11. September 2001 galt als Beginn einer neuen Weltordnung. Nichts mehr würde sein wie zuvor. Der Angriff auf New York war ein Angriff auf unsere Demokratie und unsere Werte. Wie oft würden die Worte noch wiederholt werden. London, Madrid, Nizza, Paris, Berlin.
Der russische Präsident Wladimir Putin war nach 9/11 der erste, der dem damaligen Präsidenten George Bush die Unterstützung zusicherte. Es gab sogar Gespräche darüber, dass Russland Teil der NATO werden könnte. Doch die Türme lenkten den Blick in andere Weltregionen, der Krieg gegen den Terror begann. Der islamistische Terror galt als weltweite Bedrohung Nummer eins.
Ängstlicher Blick auf den Fernsehturm
Im September 2001 redeten wir in der Redaktion darüber, ob es möglich wäre, dass ein Terrorist in den Fernsehturm rast. Was wäre dann? Würde es rund um den Alexanderplatz so aussehen wie in Manhattan, eine Szene der Verwüstung? Eigentlich hatte ich am 12. September 2001 nach New York fliegen wollen, doch natürlich wurde der Flug storniert, und ich war nicht in der Lage, einen anderen Ort zum Urlaubmachen zu suchen. Ich kehrte an meinen Arbeitsplatz zurück, an den Fernsehturm. Ich erinnerte mich, dass ich auf dem Weg zum Büro den Turm mit anderen Augen betrachtete, fast ängstlich. Der Turm, den ich so liebte, hatte sich zu einer möglichen Mörderwaffe verwandelt. Er wurde mir fremd.
Anfang des Jahre 2003 zog ich nach London, wo man mit dem Terror seit vielen Jahrzehnten lebte. Jedes Mal, wenn ich nach Berlin zu Besuch kam, ging es mir wie meinen Kindern Jahrzehnte später: Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, wenn ich aus der Luft den Turm vom Flugzeug aus sah. Neben der Freude mischte sich ein weiteres Gefühl, ein kleiner Stich, ein schlechtes Gewissen. Als sei ich untreu geworden, als diente ich einem anderen Gott. Götter, das weiß man, können rachsüchtig sein. Zeus verwandelte doch ständig untreue Subjekte in Kühe. In was würde mich der Gott vom Alexanderplatz verwandeln?
Ende 2008 kehrte ich ganz zurück nach Berlin. Kurz darauf beschloss ich, dem Gott vom Alexanderplatz einen Besuch abzustatten. Ich nahm meinen Neffen mit, er war neun Jahre alt damals, wenig älter als ich bei meinem ersten Besuch. Er interessierte sich wenig für den Blick auf West-Berlin, mehr für den Fahrstuhl. Für das Nachwendekind war der „Westen“ wieder eine Himmelsrichtung geworden, kein Konsum- und Wertesystem. Bald werde ich mit meinen Kindern hingehen und ihnen den Blick von oben auf die Stadt zeigen. Ich habe übrigens noch ein Gedicht zum Fernsehturm gefunden, es stammt von der Berliner Autorin Lea Streisand. Die letzte Strophe lautet: „Fernsehturm, du bist zu Hause, wo du stehst, da muss ich hin. Dich woll’n wir niemals eintauschen. Fernsehturm, du bist Berlin.“