Tschechen und Slowaken 27 Jahre nach einer undramatischen Trennung

Eine Bestandsaufnahme

Bára Procházková lebt in Prag und ist Chefin vom Dienst des Nachrichtenportals des öffentlich-rechtlichen tschechischen Fernsehens.

Zusammenfassung

Vor mehr als einem Vierteljahrhundert zerfiel die Tschechoslowakei in zwei souveräne Staaten, die seither eine unabhängige politische und wirtschaftliche Entwicklung genommen haben. Es besteht zwar immer noch eine besondere Bindung, die Menschen entfremden sich jedoch immer mehr voneinander. Das drückt sich auch darin aus, dass die Sprache im Nachbarstaat nicht mehr verstanden wird.

„Wie naiv es von mir war zu denken, dass sich Tschechen und Slowaken nach dem Zusammenleben in einem Staat ähnlich sind“, fasst der Tscheche Pavel Šafránek seine Erfahrungen des ersten Jahres in der slowakischen Hauptstadt Bratislava zusammen. „In der Geschichte lebten wir nur 75 Jahre gemeinsam in einem Staat. Sonst wurden die Tschechen eher von den Deutschen und Österreichern beeinflusst und die Slowaken dagegen von den Ungarn.“ Der tschechische PR-Manager Pavel Šafránek wurde noch in der Tschechoslowakei geboren und war 19 Jahre alt, als das Land im Januar 1993 geteilt wurde. Er heiratete 2011 eine Slowakin, und gemeinsam zogen sie aus Tschechien in die slowakische Hauptstadt Bratislava. Dort erlebte Pavel Šafránek hautnah mit, dass die Beziehung zwischen den beiden Nationen komplizierter ist als deren guter Ruf.

„Die Trennung der beiden Länder und die daraus folgenden Beziehungen werden oft als positives Beispiel präsentiert – dem ist aber nicht so“, sagt der Journalist und Experte für Mitteleuropa Luboš Palata. „Heute sind die beiden Staaten wie eine seltsam zerfallene Ehe – die beiden treffen sich zwar noch hin und wieder, aber keiner von den beiden weiß, warum die Ehe eigentlich zerbrochen ist und sie haben sich auch nicht mehr viel zu sagen.“ Was ist also aus der Partnerschaft – 27 Jahre nach der Scheidung – geworden?

Stille Trennung, die keiner wollte

Im Normalfall hätte es Neuwahlen gegeben, nach den tschechoslowakischen Parlamentswahlen im Juni 1992. Die beiden Parteiführer hatten gemeinsam nicht einmal die Hälfte der Mandate bekommen und konnten sich nicht darauf einigen, wie sie die neue Regierung bilden sollten. Und ihre Lösung für diese Patt-Situation? Sie haben das Land in zwei geteilt – in die Tschechische und die Slowakische Republik. Der Tscheche am Ruder hieß Václav Klaus, er war Chef der Demokratischen Bürgerpartei (Občanská demokratická strana). Der Slowake hieß Vladimír Mečiar und führte die Bewegung für die demokratische Slowakei (Hnutie za demokratické Slovensko).

Damaligen Umfragen zufolge wollte die Mehrheit der slowakischen Bevölkerung keine Trennung. Eher verbreitet war die Vorstellung einer lockereren Verbindung der beiden Staatsteile, etwa in Art einer Konföderation. „Die Tschechen fühlten sich in der Zeit – und waren es damals tatsächlich auch – wirtschaftlich stärker als die Slowaken. So hatten sie kein Problem damit, dass der ‚schwächere‘ Partner gehen würde. Und es war, als würden sie die Slowaken extra in der autoritären Mečiar-Herrschaft belassen und gleichzeitig davor fliehen wollen“, erklärt Luboš Palata. Deshalb war kaum eine tschechische Stimme des Protests zu vernehmen. In der Slowakei wurden hingegen populistische Töne laut: „Die slowakischen Nationalisten haben damals den Umstand ausgenutzt, dass die tschechischen Eliten in der Gründungszeit der Tschechoslowakei im Jahr 1918 und den Folgejahren keine Rücksicht auf die slowakische Mentalität genommen haben. Genauso wie später die Kommunisten.“ In Folge tauchten auf der Europakarte am 1. Januar 1993 zwei neue Staaten auf.

In den ersten sechs Jahren nach der Teilung gab es keinerlei politische Kontakte zwischen den Ländern. Die beiden Premierminister haben sich in dieser Zeit nur einmal persönlich getroffen, die meisten Streitfragen blieben offen. Ein Durchbruch kam erst nach dem Machtwechsel 2000 mit den neuen Regierungseliten, die eigentlich gegen die Spaltung des Landes eingetreten waren. Erst der tschechische Sozialdemokrat Miloš Zeman und der slowakische konservativ-liberale Mikuláš Dzurinda nahmen sich in ihrer Position als neue Regierungschefs der schwierigen Aufgabe an, um einige notwendige Schritte einzuleiten. Erst im Jahr 2000, also sieben Jahre nach der Trennung, wurden offizielle Verträge zwischen den beiden Ländern abgeschlossen. Darin wurde zahlreiche Probleme geklärt, beispielsweise dass slowakische Studenten an tschechischen Hochschulen studieren konnten; die Renten der Bürger beider Länder wurden gegenseitig abgesichert sowie der Verkehr an der Staatsgrenze geregelt.

Rund 25 Jahre nach der Trennung beider Staaten hat sich längst so etwas wie eine normale Zusammenarbeit eingespielt. „Es gibt dabei kaum Konflikte und wenn es Komplikationen gibt, liegt die Ursache meistens in mentalen Stereotypen, die weiterhin existieren. Eine davon ist, dass die Tschechen angeblich viel Geld in der Slowakei investiert haben“, sagt Martin Ehl und fährt fort: „Und in Tschechien spielt es zum Beispiel nach wie vor eine Rolle, dass in den komplizierten Dekaden der Geschichte Slowaken an der Spitze des Staates standen, wie zum Beispiel der sozialistische Präsident der 1970er und 1980er Jahre Gustáv Husák, die kommunistische Leitfigur des Prager Frühlings Alexander Dubček und der heutige Premierminister Andrej Babiš.“ Der seit Dezember 2017 regierende Premierminister ist heute als mehrfacher Millionär einer der reichsten Tschechen.

Nachdem beide Staaten im Mai 2004 der Europäischen Union beigetreten sind, haben sich die politischen Kontakte weiter intensiviert und gefestigt – und das, obwohl beide Staaten unterschiedliche Positionen zur Intensität der europäischen Integration vertreten.

Gemeinsam in Europa

Die Slowakei und die Slowaken sind größere EU-Befürworter als ihre tschechischen Nachbarn. „Die Europäische Union und die Mitgliedschaft in diesem Bündnis steht für slowakische Politiker an erster Stelle“, sagt Palata. „Das kann man von den Tschechen kaum behaupten.“ Während sich die Tschechen mit der Einführung der gemeinsamen europäischen Währung nach wie vor schwer tun, bezahlen die Slowaken bereits seit dem Jahr 2009 mit Euromünzen. Während in Tschechien ein möglicher „Czexit“ durchaus ein Thema ist, will die Mehrheit der Slowaken zum harten Kern der Union gehören. Auch wenn die Slowakei so gut wie keine Flüchtlinge aufgenommen hat, betreibt das Land ein Flüchtlingslager an der Grenze zu Österreich, in dem Asylbewerber beherbergt werden. In Tschechien ist eine Aufnahme von Flüchtlingen hingegen tabu.

Auf der internationalen – und konkret auf der europäischen Ebene – ist trotzdem nach wie vor die interne tschechoslowakische Verbindung enger als die zu anderen Staaten. So vertrat Babiš beispielsweise bei der Sitzung des Europäischen Rates Mitte Februar 2020 auch die Slowakei mit. Die jeweiligen Positionen werden vor den Sitzungen der europäischen Institutionen abgesprochen und die beiden Regierungen unterstützen sich gegenseitig, wenn es zum Beispiel um die Ernennung von Kandidaten für EU-Posten geht.

Diese Zusammenarbeit musste sich allerdings erst entwickeln, denn früher lief es ganz anders: Ende der 1990er Jahre stellte sich Tschechien nicht hinter die Slowakei, als das Land aus der NATO-Erweiterungsrunde ausgeschlossen wurde. Erst 2004 wurde die Slowakei Mitglied der Allianz und Tschechien unterstützte dies ausdrücklich.

Da beide Staaten zu den kleineren EU-Mitgliedern gehören, hat ihre Zusammenarbeit kein größeres Gewicht. Beide Staaten sind, sowohl einzeln als auch gemeinsam, so klein und mit der Euro-Lupe gesehen so unbedeutend, dass es keine Rolle spielt, ob sie etwas allein oder gemeinsam durchsetzen wollen. In den letzten Jahren gab es allerdings vermehrt tschechische-slowakische Projekte, besonders im Zusammenhang mit der Gewinnung europäischer Partner.

„Die Tschechen und die Slowaken haben die guten Beziehungen im Blut. Wir können für viele ein Vorbild sein“, sagt der tschechische Botschafter in der Slowakei Tomáš Tuhý: „Das Verhältnis zwischen Tschechen und Slowaken könnten als positives Beispiel für ein ruhiges Zusammenleben zweier Nachbarstaaten dienen – in gewisser Hinsicht auch als ein Vorbild der europäischen Integration“.

Fremde Nachbarn?

Während sich die offiziellen Beziehungen beider Staaten täglich verbessern, entfremden sich die Menschen voneinander. Politik und Wirtschaft sprechen miteinander, die Menschen nicht mehr. Kaum ein Tscheche hat heute noch ausreichend Kenntnisse über die gesellschaftspolitische Lage in der Slowakei, die jüngere Generation versteht kein Slowakisch mehr, und die jungen Leute waren eher in Berlin, Wien oder Paris als einmal in Bratislava. Die jungen Tschechen denken nicht mal darüber nach.

Auch der Tscheche Pavel Šafránek kann nach neun Jahren in der Slowakei bestätigen, dass sich die Leute dort eher für Tschechien interessieren als umgekehrt: „In der Slowakei ist es normal, tschechische Medien zu verfolgen, das ist umgekehrt in Tschechien eine Ausnahme. Kleinere Staaten hatten schon immer mehr Interesse an den größeren Nachbarn als umgekehrt. In den slowakischen Buchhandlungen sind tschechische Publikationen ein Teil der Abteilungen für einheimische Literatur. Das gibt es in Tschechien nicht, da ist die Literatur aus der Slowakei Auslandsliteratur. Ich glaube, es hängt auch damit zusammen, dass die Slowaken grundsätzlich offener sind als die konservativen Tschechen.“

Weitere Gründe sieht Botschafter Tuhý darin, dass tschechische Männer sich oft nostalgisch an ihren Wehrdienst in der Slowakei erinnerten. „Und die Slowakinnen an die kulturell geprägten Ausflüge nach Brünn oder Prag. Obwohl man heutzutage eine Skipiste in Österreich besser kennt als den Nachbarsgarten, kamen die meisten ausländischen Touristen in Bratislava im Jahr 2018 aus Tschechien.“ Luboš Palata kommentiert dies weniger optimistisch: „Die meisten Tschechen haben sich nie für die Slowaken interessiert“, sagt er. „Der Grund war die historisch wirtschaftliche Schwäche des slowakischen Teils des gemeinsamen Staates. Die Slowaken wurden oft nur als eine Minderheit angesehen.“

Bis heute ist die Beziehung zwischen beiden Ländern von einer gewissen tschechischen Anmaßung überschattet. Für die meisten Tschechen ist die Slowakei nur eine Hürde vor der Hohen Tatra, denn so hohe Berge gibt es in Tschechien nicht – beliebt sind auch die schöne Natur und die Thermalbäder. „Kurz zusammengefasst ist es ein angenehmer Urlaubsort, aber auch das nur für die ältere Generation“, meint Luboš Palata. „Die Slowakei hat den Tschechen nicht viel zu bieten, nur einen entspannten Urlaub in einer schönen Umgebung. Es ist einfach der ehemalige ‚ärmere Bruder‘“, meint die Slowakin Andrea Slováková, die im Jahr 2005 aus der Slowakei nach Prag zum Medizinstudium gezogen und dort geblieben ist. Sie gehört zur wachsenden Zahl slowakischer Studentinnen und Studenten, die an der Prager Karlsuniversität oder der Brünner Masaryk-Universität nach einer Bildung mit Prestige und einer sprachlich und finanziell günstigen Möglichkeit für ein Studium im Ausland suchen. Im Jahr 2017 gab es statistisch 20.000 dieser Studenten. Und es werden jedes Jahr mehr.

In der Tschechischen Republik leben heute viele Slowaken, die offiziellen Angaben sprechen von mehr als 100.000, was in dem Zehn-Millionen-Staat 1 – 1,5 Prozent der Bevölkerung ausmacht – Schätzungen zufolge sind es noch mehr. Insgesamt wurden ein bis zwei Millionen Personen mit tschechischem Pass in der Slowakei oder in der benachbarten Ukraine geboren. Als positiv zu bewerten ist, dass Tschechien deshalb eine der wenigen Nationen in Europa ist, wo die Bevölkerungsentwicklung nicht rückläufig ist und das Land dadurch nicht vor alarmierenden demographischen Herausforderungen steht.

Die Slowakei ist zum Vorbild geworden

Während die konservativen Tschechen die Slowaken eher als eine weniger bedeutende Minderheit betrachteten, ist für die liberal denkenden Tschechen, die die tschechische Andrej-Babiš-Regierung und den tschechischen Präsidenten Miloš Zeman kritisch sehen, heute die Slowakei ein politisches Vorbild. Die Demonstrationen und die demokratische Abberufung der Robert-Fico-Regierung im März 2018 als Folge der politischen Krise, die sich nach dem Mord an dem Journalisten Ján Kuciak entwickelte, weiterhin die Wahl von Andrej Kiska zum slowakischen Präsidenten im Jahr 2014 und fünf Jahre später die Wahl der liberalen Kandidatin Zuzana Čaputová zu seiner Nachfolgerin lassen viele Tschechen hoffen, dass sich ihr Land in der Zukunft ähnlich verändern könnte. „Die Slowakei inspiriert heute den liberal und demokratisch denkenden Teil der tschechischen Gesellschaft“, meint Palata. Die tschechische Bewegung Eine Million Momente (Milion chvilek), die in den vergangenen Jahren regelmäßig Demonstrationen gegen die Babiš-Regierung organisiert, hat die slowakische politische Partei Für die anständige Slowakei (Za slušné Slovensko) zum Vorbild.

„Als ich im Jahr 2011 in die Slowakei gezogen bin, war mein tschechisches Umfeld überrascht. Die meisten Freunde, Bekannte und Kollegen haben es nicht verstanden“, bestätigt Pavel Šafránek, der einer der 30.000 Tschechen in dem Land mit fünf Millionen Einwohnern ist: „Mit der Zeit wurden die negativen Reaktionen weniger, und heutzutage beginnen viele von meinen Freunden sogar neidisch zu sein. Sie sagen; Du lebst und arbeitest in einem Land, das die Euro-Währung und eine tolle Präsidentin hat. Nach dem Journalistenmord an Kuciak hat die Gesellschaft angefangen, sich für gesellschaftspolitische Themen zu interessieren. Gleichzeitig wächst die Zivilgesellschaft, viele junge Menschen treten in die Politik ein und gründen neue politische Parteien. Die Slowakei ist positiv zur Europäischen Union eingestellt, und wir haben in Tschechien dagegen Andrej Babiš an der Macht und erleben einen schleichenden Anstieg der Kommunisten“, sagt Šafránek.

Auch wirtschaftlich hat die Slowakei längst aufgeholt. Der wirtschaftliche Vorsprung der Tschechischen Republik gegenüber dem Nachbarland wurde mit den Reformen der Dzurinda-Regierung 2002 bis 2004 kleiner, sodass die Slowakei den westlichen Nachbarn inzwischen bei zahlreichen ökonomischen Faktoren sogar überholt hat. Dazu hat auch die Euro-Einführung im Januar 2009 massiv beigetragen.

Inzwischen sind auch alle strittigen finanziellen Ansprüche und Konflikte zwischen beiden Staaten gelöst. „Heutzutage streitet man höchstens über die Schönheit der Frauen und über die Leistungen der jeweiligen Sportmannschaften“, scherzt der tschechische Botschafter Tuhý: „Während wir uns einigen können, dass die Frauen in beiden Nationen hübsch sind, ist die sportliche Rivalität der einzige aktuelle Streitpunkt.“

Sprache als Schlüssel

Nachdem Slowakisch und Tschechisch jahrelang ganz selbstverständlich täglich im Radio und im Fernsehen zu hören waren, werden heutzutage slowakische Schauspieler in tschechischen Filmen synchronisiert, weil das Publikum sie sonst nicht verstehen würde. Im slowakischen Fernsehen sind tschechisch synchronisierte Märchen kaum noch zu sehen. „Ich habe während des Studiums Tschechisch gelernt und gemerkt, dass es den Pragern sympathischer ist, wenn ich Tschechisch spreche statt Slowakisch oder automatisch erwarte, dass sie mich verstehen. Die 30jährigen verstehen es überhaupt nicht mehr“, sagt die Ärztin Andrea Slováková.

Diese Entfremdung der Nationen ist kaum aufzuhalten. Aber es gibt immer noch Ausnahmen: Die achtjährige tschechische-slowakische Tochter von Pavel Šafránek schaut im Fernsehen Filme in beiden Sprachen, spricht fließend sowohl Tschechisch als auch Slowakisch. Sie meint, es sei cool, beides zu beherrschen. Was aber noch vor 30 Jahren noch normal war, wird heute immer mehr zur Ausnahme.