„Wir brauchen keine Nationalhelden mehr.“

Ein Gespräch mit Susanne Schattenberg
aus OWEP 3/2020  •  von Gemma Pörzgen

Zusammenfassung

In der Postmoderne schien die Zeit der Nationalhelden vorbei zu sein, aber in vielen Ländern dienen historische Persönlichkeiten bis heute als wichtige Identifikationsfiguren. Susanne Schattenberg, Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa und Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bremen, hat sich mit diesem Phänomen beschäftigt. Mit ihr sprach OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen.

Susanne Schattenberg studierte Geschichte, Slawistik und Psychologie in Hamburg, Leningrad und Konstanz; 1999 promovierte sie in Frankfurt (Oder) und habilitierte sich 2006 an der Humboldt-Universität in Berlin, bevor sie 2008 in die Forschungsstelle Osteuropa nach Bremen wechselte. Sie arbeitet zum Zarenreich, zum Stalinismus und veröffentlichte zuletzt eine Biografie über den sowjetischen Staatschef Leonid Breschnew.

Was macht Nationalhelden eigentlich aus?

Nationalhelden sind oft Vorbilder und sollen Orientierung bieten. Aber sie haben in den verschiedenen Gesellschaftssystemen unterschiedliche Funktionen. Ich würde deshalb zwischen demokratischen und totalitären Gesellschaftssystemen unterscheiden. Es werden zwar auch in demokratischen Gesellschaften Idole geschaffen, aber die Verpflichtung, dieser Person zu huldigen, gibt es nicht. Das wird jedem selbst überlassen. In totalitären Gesellschaften, wie beispielsweise in der früheren Sowjetunion unter Stalin, wurde dagegen die ganze Propaganda auf einen Heldenkult ausgerichtet und die Verehrung staatlich verordnet.

Nationalhelden sind oft historische Figuren, die im Rückblick überhöht werden. Was trägt zu dieser Mythenbildung bei?

Es gibt herausragende Persönlichkeiten, die Opfer erbracht haben für etwas Größeres, oft mit edlen Motiven und für das Wohl eines Landes. Entscheidend ist aber vor allem, was eine Gesellschaft aus einer historischen Figur macht und wofür sie benutzt wird.

Ist das vor allem ein osteuropäisches Phänomen?

Ich sehe darin nichts spezifisch Osteuropäisches, auch wenn das in der Sowjetunion und einigen ostmitteleuropäischen Staaten stark ausgeprägt gewesen ist. Ich würde das nicht an der Geografie festmachen wollen. Das hat sehr viel mehr mit der Verfasstheit von Gesellschaften und Staatssystemen zu tun.

Was trägt dazu bei, dass eine Gesellschaft ihre Nationalhelden braucht?

Es sind oft Krisenmomente oder Situationen, in denen nach Auswegen und Lösungen gesucht wird, die vielleicht auch unbequem sind. In der Sowjetunion der 1930er Jahre ging es um die Entkulakisierung1 und später um den Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzung. Da war es für die sowjetische Führung wichtig zu propagieren, dass sich Menschen für die Politik der Partei oder die Rettung des Vaterlandes opfern. Ich denke an den Bauernjungen Pawlik Morosow, der Anfang der 1930er Jahre seinen Vater als Kulaken denunzierte und von anderen Bauern deshalb erschlagen wurde.2 Er wurde dann zur sozialistischen Heldengestalt stilisiert und sogar „Heldenpionier 001“ genannt.

Oder der Mythos von Soja Kosmodemjanskaja, die als sowjetische Partisanin von der Wehrmacht gefangen genommen wurde und auch unter Folter nichts über ihre Partisanengruppe ausgesagt hat. Sie wurde ab 1942 zur Ikone des sowjetischen Widerstandes gegen die deutsche Wehrmacht und als Heldin der Sowjetunion verehrt. Beide sollten der Gesellschaft vermitteln, wie richtiges Verhalten in lebensbedrohlichen Situationen aussehen sollte.

Waren das denn Nationalhelden, die allen in der sowjetischen Bevölkerung bekannt waren?

Soja Kosmodemjanskaja ist bis heute sehr bekannt. Ich fand es sehr bewegend, dass die inzwischen verstorbene russische Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa sich beispielsweise auf sie berufen hat. Alexejewa sagte einmal, dass die Taten der Partisanin sie inspiriert hätten, gegen das Regime aufzustehen und den Mund aufzumachen. Das war natürlich eine unbeabsichtigte Wirkung, dass da eigentlich einmal eine Frau dafür gefeiert wurde, dass sie standhaft war, um das sowjetische System zu stärken, und sie dann Jahrzehnte später eine andere Frau dazu inspiriert, gegen das System aufzustehen und nicht mehr zu schweigen.

Spielen im heutigen Russland nicht eher andere historische Figuren eine Rolle, wie beispielsweise Alexander Newski? Er gilt bis heute als russischer Nationalheld und Heiliger der orthodoxen Kirche.

Wenn man sich Alexander Newski anschaut, ist das inzwischen eine sehr abstrakte Figur. Unter Stalin wurde er in den Eisenstein-Filmen noch sehr gefeiert. Es ging darum, das sowjetische Volk auf den Krieg gegen Deutschland vorzubereiten. Heute scheint mir Alexander Newski kaum noch eine Rolle zu spielen und die Bevölkerung scheint mit ihm nur noch wenig anfangen zu können. Die bekannteren Nationalhelden sind vermutlich eher die des 20. Jahrhunderts.

Im kommenden Jahr wird das 800jährige Jubiläum von Alexander Newski mit großem Pomp gefeiert. Wie wichtig ist diese Instrumentalisierung für das Putin-Regime?

Wenn man sich den Erinnerungskult um Alexander Newski ansieht, dann ist natürlich ganz eindeutig zu erkennen, dass in der russischen Geschichtspolitik bestimmte Linien fortgeschrieben werden sollen: das starke, mächtige Russland, das den Feind aus dem Land treibt. Damit kann die Kremlführung heute Politik betreiben, um eigene Ziele zu verfolgen.

Aber es gibt ganz andere interessante Entwicklungen, wie sich beispielsweise an dem 2016 errichteten Denkmal von Fürst Wladimir in Moskau zeigt.3 Er soll vor mehr als tausend Jahren das Reich der Ostslawen gegründet haben und ist ein Namensvetter des Präsidenten. Hier finde ich dessen Umwidmung so interessant, denn der Platz wird in diesen Tagen von Moskauern dazu genutzt, um gegen die umstrittene neue russische Verfassung zu protestieren. Daran zeigt sich, dass solche Figuren umgedeutet und ganz neu besetzt werden können. Das Wladimir-Denkmal steht dann nicht mehr für starke Herrschaft und die Macht der Orthodoxie, sondern wird zum Platz, auf dem Menschen für Demokratie einstehen. Das ist aus meiner Sicht ein sehr spannender Punkt, dass Nationalheilige von oben verordnet werden sollen, aber die Bevölkerung das von unten völlig umdeutet.

Wie funktioniert das psychologisch, dass Nationalhelden überhaupt zu solchen Projektionsflächen werden?

Nationalhelden müssen einigermaßen holzschnittartig gezeichnet werden. Oft werden sie ihrer spezifischen historischen Charaktereigenschaften entledigt und es bleibt nur noch eine Formel übrig, die sich dann auf möglichst viele neue Situationen anpassen lässt.

Uns Deutschen sagt man nach, dass wir ein gebrochenes Verhältnis zu Nationalhelden haben. Ist das so?

In der Bundesrepublik Deutschland sind unsere Nationalhelden wohl eher die „Weiße Rose“ oder die Männer und Frauen des 20. Juli. Sie haben auch eine gewisse Entlastungsfunktion angesichts der Mitverantwortung für den Nationalsozialismus und seine Verbrechen. Wenn man darüber nachdenkt, wer wohl noch in Frage käme, käme einem wohl Luther in den Sinn oder vielleicht große Komponisten, Dichter und Denker. Sie dienen eher dazu, sich im Schein ihres kulturellen Erbes zu sonnen.

Wie steht es um europäische Helden? Gehört es zu einer europäischen Identität dazu, dass wir solche Figuren brauchen?

Ich würde eher sagen: Nein. Es ist wichtig, dass wir gemeinsame Ideale und Werte haben. Aber solche Heldenfiguren bergen immer die Gefahr, dass man sie instrumentalisiert und dass sie dazu dienen, eine Gesellschaft zu manipulieren oder etwas zu übertünchen. Das finde ich ganz schwierig. Einmal im Jahr wird in Aachen der Internationale Karlspreis an Persönlichkeiten verliehen, die sich um Europa und die europäische Einigung verdient gemacht haben. Dabei war Karl der Große ein Kriegsherr gegen den Islam. Aus meiner Sicht ist er dadurch als europäische Integrationsfigur nicht gerade geeignet. Es wäre eher eine Stärke, wenn wir in der EU ohne solche Nationalheiligen auskämen. Die Diversität an Werten in der Postmoderne auszuhalten, ist eine wichtige Herausforderung. Aber das finde ich besser als einen Heldenkult.

Wer sollte das auch sein: Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl oder der französische frühere Präsident François Mitterrand? Das finde ich alles schwierig. Wenn man etwas tiefer in die europäische Geschichte einsteigt, fiele mir vielleicht noch der französische Kaiser Napoleon I. ein. Das wäre ein schräger, provokanter Gedanke. Er hat zwar große Teile des damaligen Deutschen Reiches besetzt, aber für viele Freiheit und Demokratie gebracht – auch Gleichberechtigung für die Juden. Das ist jemand, an dem man sich abarbeiten kann, der ein europäisches Verständnis hatte, das uns heute vielleicht gar nicht so fern ist.

Wie sieht es mit globalen Helden aus? Wir haben im Heft einen Beitrag über Greta Thunberg – ist sie eine Heldin modernen Typs?

Greta Thunberg ist eine Heldin, die nichts Nationales an sich hat, in ihrem ganzen Auftreten, auch mit ihrem perfekten Englisch. Sie bietet sich für viele als Identifikationsfigur an. Sie verkörpert eine Sehnsucht danach, dass wir alle angstfrei für unsere Ideale eintreten und das ohne eigene Interessen in der Welt verkünden. Die junge Frau ist vergleichbar mit den Mitgliedern der „Weißen Rose“: Sie sind Identifikationsfiguren, aber weit weg von den traditionellen Nationalhelden.


Fußnoten:


  1. Mit „Kulak“ (russisch „Faust“) wurden seit dem 19. Jahrhundert wohlhabende russische Landwirte bezeichnet. Als „Entkulakisierung“ wird die Zerschlagung dieser Bevölkerungsschicht im Rahmen der Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion in den 1930er Jahren bezeichnet. Die betroffenen Familien wurden enteignet und deportiert, mehr als eine halbe Million Menschen starben als Folge dieser Maßnahmen. (Anmerkung d. Redaktion) ↩︎

  2. Vgl. dazu den Beitrag „Pawlik Morozow“ in OWEP 18. Jahrgang (2017), H. 4, S. 258 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  3. Eine Abbildung des Denkmals findet sich z. B. unter https://kkrohn.blog/2016/11/04/ein-denkmal-fuer-fuerst-wladimir/ (letzter Zugriff: 13.07.2020 - Link mittlerweile inaktiv!). ↩︎