1932: Pawlik Morozow

aus OWEP 4/2017  •  von Hanna Stähle

Hanna Stähle: Doktorandin in Slawischer Kulturwissenschaft der Universität Passau.

Mit der Geschichte von Pawlik Morozow war jeder sowjetische Schüler vertraut. Er war ein Vorbild, ein anzustrebendes Ideal, ein Idol. In Vers und Prosa, auf der Theaterbühne und auf dem Bildschirm wurde der Mythos um Pawlik Morozow kultiviert. Wer war dieser vierzehnjährige Junge, nach dessen Namen Straßen und Schulen benannt wurden und der als eine Symbolfigur in die sowjetische Geschichte einging?

Im September 1932 wurde Pawlik Morozow zusammen mit seinem jüngeren Bruder im Dorf Gerasimowka in Sibirien tot aufgefunden. Wie später die sowjetische Propaganda darstellte, starb Pawlik eines gewaltsamen Todes im Kampf gegen die „Kulaken“ (Großbauern), die sich der Kollektivierung der Landwirtschaft widersetzten und als auszurottende Staatsfeinde galten. Seine „Heldentat“ bestand darin, dass er seinen leiblichen Vater und Vorsitzenden des Dorfsowjets Trofim Morozow bei der örtlichen Verwaltung als Komplizen der Kulaken und Volksfeind denunziert hatte. Daraufhin wurde Pawliks Vater verhaftet und zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Aus Rache ermordeten die Kulaken, darunter Pawliks Großvater, den Jungen.

In den 1930er Jahren wurden sowjetische Bürger zur Wachsamkeit und zur Denunziation von Schädlingen, Saboteuren und Volksfeinden aufgerufen. Selbst Kinder und Jugendliche blieben von der politischen Instrumentalisierung nicht verschont: Pawlik Morozow, der seine Familie verriet, um den Staat zu schützen, wurde in dieser hysterischen Atmosphäre zum Vorbild erkoren.

Die sowjetische Propaganda stellte Pawlik Morozow als Organisator der ersten Pionierbrigade in Gerasimowka dar. Er stand für den Kampf um die „lichte Zukunft“ und die Ideale des Kommunismus. Auch wenn Pawliks Engagement bei den Pionieren eher dem Mythos als der Realität entspricht, wurde sein Bild, in Pilotenmütze und mit einem Pionierhalstuch, kanonisiert. Erst mit Gorbatschows Politik der Perestroika und Glasnost rückte Pawliks Verrat an der eigenen Familie und die moralische Fragwürdigkeit seiner Tat ins Zentrum der öffentlichen Debatte.