OWEP 3/2021

OWEP 3/2021

Schwerpunkt:
Corona und die Folgen: Soziale Verwerfungen in Mittel- und Osteuropa

Editorial

Ein Virus verändert die Welt und hat zu einem Innehalten geführt – oder doch nicht? Die Covid-19-Pandemie fordert trotz der erstaunlich schnellen Entwicklung von Impfstoffen in vielen Ländern weiterhin unzählige Opfer und die langfristigen Folgen für viele Erkrankte sind nicht absehbar. Dennoch drängt sich im zweiten Coronajahr der Eindruck auf, dass die Menschen vielerorts der Schutzmaßnahmen müde sind und sich eine gefährliche Sorglosigkeit breit macht. Mehr noch, der Kampf gegen das Virus wird in wachsendem Maße instrumentalisiert: Bei der Beschaffung und Verteilung der Impfstoffe tun sich neue Gräben auf, zwischen Ost und West oder Nord und Süd. Populisten zweifeln Anti-Coronamaßnahmen an und nutzen die schwierige Zeit für ihre Zwecke, um Demokratie und Menschenrechte zu untergraben.

Das vorliegende Heft wirft einige Schlaglichter auf die sozialen Folgen der Pandemie in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Dabei geht es um den politischen Umgang mit der Krise, etwa in Polen, Serbien und Ungarn. Zu Wort kommen auch Menschen, deren Einsatz den Ärmsten gilt, die von der Pandemie am meisten betroffen sind, etwa in den Interviews zur Lage in Albanien und in der Ukraine. Die Reportage widmet sich den Lkw-Fahrern aus Osteuropa, die unter oft menschenunwürdigen Strapazen viele Wirtschaftszweige am Leben gehalten haben. Weitere Beiträge sind dem Thema „Fake News“ und den Auswirkungen auf die Tourismusbranche gewidmet.

Zur besonderen Herausforderung wurde die Pandemie für die Kirchen und deren Umgang mit der Krise. Auch hier gab es Licht und Schatten: Es erforderte viel Kreativität, um Gottesdienste unter Pandemiebedingungen zu ermöglichen, aber es herrschte auch eine gewisse Sprachlosigkeit angesichts der neuen und unbekannten Bedrohung.

Papst Franziskus sagte am 4. September 2020: „Weil wir nicht in der Lage waren, für das Gute solidarisch zu sein und unsere Ressourcen zu teilen, haben wir die Solidarität des Leids erfahren.“ Es bleiben berechtigte Zweifel, ob die Menschheit ernsthaft bereit ist zur Solidarität und für eine „neue Normalität“ mit dem Virus.

Die Redaktion

Kurzinfo

Trotz der schnellen Entwicklung von Impfstoffen fordert die Covid-19-Pandemie in vielen Ländern weiterhin Opfer, auch sind die langfristigen Folgen nicht absehbar – das betrifft nicht nur die Menschen, sondern alle wirtschaftlichen und politischen Strukturen weltweit. So wird der Kampf gegen das Virus deutlich instrumentalisiert, etwa wenn Populisten die Pandemie nutzen, um autoritäre Systeme auszubauen. Wenn die Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven der Pandemie und ihren Auswirkungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa ein Themenheft widmet, dann handelt es sich um Streiflichter, deren Aussage ohne Weiteres auf andere Teile Europas oder der Welt übertragen werden kann.

Schon der Einführungsbeitrag von Dr. Pavle Aničić, Mitarbeiter der Serbischen Orthodoxen Diözese von Düsseldorf und ganz Deutschland, weist auf die besonderen Probleme hin, vor die die Kirchen in der Pandemie gestellt wurden: Gottesdienste mussten neu organisiert, andere seelsorgliche Angebote völlig neu aufgebaut werden. Für Gläubige in der Diaspora gab es damit oft noch größere Probleme als bei den Großkirchen in Deutschland. Der Schriftsteller Artur Becker weist im anschließenden Essay auf die Folgen der Pandemie für die politische Entwicklung in den Visegrád-Staaten hin, also Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn. Manche tiefer liegenden Vorurteile gegen den vermeintlichen „Zentralismus“ der EU haben sich verschärft, die schon seit mehreren Jahren schwelenden Auseinandersetzungen zwischen der EU und den Regierungen in Ungarn und Polen haben sich verstärkt, der Ausgang ist offen.

Was Polen betrifft, vertieft der Beitrag des in Warschau lebenden Journalisten und Publizisten Thomas Urban die Hinweise Beckers: Die polnische Regierung hat das Virus zunächst unterschätzt, was zu Engpässen in der Versorgung der Kranken führte. Hilflos und widersprüchlich hat aber auch die katholische Kirche reagiert, etwa indem viele Gläubige trotz entsprechender Mahnung weiterhin die Mundkommunion praktizierten, was vermutlich eine Ursache für viele Erkrankungen war; sie folgten damit extrem konservativen Kräften innerhalb der Hierarchie. Letztlich hat dies zu einem weiteren Vertrauensverlust der Kirche geführt, deren Ansehen durch Missbrauchs- und Korruptionsskandale seit Jahren gelitten hat. Noch gravierender sind die indirekten Folgen der Pandemie für Ungarn. Die Regierung unter Viktor Orbán hat, wie aus der Analyse der in Brüssel tätigen Journalistin Katalin Halmai deutlich wird, die notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus genutzt, um ihren Kurs zum Abbau demokratischer Grundrechte zu verstärken. Die Europäische Union hat daher inzwischen ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.

Zwei Interviews im Heft gewähren Einblicke in konkrete Hilfsmaßnahmen für Opfer der Pandemie. Andrij Waskowycz, Präsident der Caritas der griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine, gibt einen Überblick über die Unterstützung besonders von alten und behinderten Menschen. Schwester Maria Christina Färber SWG berichtet über die Entwicklung in Albanien und vermittelt Eindrücke von ihrer Arbeit im Kloster Shkodra (Nordalbanien).

Kroatien und dessen Nachbarländer in Südosteuropa stehen im Mittelpunkt dreier weiterer Texte mit unterschiedlicher Ausrichtung: Prof. Dr. Jasna Ćurković Nimac und Dr. Anto Čartolovni, beide tätig an der Kroatischen Katholischen Universität in Zagreb, erläutern das Für und Wider der Impfkampagne in Kroatien, bei dem die katholische Kirche eine ambivalente Rolle spielt. Die in Sarajevo wirkende Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Edina Bećirević befasst sich mit dem wachsenden Einfluss Chinas und Russlands im Westbalkan (d. h. Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien), der sich auch im Einsatz chinesischer und russischer Impfstoffe in der Region widerspiegelt. Der in Sofia lebende Journalist Frank Stier schildert die Folgen der Pandemie für die Tourismusbranche in Südosteuropa anhand der Lage in Bulgarien und Kroatien.

Zu den von der Pandemie stark betroffenen Arbeitsbereichen gehört neben dem Krankenhaus- und Pflegebereich auch das gesamte Transportwesen. Ohne den internationalen Güterverkehr auf der Straße würden weite Teile von Industrie und Wirtschaft brach liegen – und dennoch gehören gerade Lkw-Fahrer aus dem Osten Europas zu den Leidtragenden von „Corona“. OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen schildert in einer Reportage ihre Situation. In einem zweiten Beitrag geht sie einem anderen Phänomen nach, das sich während der Pandemie verstärkt hat, den so genannten „Fake News“.

Dass die Pandemie in Jahrzehnten gewachsene Strukturen an Ländergrenzen infolge von Grenzschließungen beschädigt oder sogar zerstört hat, wurde in TV-Bildern der vergangenen Monate immer wieder sichtbar. Stellvertretend für andere Beispiele zeigt der Beitrag des in Frankfurt (Oder) lebenden Aktionskünstlers Michael Kurzwelly, was sich in dieser Stadt und ihrer polnischen Nachbarstadt Słubice während des Lockdowns und danach ereignet hat.

Abgeschlossen wird das Heft mit Hinweisen zur weiterführenden Lektüre.

Einen Kurzclip zur Ausgabe 3/2021 finden Sie hier.

Ein Ausblick auf Heft 4/2021, das Ende Oktober erscheinen wird: Im Mittelpunkt stehen Seen in Mittel- und Osteuropa. Neben der Vorstellung bekannter und weniger bekannter Seen – etwa des Plattensees in Ungarn und des Ohridsees zwischen Albanien und Nordmazedonien – wird das Heft Beiträge zur Rolle von Seen in der Literatur enthalten, aber auch zu ökologischen Fragen in diesem Bereich Stellung beziehen.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

162
Zwischen Verantwortung und Erwartungen – die Pandemie als besondere Herausforderung für die orthodoxe Diaspora
Pavle Aničić
168
Die Covid-19-Pandemie und Mittel(ost)europa
Artur Becker
175
Die Pandemie verändert die Rolle der Kirche in Polen
Thomas Urban
182
„Zum Krieg ist die Belastung der Corona-Pandemie hinzugekommen.“ Ein Gespräch mit Andrij Waskowycz.
Gemma Pörzgen
185
Hinter der Pandemie versteckt: Seuchenbekämpfung als politische Strategie Viktor Orbáns
Katalin Halmai
191
Ethische Probleme der Pandemie in Kroatien
Jasna Ćurković Nimac und Anto Čartolovni
201
„Durch Corona hat sich die Armut in Albanien vielfach in Elend verwandelt.“ Ein Gespräch mit Schwester Maria Christina Färber SWG
Christof Dahm
205
China, Russland und der Westbalkan: Impfangebote als Mittel zur Einflussnahme
Edina Bećirević
211
Zu Dumpinglöhnen kreuz und quer durch Europa
Gemma Pörzgen
217
„Nowa Amerika“ trotzt der Pandemie
Michael Kurzwelly
225
Der Sommer lässt wieder auf Touristen hoffen. Wie die Reisebranche auf dem Balkan dem Coronavirus zu trotzen versucht.
Frank Stier
231
„Fake News“ in der Coronakrise
Gemma Pörzgen
237
Weiterführende Lektüre
OWEP-Redaktion

Summary in English

The Covid 19 pandemic continues to claim countless victims despite vaccination progress in many countries and has changed social and economic life worldwide. Unfortunately, the fight against the virus is also being politically instrumentalised: Populists are casting doubt on anti-corona measures and using the difficult time to undermine democracy and human rights. This issue sheds some light on the consequences of the pandemic in Central, Eastern and South-Eastern Europe, especially in Poland, Serbia and Hungary. People whose efforts are directed at the poorest, those most affected by the pandemic, also have their say, for example in interviews on the situation in Albania and Ukraine. The pandemic became a particular challenge for the churches and their handling of the crisis, as several contributions make clear. Justified doubts remain as to whether humankind is seriously ready for solidarity and for a „new normality“ with the virus.