Europäische Dimension der deutsch-polnischen Versöhnung

aus OWEP 2/2018  •  von Robert Żurek

Dr. Robert Żurek studierte Geschichte und katholische Theologie und promovierte im Fach Geschichte. Wissenschaftlicher Schwerpunkt seiner Forschungen sind die deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Seit 2016 ist er Vorstandsmitglied der Stiftung „Kreisau“ für Europäische Verständigung.

Zusammenfassung

Die deutsch-polnische Versöhnung war von europäischer Tragweite, weil sie die Einigung Europas möglich machte. Sie beruhte nicht nur auf der Überwindung der Folgen des Zweiten Weltkriegs, sondern auch auf einer langen Geschichte tiefer Feindschaft. Sie wurde unter äußerst ungünstigen politischen Verhältnissen von der Zivilgesellschaft, vor allem von engagierten Christen, vorangetrieben. Das Werk der Versöhnung ist noch nicht vollendet und bedarf nach wie vor entschiedener Schritte.

Ohne die Bedeutung anderer Versöhnungswerke nach dem Zweiten Weltkrieg zu unterschätzen, darf man zweifelsohne behaupten, dass zwei von ihnen eine herausragende Bedeutung für Europa hatten; das deutsch-französische und das deutsch-polnische. Denn ohne die Aussöhnung dieser drei wichtigen, im Herzen Europas liegenden Nationen wäre die europäische Einigung nicht möglich gewesen. So wie die deutsch-französische Versöhnung eine Brücke zwischen der Mitte und dem Westen des Kontinents schlug, so schlug die deutsch-polnische Aussöhnung eine Brücke nach Osten. Deswegen wäre es falsch, die deutsch-polnische Aussöhnung ausschließlich in bilateraler und nicht zugleich in europäischer Perspektive zu betrachten.

Versöhnung als Paradigmenwechsel

Falsch wäre es auch, die deutsch-polnische Aussöhnung lediglich auf die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen zu reduzieren. Die deutsch-polnische Nachbarschaft gestaltete sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (Teilungen Polens) zunehmend als eine unüberbrückbare Feindschaft. Die Überzeugung, dass die eigenen Nationalinteressen nur auf Kosten des Nachbarvolkes durchsetzbar seien, ja dass die eigene Existenz vom Nachbar bedroht sei, prägte die Identität beider Nationen generationenlang. Die Versöhnung bedeutete also bei weitem mehr als Wiederherstellung eines Normalzustands nach einem verheerenden Krieg (was allein schon schwierig genug gewesen wäre). Sie bedeutete einen Paradigmenwechsel in der gegenseitigen Wahrnehmung. Das konfrontative Denken wurde durch ein kooperatives ersetzt. Die Auffassung, wonach die eigene Zukunft nur auf Kosten des Anderen gestaltet werden könne, wurde von der Überzeugung abgelöst, dass eine gute Zukunft nur gemeinsam erreicht werden kann. Dieses Umdenken war nach so vielen Jahrzehnten erbitterter Feindschaft und angesichts der äußerst tiefen Wunden, die sie verursacht hatte, alles andere als einfach. Dass es geschah, ist als eine enorme historische Leistung zu würdigen.

Ungünstige Ausgangslage

Der deutsch-polnische Aussöhnungsprozess wird oft als ein dem deutsch-französischen nachgeordneter betrachtet, als seine weniger wichtige, weniger interessante Kopie – zu Unrecht.

Im deutsch-polnischen Verhältnis musste ein bei weitem schwierigeres Erbe der Geschichte bewältigt werden als im deutsch-französischen. Die Franzosen wurden von den Deutschen als „Erbfeinde“ eingeschätzt, man respektierte sie aber als Vertreter einer „Kulturnation“. Die Polen wurden hingegen von den Deutschen generationenlang als ein kulturloses, primitives Volk verachtet. Im Zweiten Weltkrieg litten Frankreich wie Polen unter der deutschen Besatzung, aber ganz Frankreich hatte weniger Todesopfer zu beklagen als nur die polnische Hauptstadt Warschau. Auch Raub und Zerstörung hatten im besetzten Polen bei weitem ein größeres Ausmaß als in Frankreich. Und nach dem Krieg besetzte Frankreich zwar deutsche Westgebiete, aber es handelte sich um eine vorläufige Maßnahme, während Deutschland fast ein Viertel seines Vorkriegsgebiets an Polen verlor.

Auch die politischen Bedingungen, unter denen die deutsch-polnische Versöhnung geschah, waren bei weitem ungünstiger als im deutsch-französischen Fall. Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich waren demokratische Staaten mit einer gemeinsamen, frei passierbaren Grenze. Polen war hingegen ein kommunistischer Staat, von der Bundesrepublik durch den undurchlässigen Eisernen Vorhang und die ebenfalls kommunistische DDR getrennt.

Die Siegermächte stellten deutsche Ostgebiete 1945 unter polnische Verwaltung und ließen damit ihre Zukunft offen. Gleichzeitig verordneten sie aber die Vertreibung ihrer deutschen Bevölkerung, was die Wiederherstellung des Status quo ante unmöglich machte. Diese zweideutige und inkonsequente Regelung machte die Grenzfrage praktisch bis 1990 zum Zankapfel der deutsch-polnischen Beziehungen.

Die Propaganda der polnischen Kommunisten bediente sich des (west)deutschen Feindbildes, um die Gesellschaft zu disziplinieren und vom Widerstand gegen das herrschende System abzubringen. Nur vereint, unter dem Schutzmantel der Sowjetunion, könne man den westdeutschen „Revanchisten“ die Stirn bieten, die nur darauf warten würden, erneut nach Polen einzudringen, Rache für den verlorenen Krieg zu nehmen und die verlorenen Gebiete wiederzuerlangen. Die politischen Eliten der Bundesrepublik erleichterten den polnischen Kommunisten dieses Spiel, indem sie bis in die späten 1960er Jahre keine Reue für die NS-Verbrechen zeigten, keine Wiedergutmachung anboten und keine Versöhnungsbereitschaft offenbarten, sondern die Wiedergewinnung der verlorenen Ostgebiete zum Hauptziel der Ostpolitik erklärten.

Versöhnung von unten

Während die deutsch-französische Aussöhnung ein Projekt der politischen Eliten und der Zivilgesellschaft war, wurde die deutsch-polnische Aussöhnung zum einem Projekt der Zivilgesellschaft, das auf jeden Fall in seiner ersten Phase, zum Teil aber bis zum Jahr 1989 gegen die politischen Eliten durchgesetzt wurde.

Die Zivilgesellschaft war es, die die Grundlagen und die ersten Meilensteine der deutsch-polnischen Versöhnung setzte – und das angesichts der erdrückenden Last der Geschichte und der äußerst ungünstigen politischen Bedingungen. Das ist ein wichtiger Gegenwartsbezug dieses historischen Prozesses: Die Zivilgesellschaft kann unter Umständen gewaltige Prozesse von internationaler Bedeutung anstoßen und die politischen Eliten zur grundsätzlichen Veränderung ihrer Haltung bewegen.

Bescheidene Anfänge großer Geschichte

Am Anfang des Versöhnungsprozesses standen kleine, unspektakuläre Aktionen, die von engagierten Bürgern, sehr oft Christen beider Konfessionen, durchgeführt wurden. Eine Solidaritätskundgebung zugunsten der polnischen Opfer der kommunistischen Herrschaft, ein Medienbeitrag, in dem die eigene Haltung kritisch hinterfragt wurde, eine Reise ins Nachbarland, als der Eiserne Vorhang Mitte der 1950er Jahre durchlässiger wurde; schließlich Mitte der 1960er Jahre erste organisierte Pilgerfahrten ost- und westdeutscher Christen nach Polen.

Im Herbst 1965 schalteten sich die Kirchenleitungen in den Versöhnungsprozess ein. Im Oktober 1965 meldete sich die evangelische Kirchenführung Deutschlands mit einer Denkschrift zu Wort, in der die deutsche Politik und Gesellschaft zum Umdenken in Bezug auf die östlichen Nachbarn gefordert wurden. Einen Monat später verfassten die katholischen Bischöfe Polens einen Brief an ihre deutschen Amtsbrüder, der mit den Worten „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“ endete.1

Die Reaktionen von Politik und Gesellschaft in Deutschland und Polen auf diese Stimmen waren überwiegend negativ, doch sie beflügelten die Befürworter der Versöhnung und trugen dazu bei, dass der Versöhnungsprozess seine kritische Masse erreichte, die es Bundeskanzler Willy Brandt 1970 möglich machte, Warschau zu besuchen, dort vor dem Denkmal für die Toten des Ghettos niederzuknien und einen Vertrag über die Normalisierung der Beziehungen mit dem polnischen Ministerpräsidenten zu unterzeichnen.

„Zwangsverordnete Freundschaft“?

Die deutsch-polnische Versöhnung wird oft auf Polen und die Bundesrepublik reduziert, die DDR wird dabei vor allem als ein Störfaktor betrachtet. Die kommunistischen Machthaber in Ostberlin hätten den Polen eine „zwangsverordnete Freundschaft“ (Ludwig Mehlhorn) angeboten, die vom Staatsapparat im Geiste einer kommunistischen Verbrüderung moderiert wurde und daher nicht wirklich zur Versöhnung beigetragen habe. Die Hypothek der Geschichte sei nicht angepackt worden, weil die DDR sich als antifaschistischer Staat verstand, der mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun hatte. Der authentische Dialog der Gesellschaften sei nicht zugelassen worden, weil die Kommunisten das Monopol auf die Gestaltung der Außenbeziehungen des Staates beanspruchten und eine vom Staat nicht kontrollierte Eigendynamik der Kontakte von unten fürchteten. Die Machthaber in der DDR hätten auch keine Bedenken gehabt, alte polenfeindliche Ressentiments wiederaufleben zu lassen, als es in den frühen 1980er Jahren darum ging, das Überspringen des „Bazillus“ der polnischen Freiheitsbewegung nach Ostdeutschland zu verhindern.

Das alles stimmt weitgehend, aber nicht ganz. Bei allen Defiziten der kommunistisch gesteuerten „Verbrüderung“ wurde in der Schulbildung wie den Medienbeiträgen der DDR das alte herablassende und feindschaftliche Denken über Polen nicht mehr tradiert. Polnische Kultur, Literatur und Musik wurden popularisiert und erfreuten sich in Ostdeutschland großer Beliebtheit. Und die Begegnungen, die insbesondere seit der Aufhebung der Visapflicht in den 1970er Jahren einen Massencharakter annahmen, trugen zusätzlich zum Abbau der Vorurteile bei.

Erstaunlich ist es außerdem, dass ausgerechnet unter den äußerst ungünstigen Bedingungen des realsozialistischen Musterstaates DDR einige Versöhnungsinitiativen realisiert wurden, die durch ihre geistreiche Art und Entschiedenheit beeindruckten und zweifelsohne einen realen Einfluss auf den deutsch-polnischen Versöhnungsprozess hatten. Zu ihnen zählten die Bücherspenden des Eberswalder Pfarrers Kurt Reuter, der bis zu seinem Tode im Jahre 1965 alle polnischen Bischöfe, Priesterseminare und viele katholische Einrichtungen zum Zeichen der Reue und Sühne mit liturgischen und theologischen Büchern beschenkte, oder die Radpilgerfahrt der Aktion Sühnezeichen von Görlitz nach Auschwitz 1965 – die erste ökumenische Initiative im deutsch-polnischen Versöhnungsprozess.

Auch an den Meilensteinen des Versöhnungsprozesses aus dem Jahre 1965 waren die Bürger der DDR beteiligt. Trotz der Teilung Deutschlands wirkten die beiden christlichen Kirchen in gesamtdeutschen Strukturen, so befanden sich etwa unter den Adressaten des Briefes der katholischen Bischöfe Polens auch Bischöfe aus der DDR. Diese waren auch maßgeblich beteiligt an der Ausarbeitung des deutschen Antwortbriefes.

Vollendung der Versöhnung?

Seit den 1970er Jahren nahm der Versöhnungsprozess an Tempo zu, die politische, wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit intensivierte sich erheblich. Nichtsdestotrotz war der Weg zur vollen Normalisierung der nachbarschaftlichen Beziehungen noch lang. Die Ressentiments und Vorurteile waren noch weit verbreitet, die kommunistischen Führer Polens nutzten das westdeutsche Schreckgespenst immer noch für innenpolitische Zwecke aus und manche westdeutsche Politiker taten sich mit einer konsequenten Befolgung des Versöhnungsweges schwer.

Eine besondere Bedeutung für die gegenseitige Wahrnehmung der Deutschen und Polen hatte die Entstehung und Niederschlagung der freien Gewerkschaft „Solidarität“ in Polen in den frühen 1980er Jahren. Der Mut und die anschließende Not der Polen bewegten sehr viele Deutsche und veranlassten sie zu einer massiven Hilfsaktion. Hunderttausende von Paketen mit Versorgungsmitteln und Medikamenten wurden nach Polen verschickt und sorgten dort für Dankbarkeit und neues Denken über die westlichen Nachbarn.

Einen Höhepunkt und eine Krönung erfuhr der Versöhnungsprozess im Herbst 1989, als der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Polens Tadeusz Mazowiecki und der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl an einer Versöhnungsmesse teilnahmen und einander sehr herzlich das Zeichen des Friedens gaben. Fast zu derselben Zeit fiel die Berliner Mauer und es begann sich der Weg zur Einigung Deutschland zu ebnen.

Nachdem Deutschland 1990 endlich die Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze anerkannt hatte und ein Vertrag über gute Nachbarschaft zwischen dem freien Polen und dem vereinigten Deutschland unterzeichnet worden war, schien der Versöhnungsprozess vollendet zu sein.

Wo stehen wir?

Heute, 28 Jahre später, sehen wir, wie naiv dieser Glaube war. Einerseits sind die gegenseitigen Beziehungen so gut wie selten in der langen Geschichte. Deutschland und Polen sind Partner in der NATO und EU, arbeiten auf vielen Feldern eng zusammen. Andererseits gibt es in den deutsch-polnischen Beziehungen immer wieder Streitpunkte, die zu unverhältnismäßig starken Spannungen führen. Und die Umfragen ergeben, dass vor allem in der deutschen Gesellschaft Vorbehalte und Unkenntnis in Bezug auf Polen immer noch stark vorhanden sind. Deshalb gilt es nach wie vor, an der Versöhnung zu arbeiten. Dies ist heute, angesichts wachsender Beliebtheit populistischer Bewegung und antieuropäischen Gedankenguts, dringender als noch vor einigen Jahren.


Fußnote:


  1. Der vollständige Titel der „Ostdenkschrift“ der EKD vom 1. Oktober 1965 lautete „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn”; der Text steht unter https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ostdenkschrift_1965.pdf zum Download zur Verfügung. – Zum Briefwechsel zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen vgl. die hier im Heft abgedruckten Auszüge (Seite 145-148 der gedruckten Ausgabe). ↩︎