Staatlichkeit, Pluralität und die Autokephalie der Orthodoxie in der Ukraine

Historische Implikationen
aus OWEP 4/2019  •  von Katrin Boeckh

Prof. Dr. Katrin Boeckh ist Historikerin am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg und Außerplanmäßige Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der LMU München.

Zusammenfassung

Historische Prägungen beeinflussen noch immer politische und kirchenpolitische Ereignisse in der Ukraine. Der Beitrag zeigt, wie sich die Erfahrungen der Ukrainer mit den Wirkungen der Imperien, mit Revolutionen und mit kirchlicher Pluralität auf jenen Prozess auswirkten, der 2018 zur Proklamation der Autokephalie der Orthodoxie in der Ukraine und zu ihrer Bestätigung durch das Ökumenische Patriarchat 2019 führte.

Die kirchliche Situation in der Ukraine war 2018/19 geprägt von der Autokephalieerklärung1 der vereinigten orthodoxen Kirche. Sie hatte auch einen nicht geringen Stellenwert im Präsidentschaftswahlkampf 2019 und spielt somit gleichfalls im politischen Bereich eine Rolle. Weiter Bedeutung haben die militärischen Vorgänge in den östlichen Regionen, wo sich unter massiver Moskauer Beeinflussung zwei „Volksrepubliken“ von der Ukraine abspalteten, sowie auf der Krim, die 2014 von Russland völkerrechtswidrig annektiert wurde. Einen Aspekt, der beide Szenarien verbindet, stellt die Frage der nationalen Identität dar, die sich sowohl in der kirchlichen Auseinandersetzung als auch im von Moskau ausgelösten „hybriden Krieg“ widerspiegelt. Gleichzeitig sind beide Entwicklungen nicht zu lösen von Implikationen, die sich aus historischen Hintergründen herleiten lassen.

Die folgende Darstellung hebt Charakteristika der aktuellen ukrainischen Entwicklungen heraus, deren Bezugspunkt Russland sein wird. Ausgehend von den geschichtlichen Erfahrungen, denen die Ukraine im 20. Jahrhundert unterworfen war, wird das Verhältnis zwischen Staat und Kirche bis in die Gegenwart beleuchtet.

Historische Erfahrungen der Ukraine(r)

Imperiale Erfahrungen

Die historische Landkarte zeigt, dass die Ukraine als flächenmäßig größter Staat in Europa nach Russland mitten zwischen westlichen und östlichen Mächten liegt und somit eine Reihe von Imperien auf das Land eingewirkt haben: „Prä-nationale“ ukrainische Gebiete gehörten ab dem 14. Jahrhundert zum polnisch-litauischen Großreich, ab dem 17. Jahrhundert zum Russischen Reich, ab dem 18. Jahrhundert zum Habsburger Reich und ab 1922 zur Sowjetunion. Dass die Ukraine erst 1991 ein de iure und de facto unabhängiger Nationalstaat wurde, hängt mit dem Ersten Weltkrieg zusammen. Dieser bildete einen Dreh- und Angelpunkt der ukrainischen Geschichte, denn er hatte für die Ukraine andere Konsequenzen als für weitere Staaten im östlichen Europa. Nach dem Ende der Imperien in Osteuropa – dem Russischen, dem Habsburger und dem Osmanischen Reich – gelang es nämlich einer Reihe von Staaten, sich politisch (wieder) zu emanzipieren, etwa Polen, der Tschechoslowakei, den baltischen Staaten und Jugoslawien. Ein ukrainischer Staat schaffte es aber nicht auf die europäische Landkarte. Zwar gab es zwischen 1917 und 1921 eine kurzlebige ukrainische Staatlichkeit, die sich jedoch nicht durchsetzen konnte, weil sie zuerst noch von den Mittelmächten, besonders vom Deutschen Reich und Österreich-Ungarn, abhängig war und nach deren Rückzug den Bolschewiken militärisch nicht Stand hielt.

Die Ukraine wurde somit Teil des ersten sozialistischen Staates der Welt, der 1922 gegründeten UdSSR. Auch sie reiht sich ein in die Imperien, aus denen die Ukraine historische Erfahrungen schöpfte und die bis zur ihrer Auflösung 1991 das Schicksal der Ukraine prägte. Die Folgeschäden, die sie nach über 70 Jahren verursachte, resultierten aus der kommunistischen Planwirtschaft, dem Einparteienstaat, der Unterdrückung jeglicher Opposition und der Unterordnung unter das Moskauer Diktat. Aber man darf auch nicht verschweigen, dass auch Ukrainer regimekonform agierten und die sowjetische Herrschaft ebenfalls mittrugen. Russland nahm innerhalb des staatlichen Gefüges die Position als primus inter pares ein, die Ukraine folgte gleich dahinter.

Während der sowjetischen Zeit kam es zu einer Reihe von Katastrophen und tragischen Ereignissen, die die soziopolitische und -ökonomische Lage der Sowjetrepublik massiv beeinträchtigten. Noch heftiger als der Erste Weltkrieg zog der sich anschließende Bürgerkrieg bis 1922/23 die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft. An seinem Ende stand der Sieg der Bolschewiken. Die Stalinschen Säuberungen in den 1930er Jahren kosteten das Leben eines großen Teils der ukrainischen Eliten. Der Zweite Weltkrieg fand wie der Erste einen Hauptschauplatz in der Ukraine. Dazwischen reihten sich mehrere Hungersnöte: zuerst 1921/22, dann der Holodomor 1932/332 und dann wieder 1946/47. Und schließlich spielte sich 1986 in der Ukraine die technische Katastrophe ab, die das Ende der sowjetischen Herrschaft maßgeblich vorantrieb, nämlich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Das alles kostete Millionen von Menschenleben, nicht nur in der Ukraine, sondern auch in anderen Teilen der UdSSR. Gleichzeitig sind diese Katastrophen Teil des historischen Gedächtnisses der Bevölkerung in der Ukraine.

Revolutionäre Erfahrungen

Ohne hier den Begriff „Revolution“ zu problematisieren, wird er für die Ukraine in den letzten Jahrzehnten immerhin in drei Fällen angewandt: Neben der Oktoberrevolution 1917, die freilich nicht in Kiew, sondern in Petrograd stattfand, sich dann aber auch in der Ukraine durchsetzte, war 2004/05 die Orangene Revolution der erste Versuch, den postsowjetischen Schlendrian zu brechen und verfassungsmäßig garantierte Rechte durchzusetzen, und danach die Erhebung von 2013/14, der Euromajdan, die so genannte „Revolution der Würde“, die das Land auf einen westlichen Weg setzen wollte. Die Begründung für diese durchaus beträchtliche Anhäufung von politischen Umstürzen liegt in der ukrainischen Gesellschaft: In der Orangenen Revolution sorgte Massenprotest für die Einsetzung des rechtmäßig gewählten Präsidenten Juschtschenko. Jene, die auf die Straßen gingen, bekamen hier die Bestätigung, tatsächlich etwas bewegen zu können. Das Vertrauen in die eigene Kraft trug 2013/14 den Euromajdan, eine echte Volksrevolte mit einer breiten Bürgerbeteiligung. In beiden Fällen wurde also die Zivilgesellschaft aktiv, was den entscheidenden Unterschied zur Leninschen Oktoberrevolution, dem Coup d’état einer Minderheit, ausmacht.

Für die Existenz einer in der Ukraine aktiven Bürgergesellschaft, die vergleichsweise so im benachbarten Russland nicht agieren kann, gibt es eine Reihe von Gründen. Aus der historischen Perspektive ist hier eine größere Pluralität in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens anzuführen. Aufgrund der genannten imperialen Vergangenheiten zeigt sich dies an der großen ethnischen Diversität der Bewohner: Neben ethnischen Ukrainern und Russen gibt es viele Minderheiten wie Rumänen/Moldauer, Weißrussen, Krimtataren, Bulgaren, Polen, Juden, Armenier, Slowaken und andere, und entsprechend hoch ist die Mehrsprachigkeit (Ukrainisch, Russisch, die nicht kodifizierte Sprache Suržyk uvm.).3 Dies und weitere Aspekte wie Medienfreiheit und Ähnliches tragen zu einer lebendigeren politischen Diskussion bei, sodass sich in der Ukraine ein größeres Meinungsspektrum findet und damit insgesamt das demokratische Verständnis gesellschaftlich tiefer verankert ist als in Russland. Darauf weist auch hin, dass in der Ukraine zwischen 1991 und 2019 immerhin sechs verschiedene Männer zum Staatspräsidenten gewählt wurden (nicht gezählt: der 2014 kommissarisch eingesetzte Präsident Turtschynow), während in Russland bisher nur zwei wirkten, in Belarus gar nur einer.

Religiöse und kirchliche Pluralität

In diesen Pluralismus gehört auch die historisch gewachsene kirchliche und religiöse Vielfalt. Laut der jährlichen staatlichen Erhebung waren 2017 insgesamt 97 kirchliche Gemeinschaften registriert (neben traditionellen Kirchen auch neue evangelikale und neo-pagane Gemeinschaften). Dazu kommt, dass in der Ukraine die Religiosität allgemein hoch ist: Einer repräsentativen Umfrage des soziologischen Razumkov-Zentrums in Kiew zufolge erklärten sich 2017 von den 44 Millionen Bürgern in der Ukraine etwa 80 Prozent für religiös.4 Von diesen bekannten sich 68 Prozent als orthodox, knapp 8 Prozent als griechisch-katholisch, 1,3 Prozent als Juden, 1 Prozent als römische Katholiken, 0,8 Prozent als Protestanten und 0,2 Prozent als Muslime. Weitere 7 Prozent identifizieren sich „einfach als Christen“, 12,6 Prozent erklärten, sie gehörten zu keiner religiösen Gruppierung. Die größte Kirche ist demnach die orthodoxe Kirche. Vor der Autokephalieerklärung gehörten ihr 26,5 Prozent der (in den 1990er Jahren entstandenen, nicht kanonischen) Ukrainischen Orthodoxen Kirche Kiewer Patriarchats an, 12 Prozent der Ukrainischen Orthodoxen Kirche unter Moskauer Jurisdiktion, 3,5 Prozent der Russischen Orthodoxen Kirche und „anderen orthodoxen Gruppen“, 1,1 Prozent der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche (nicht kanonisch). 24,3 Prozent hielten sich für allgemein „orthodox gläubig“ und 0,8 Prozent für „unentschlossen“. Mit der hohen Religiosität hebt sich die Ukraine von den anderen Ländern in Osteuropa ab. Es erstaunt, dass sich nur drei Jahrzehnte nach dem Ende des kommunistischen Atheismus über zwei Drittel der Ukrainer zu einer religiösen Überzeugung bekennen – dabei leiden die Kirchen im ganzen postsowjetischen Raum noch immer an den Folgen der sowjetischen Repressionen.

In ihrer prinzipiellen Ablehnung der Religion unterwarfen die Bolschewiken Gläubige, Kirchen und Religionsgemeinschaften jeder Richtung ab 1917 staatlicher Kontrolle und Verfolgung. Die Orthodoxie, die größte Kirche im Russischen Reich, war das erste Opfer, das als Stütze der Zarenherrschaft und als „Instrument des Klassenfeindes“ betrachtet wurde. Das von Lenin 1918 verfasste Dekret über die Trennung von Kirche und Staat war das erste einer Reihe von Verordnungen, die das religiöse Leben strikt begrenzten und vermeintliche und tatsächliche Überschreitung unter Strafe stellten.

Dem Schlag gegen die kirchliche Struktur folgte der Angriff auf die Hierarchie. Allein bis 1920 wurden mindestens 28 Bischöfe ermordet, Kirchenangehörige – ihre Zahlen gehen in die Tausende – wurden in Zwangsarbeitslager eingewiesen. Diese Vorgänge betrafen auch die orthodoxen Gemeinden in der Ukraine. Hier hatte sich die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche auf dem 1921 in Kiew einberufenen (nicht kanonischen) Kirchenkonzil konstituiert. Obwohl ihr die Russische Orthodoxe Kirche die Anerkennung verweigerte, gewann sie als ukrainische Nationalkirche Anhänger, bis sie zu Beginn der 1930er Jahre in die Mühlen der sowjetischen Verfolgung geriet.

Auch die katholische Kirche wurde in der Zwischenkriegszeit erheblich getroffen. Auf dem Schauprozess 1922 gegen 17 hohe katholische Repräsentanten in Moskau wegen „antisowjetischer Betätigung“ erhielten die meisten zehn Jahre Lagerhaft, der Petersburger Priester Konstanty Budkiewicz (1867-1923) wurde erschossen. Vier Bischöfe, die Papst Pius XI. dann in der Sowjetunion geheim weihen ließ, wurden Mitte der 1930er Jahre ausgeschaltet – sie mussten das Land verlassen, bis auf den Schwarzmeerdeutschen Alexander Frison, der 1937 auf der Krim erschossen wurde. Er teilte damit das Schicksal von mehreren Dutzend russlanddeutschen katholischen Priestern, die in den deutschen Dörfern in der Ukraine, aber auch in der Wolga-Republik gewirkt hatten.

Die Russische Orthodoxe Kirche wurde ab dem Zweiten Weltkrieg staatlich geduldet. Sie bezahlte ihre Existenzsicherung aber mit der völligen Unterordnung unter die staatlichen Strukturen, was bis in die Besetzung von Bischofsstühlen ging.

Folgen der massiven Kirchenrepressionen waren, dass die Kirchen ihre klugen Köpfe verloren und einen Blutzoll sondergleichen erlitten, den man in der europäischen Kirchengeschichte sonst nicht wieder findet. Außerdem konnte keine Ökumene entstehen, weil alle Kirchen um ihre schiere Existenz kämpften.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die Kirchenverfolgung in den Gebieten, die ab 1944/45 der Sowjetunion zugeschlagen wurden, fort. 1946 wurde die griechisch-katholische Kirche von Galizien verboten, ihr Metropolit Slipyj und ihre Bischöfe wurden verhaftet und deportiert, ihre Priester mussten zur Orthodoxie übertreten. 1949 geschah dasselbe in der Karpaten-Ukraine. Laut Angaben der griechisch-katholischen Kirche kamen zehn Bischöfe, 1.400 Priester, 800 Nonnen und Tausende von Laien unter sowjetischer Herrschaft gewaltsam ums Leben.

Während die griechisch-katholische Kirche in den Untergrund getrieben wurde, erlebte die Russische Orthodoxe Kirche in der Westukraine einen Aufschwung, weil das Regime bestimmt hatte, dass sie die griechisch-katholischen Gemeinden, Geistlichen und Kirchengebäude übernehmen sollte. Dies führte schließlich dazu, dass in der Westukraine insgesamt mehr orthodoxe Kirchengebäude standen als in Russland. Die Rückgabe ab den 1990er Jahren erfolgte nicht konfliktfrei. Dabei gehört es zur Tragik für die Russische Orthodoxe Kirche, dass sie vom Kreml zum Schaden der griechisch-katholischen Kirche gleichsam ausgespielt wurde.

Die Ukraine nach 1991

Die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine im Jahre 1991 schuf eine neue politische Grundlage für die Tätigkeit der Kirchen, die sie vor die veränderten Herausforderungen der pluralistischen und sich demokratisierenden Gesellschaft stellte. Den Rahmen und das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit legte dabei die ukrainische Verfassung von 1996 bzw. deren Artikel 35 fest.

Kirchengemeinschaften selbst waren seit 1991 ein Objekt für die Politik, zugleich aber auch selbst politisch Agierende. Dabei bemühten sich alle postsowjetischen ukrainischen Präsidenten, eine einheitliche orthodoxe Landeskirche herzustellen, um die nationale Identität und Integration angesichts der schwach ausgeprägten gemeinsamen historischen Erfahrung und angesichts der kulturellen und sprachlichen Unterschiede im Land vor allem zwischen Ost und West, aber auch zwischen Zentrum und Provinzen zu stärken. Erst Präsident Poroschenko erwirkte beim Ökumenischen Patriarchat die Anerkennung der orthodoxen Autokephalie am 6. Januar 2019. Das war also keine überstürzte Entscheidung Konstantinopels, zudem holte sie Millionen von Gläubigen aus der Nicht-Kanonizität.

Was die Zusammenarbeit der Kirchen in der Ukraine untereinander angeht, so funktioniert diese mittlerweile. Dafür bürgt eine Institution, die die Kirchen 1996 etablierten, der „All-Ukrainische Rat für Kirchen und Religiöse Organisationen“ als Organ von 90 Prozent der religiösen Gemeinschaften in der Ukraine. Dieser trifft sich regelmäßig unter einer rollierenden Führung und äußert sich zu wichtigen politischen Fragen. Er ist als Dachorganisation eine Brücke für den Dialog mit der Politik, den er immer wieder sucht, und ein effektives Werkzeug für die Konfliktbereinigung der Kirchen untereinander.

Problematisch ist aber das Verhältnis zur orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats. Denn während sich die anderen Kirchen in der Ukraine selbstständig von der Politik äußern, bleibt die orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats ein verlängerter Arm der Moskauer Außenpolitik. Besonders kritisch fällt dies auf bei ihrer Rolle auf der Krim und in den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk. Hier nämlich herrscht, europaweit gesehen, eine Religionsverfolgung wie nirgends sonst. Auf der Krim erlaubt die nun verordnete russische Rechtslage den muslimischen, nicht-orthodoxen christlichen, jüdischen und anderen Gemeinden kaum ein Existenzrecht. Ihre Anhänger werden richtiggehend drangsaliert. In Donezk erklärte die Führung im Mai 2014 das orthodoxe Bekenntnis, wie es die Russische Orthodoxe Kirche vorgibt, zum vorherrschenden. Hierbei wird sie auch von Priestern des Moskauer Patriarchats unterstützt. Alle anderen religiösen Gemeinschaften werden in ihren Aktivitäten stark eingeschränkt, indem ihre Geistlichen bedroht werden und Razzien während Gottesdiensten stattfinden.

Möglicherweise waren es auch diese Vorgänge, die den Ökumenischen Patriarchen mit beeinflusst haben, die Autokephalie der Orthodoxie in der Ukraine anzuerkennen. Die Autokephalie-Erklärung korrespondiert mit dem politischen Rahmen und der „verspäteten“ Staatsbildung der Ukraine 1991. Historische Parallelen zu einem solchen Prozess gibt es im östlichen Europa mehrere. Erwähnt sei nur, dass sich die Serbische Orthodoxe Kirche 1882 für autokephal erklärte, aber erst 1920 von Konstantinopel anerkannt wurde; die Bulgarische Orthodoxe Kirche erklärte sich 1872 für autokephal und wurde 1945 anerkannt. Darüber hinaus ließen sich weitere Fälle anführen, in denen die Mutterkirche Jahre und Jahrzehnte für die Bestätigung benötigte. Die Autokephalieerklärungen schufen also immer Fakten. Dies lässt die Prognose zu, dass es gleichfalls für die Autokephalie der Orthodoxie in der Ukraine keinen Weg mehr zurück gibt, auch im Sinne jener Gläubigen, die nicht mehr weiter in der Un-Kanonizität leben müssen. In der nun angebrochenen „Zwischen-Zeit“ muss die neue ukrainische orthodoxe Kirche allerdings ihre Bewährungsprobe bestehen und für innere Stabilität sorgen.


Fußnoten:


  1. Vgl. dazu besonders den Beitrag von Thomas Bremer in diesem Heft (S. 252 - 259 der gedruckten Ausgabe). – „Autokephalie“ bedeutet im orthodoxen Kontext „Selbstständigkeit“. ↩︎

  2. Vgl. dazu die Erläuterungen von Friedrich Asschenfeldt in OST-WEST. Europäische Perspektiven 18 (2017), H. 4, S. 259 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  3. Zur Mischsprache „Suržyk“ (Begriff und Bedeutung) vgl. Anja Lange: „Ich spreche nicht die Sprache der Okkupanten!“ Zur Sprachenfrage in der Ukraine. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 15 (2014), H. 4., S. 299-303, bes. S. 302 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  4. Ukraine. International Religious Freedom Report 2017, https://www.state.gov/j/drl/rls/irf/religiousfreedom/index.htm#wrapper (letzter Zugriff: 03.01.2023). ↩︎