Kirche im Konflikt. Teil des Problems oder Teil der Lösung?

aus OWEP 3/2005  •  von Jörg Lüer

Jörg Lüer ist Referent bei der Deutschen Kommission Justitia et Pax in Berlin.

Auch wenn das landläufige säkulare Vorurteil Kirche und religiöse Gemeinschaften – nicht immer ohne Grund – verdächtigt, eher Teil des Problems als Teil der Lösung zu sein, kommt man nicht umhin festzustellen, dass es unverzichtbar zum Selbstverständnis der Kirche gehört, konstruktiv an der Überwindung von Konflikten und der Schaffung von Frieden mitzuwirken. Zahlreiche Beispiele und tapfere Zeugnisse in der Weltkirche unterstreichen mit ihrer Praxis dieses Selbstverständnis. Die ethische und theologische Ausrichtung auf einen gerechten Frieden, wie sie in der kirchlichen Lehre seit langer Zeit und im Pontifikat von Papst Johannes Paul II. in besonderer Prägnanz entfaltet worden ist, ist in der Kirche unbestritten. Nichts desto minder sehen sich die Zeitgenossen immer wieder auch mit Ortskirchen konfrontiert, die sich nur zögerlich und gelegentlich widerwillig den Herausforderungen stellen, die mit gewaltförmigen Konflikten und ihren Folgen verbunden sind. Die daraus resultierenden Glaubwürdigkeitsprobleme sind ernst. Es wäre aber deutlich zu kurz gegriffen, wollte man dieses spannungsreiche Verhältnis von Lehre und Praxis nur unter der Rubrik von persönlichem Versagen und Lauheit verhandeln. Es führt vielmehr zum Kern des Problems.

Der friedensethische Zugang zur Frage nach dem Umgang mit Konflikten führt zur Gerechtigkeitsfrage und zur Frage nach der Überwindung von Gewalt. Nicht der Konflikt als solches ist in aller Regel das Problem, sondern vielmehr seine Grundlagen und die Formen seines Austrags. In sozialwissenschaftliche Sprache übersetzt, zielen die Fragen auf die Konfliktursachen sowie die Konfliktdynamik. Einer der zentralen Ausgangspunkte der kirchlichen Reflexion und damit – zumindest theoretisch – auch der kirchlichen Beiträge zum Friedensproblem ist die tief in der biblischen Tradition verankerte Auffassung von der spezifischen Wirkmächtigkeit von Gewalt und Gewalterfahrung. Zu diesen Spezifika gehört, dass alle Beteiligten – wenn auch in unterschiedlicher Weise – durch die Gewalt und ihre Folgen geprägt und somit Teil des Gewaltprozesses werden. Gewalt wirkt fort, in den Spuren, die sie bei Tätern wie Opfern hinterlässt, auch wenn die konkrete Gewalttat vorüber ist. Sie prägt in ihren Folgen die Handlungs- und Wahrnehmungsmuster aller Beteiligten. Sie schreibt sich ein in das Gedächtnis der Opfer und ihrer Angehörigen; nicht selten in der Versuchung zur Revanche, zur Gegengewalt. Was dabei oft unterschätzt wird, ist die Tatsache, dass auch das Bewusstsein der Täter und ihrer Angehörigen und Nachkommen durch die Gewaltausübung geformt und geprägt wird. Dies tritt einem meist in Form wütender oder kalter Leugnung, seltener in Form mehr oder minder bewusster Scham entgegen. Zu den Spezifika von Gewaltdynamiken gehört, was die Bearbeitung nicht gerade erleichtert, die Tendenz zu tiefgehenden Verstrickungen, die weit über eine klare und eindeutige Definition von Opfern und Tätern hinausgeht. Die Auswirkungen der Gewalt – so der unverzichtbare Befund – betreffen alle und zwar keineswegs nur in einem metaphysischen, sondern durchaus ganz praktischen Sinn.

Durch Gewalt belastete Geschichte ist, daran herrscht gerade auch mit Blick auf europäische Erfahrungen kein Zweifel, ein Sprengsatz an den Fundamenten einer Gesellschaft und im Zusammenleben der Völker. Die Halbwertzeiten von Gewaltauswirkungen sind immens. Nicht selten geht die Gewaltprägung so weit in die alltägliche Weltwahrnehmung ein, dass sie nicht einmal als solche erkannt wird. Gewalt und Gegengewalt perpetuieren sich in solchen Konstellationen, ohne dass die Akteure aus ihrer tragischen Verstrickung herauszutreten vermöchten. Eine der ersten Aufgaben kirchlichen Friedenshandelns ist es daher, die differenzierte Wahrnehmung der Gewaltförmigkeit von Welt zu fördern. Die spezifischen Plausibilitäten der gewaltgeprägten Weltdeutungen gilt es zu durchbrechen. Dabei ist von den konkreten Erfahrungen und Narrativen der Betroffenen auszugehen und der Versuchung zu widerstehen, sich ins rein Prinzipielle zu flüchten. Die Hilflosigkeit so mancher kirchlichen Verlautbarung zu Konflikt und Gewalt ist auf die mangelhafte Bereitschaft, sich den konkreten Anfragen und Anfeindungen wirklich zu stellen, zurückzuführen.

Aber christliches und insbesondere kirchliches Friedenshandeln kann – oder zumindest sollte es – nicht bei dem dunklen und in der Tat unabweisbaren Hinweis auf die Gewaltdurchdrungenheit der Welt stehen bleiben. Es entwickelt seine Perspektive in nachgerade paradoxer Weise durch die Rückbindung des Gewaltphänomens an konkrete menschliche Schuld. Die Feststellung, dass Gewalt immer auf konkreter menschlicher Schuld beruht, ermöglicht das in den jeweiligen Situationen oftmals als übermächtig erlebte Gewaltphänomen, ohne es zu verharmlosen, auf seine wirklichen Maße zurückzuführen und der Rede von Versöhnung einen konkreten befreienden Sinn zugeben. In der Rückbindung des Gewaltphänomens an menschliches Freiheitshandeln und darin eingeschlossen menschliche Schuldfähigkeit liegt ein wesentlicher Schlüssel für wirksames Friedens- und Versöhnungshandeln. Denn mit dieser Rückbindung ist entgegen der scheinbaren Unausweichlichkeit der Gewalt die Umkehrfähigkeit angesprochen. Der Logik von Gewalt und Schuld steht dabei die biblische Zusage Gottes an sein Volk und die Gottesebenbildlichkeit des Menschen gegenüber.

Dieser fromme und schöne Gedanke von der Unzerstörbarkeit der Freiheit, eben auch zur Umkehr, bekommt, wendet man ihn, da Gesellschaften als Ausprägungen menschlicher Freiheit Anteil an der menschlichen Schuldgeschichte haben, über das Individuelle hinaus auf die Sphäre des Politischen an, eine für konkretes Friedenshandeln orientierende Bedeutung. Die Einsicht, dass wir vor jeder persönlichen Schuld in Zusammenhänge gestellt sind, die durch Gewalt und Schuld geprägt sind und unser Handeln entscheidend mitbestimmen, ist traditionell in der Lehre von der Erbsünde beheimatet. In der Bibel ist an verschiedenen Stellen die Rede davon, dass die Söhne und Enkel die Vergehen der Väter zu tragen haben, was weniger auf eine besondere Rachsüchtigkeit Gottes, als vielmehr die machtvollen Auswirkungen der Sünde hinweist. Die Weisheit dieser Einsicht ist gerade in Deutschland vor dem Hintergrund der NS-Geschichte nicht schwer zu verstehen.

Entgegen der verführerischen Tendenz, die schmerzhafte Erinnerung an Gewalt in Vorstellungen von einer Rückkehr zur Normalität aufzulösen, sollte sich kirchliches Friedenshandeln daran orientieren, geduldig und selbstkritisch die Strukturen sowie die konkreten Geschichten der Gewalt zur Sprache zu bringen. Dabei gilt es, sowohl der Versuchung zu widerstehen, in ein wohlfeiles allgemeines Schuldbekennen zu verfallen, das an der Oberfläche bleibt, weil es sich nicht der konkreten Schuld stellt, als auch dem Drängen nach Schlussstrichen keineswegs nachzugeben. So verlockend es ist, Schlussstriche zu ziehen, es ist irreal und verdeckt die zu behandelnden Wunden, anstatt an ihrer Heilung mitzuwirken. Der kurzfristige Mehrwert einer relativen Befriedung der Situation steht nur in seltenen Fällen in einem vertretbaren Verhältnis zur mittel- und langfristigen Vergiftung der politischen Szene. Unter Bedingungen einer auf kurzfristig vorweisbare Erfolge ausgerichteten Politik, wie sie gerade auch in den westlichen, stark am Mediendiskurs orientierten Gesellschaften immer weiter Raum greift, ist es von hoher Bedeutung, auf eine Auseinandersetzung mit dem Gewalt- und Friedensproblem in einer längerfristigen Perspektive zu drängen. Amnestieregelungen erscheinen in dieser Perspektive hochgradig fragwürdig.

Ein derart auf Analyse von Ursachen, Strukturen und Auswirkungen von Gewalt zielendes Handeln, das sich politisch gesprochen in strafrechtliche Verfolgung, Wahrheitskommission, wissenschaftliche Aufklärung und schulische Curricula übersetzen lässt, erhält seine Würde aber letztlich weniger aus der Schärfe seiner Analyse als vielmehr aus der konkreten Teilnahme am Prozess der gesellschaftlichen Selbstaufklärung sowie der Bereitschaft zur nicht selten spannungsreichen praktischen Solidarität mit den Opfern. Die Gewalterfahrung auf seiten der Opfer und ihrer Nachfahren, die oftmals konkreter Hilfe bedürfen, führt geradezu typisch zu einer gewissen Ungleichzeitigkeit im Denken und Empfinden im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft. Die auf individuellen wie gesellschaftlichen Traumatisierungen beruhenden Reizschemata erschweren das Gespräch nicht selten selbst in Fällen wohlmeinender Gesprächspartner. Um so wichtiger ist es, Gesprächszusammenhänge zu schaffen, in denen die Opfer Gehör finden. Dabei geht nicht um eine Form paternalistisch verstandener Caritas. Es ist vielmehr auch für das Verständnis der konkreten jeweils partikularen Gewaltgeprägtheit der Gegenwart unverzichtbar, die Perspektiven der Opfer in den Prozess der Gewaltüberwindung einzubeziehen. Die auftretenden schmerzhaften Ungleichzeitigkeiten, die sich durchaus über Generationen fortsetzen können, wie wir nicht nur aus dem Dialog mit unseren jüdischen Nachbarn wissen, gilt es, diskursiv ausdeutend zu tragen. So kann die inhärente Spannung der geschärften und zugleich verzerrten Perspektive, die sich aus historisch geprägter Hermeneutik ergibt, fruchtbar gemacht werden. Gerade hier erweist sich der lange Atem des der christlichen Friedensethik zu Grunde liegenden Gewaltverständnisses.

Doch den theoretischen Einsichten in die Strukturen des Gewaltproblems steht nicht selten eine unbefriedigende Praxis gegenüber. Es stellt sich somit die Frage, wie die Ortskirchen zu Akteuren der Gewaltüberwindung werden können. Mit Blick auf die geforderte praktische Solidarität mit den Opfern, aber ebenso mit Blick auf die wichtige wirksame Auseinandersetzung mit den Tätern sowie den Gewaltstrukturen überhaupt ist es von zentraler Bedeutung, dass kirchliche Akteure ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit besitzen. Diese wird im Konfliktgeschehen allerdings nicht selten beschädigt. Die Stärkung, gelegentlich sogar Rückgewinnung der Glaubwürdigkeit erfordert in aller Regel einen schmerzhaften Prozess des Sichehrlichmachens gegenüber der eigenen Rolle sowie den Leistungen und dem Versagen der Glieder der Kirche. Es gilt, die Kirche in die gegenüber der Gesellschaft geforderte selbstkritische Sichtung miteinbeziehen. Nur wer seine eigene geschichtliche wie auch persönliche Verwobenheit bzw. Verstrickung in die Gewaltverhältnisse konkret bekennt und aufarbeitet, kann ein glaubwürdiges Zeugnis bei der Überwindung von Gewalt ablegen. In welcher Weise dies in den verschiedenen Kontexten geschehen kann, wird jeweils sehr von der partikularen Konstellation abhängen. Sowohl Rolle und Stärke der Kirche in der jeweiligen Geschichte und Gesellschaft spielen dabei eine Rolle als auch Art und Phase des Konflikts, um den es im Einzelnen geht. Je nach konkreter historischer Situation wird sich diese Frage in unterschiedlicher Dringlichkeit bzw. Zuspitzung stellen. Es macht eben einen gravierenden Unterschied, ob wir es mit Minderheitenkirche zu tun haben, die selbst verfolgt wurde, oder mit einer Mehrheitskirche, die sich nicht ausreichend gegen Verfolgungen anderer zu Wehr gesetzt, diese vielleicht sogar stillschweigend gebilligt hat, um nur zwei der zahlreichen Varianten zu nennen. So oder so sind die Kirche und ihre Glieder Teil der durch die Gewaltgeschichte geschaffenen Beziehungs- und Deutungssysteme, die für die aktuelle Konfliktdynamik von Bedeutung sind, und somit Teil des Problems. Dieser Befund ist für die Beteiligten – leicht nachvollziehbar – alles andere als erfreulich.

Die Aufklärung der Verstrickung in und des Geprägtseins durch die Gewalt und ihre Folgen ist nämlich auch dann erforderlich, wenn sich die Kirchen in einer Verfolgungssituation befunden haben. Insbesondere nach Phasen der Repression wird das unbestritten schwierige und schmerzhafte Fragen oftmals als Fortsetzung der Verfolgung erlebt und als solches abgewehrt. Kritische Fragen nach Verstrickung und unheilvoller Prägung werden von den Betroffenen allzu oft als generelle Infragestellung ihrer Leiden wahrgenommen. Durch die ggf. sogar subjektiv stimmige Überbetonung der Opferrolle und der Leiden geraten die Täteranteile schnell aus dem Blick. Die erforderlichen kritischen Fragen nach den systemischen Zusammenhängen können unter solchen Bedingungen nur unter großen Mühen zu Gehör gebracht werden.

Diese Erfahrung verweist darauf, dass dieselben Versuchungen und Irrwege, die sich so leicht für die jeweiligen Gesellschaften konstatieren lassen, auch in der Kirche abzuwehren und konstruktiv zu beantworten sind. Ekklesiologische Hinweise auf den mystischen und heiligmäßigen Charakter der Kirche helfen in diesem Zusammenhang leider nicht weiter, sondern nehmen nicht selten die Funktion eines Verdrängungsarguments an. Nicht selten wird dann unter Verweis auf den mystischen und heiligmäßigen Charakter der Kirche die Relevanz der selbstkritischen Befassung mit der Institution Kirche generell bestritten. Dabei werden die Märtyrer der Kirche oftmals als Ausweis des tadellosen Verhaltens der Kirche funktionalisiert, während diese in ihrer Gesamtheit mit den Märtyrern überidentifiziert wird. Diese verständlichen Abwehrmuster weisen auf den hohen Grad von Verunsicherung durch die Gewalterfahrung hin. Es besteht also – eingedenk dessen, dass sich mit eines anderen Mannes Pferd leicht durchs Feuer reiten lässt – kein Grund zu überheblicher Herablassung gegenüber Ortskirchen, die sich nur zögerlich diesen schmerzhaften Erneuerungsprozessen stellen.

Es mag auf den ersten Blick verwundern, aber gerade die Tatsache, dass die Kirche in ihrer sozialen Verfasstheit nicht über der Geschichte thront, sondern vielmehr als Volk Gottes durch die Geschichte pilgert und dabei denselben Versuchungen ausgesetzt ist wie alle Menschen und diesen Versuchungen leider zuweilen auch erliegt, ist die Voraussetzung für ein konkretes und glaubhaftes Zeugnis. Nicht blutleere Prinzipien, sondern geteiltes und im Lichte des Evangeliums gedeutetes reales Leben kann jenen Möglichkeitssinn schaffen, der ein Durchbrechen der Gewaltgeschichte Wirklichkeit werden lässt. Das Wort der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe 1965 „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ stellt in diesem Zusammenhang nach wie vor ein leuchtendes Beispiel dar. Erst in der nachvollziehenden Teilnahme an den Gewaltüberwindungsprozessen kann das tiefere Friedensverständnis zur wirksamen Entfaltung kommen.

So wenig es einen Masterplan für kirchliche Beiträge zur Gewaltüberwindung gibt, so klar ist dennoch, dass die enorme Expertise und Erfahrung, die die Ortskirchen in den unterschiedlichsten kulturellen und politischen Kontexten in der Auseinandersetzung mit Gewalt gesammelt haben, ein großes Potenzial zur Förderung und Ermutigung von Gewaltüberwindungsprozessen darstellt. Vor dem Hintergrund, dass Gewalterfahrung eine prekäre Selbstbezogenheit von Diskursen befördert, kommt der Möglichkeit, mit Anderen die eigene Erfahrung auszutauschen, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Schon die gesprächsweise Erfahrung, dass Andere in ähnlichen Problemlagen diese oder jene positive oder negative Erfahrung gemacht haben, erweist sich nicht selten als erster Schritt aus dem zuweilen autistisch anmutenden Verkrümmtsein in der eigenen Situation und fördert die notwendige Bereitschaft, analytischen Abstand einzunehmen. Dieses Potenzial sollte in der weltkirchlichen Arbeit zukünftig stärker berücksichtigt und gefördert werden. Doch lässt sich dies nicht fordern, ohne zugleich vor der darin liegenden Versuchung zu warnen, die Möglichkeiten externer Akteure zu überschätzen.

Ohne die Bedeutung externer Hilfestellung bei der Überwindung von Gewalt- und Konfliktpotenzialen zu schmälern, ist deutlich zu betonen, dass der entscheidende Impuls – gerade aus den oben genannten Gründen der Glaubwürdigkeit – jeweils aus den Gesellschaften selbst kommen muss und nur kann. Gewalt ist nur im Konkreten, im Kontext zu überwinden, nicht im Prinzipiellen. Es kann kaum genug davor gewarnt werden zu glauben, Gewaltüberwindung sei einfach eine Frage der entsprechenden Soziotechnik. Sie ist vielmehr – und hier kommt die personale an Schuld und ihrer Prägungskraft orientierte Perspektive zum Tragen – eine Frage nach der Einbeziehung der betroffenen Akteure. Mehr noch, es ist die Frage danach, wie die in unterschiedlicher Weise von der Gewalt Betroffenen langfristig zu Akteuren ihrer eigenen Befreiung von der Gewalt werden können.

In der Praxis wird man immer wieder auf Situationen stoßen, die, wenn überhaupt, befriedigende Antworten nur in einer Perspektive über mehrere Generationen hinweg zulassen. Hier gilt es, sich nicht zu früh mit den Realitäten zu arrangieren. Die Rede von Versöhnung verkommt nämlich unmittelbar zur nicht selten kontraproduktiven Propaganda, wenn in ihr nicht auch das Bewusstsein für das langanhaltend Unabgegoltene und tendenziell nicht mehr Versöhnbare der jeweiligen Konstellation zum Ausdruck kommt. Die Kirche sollte um ihres Ureigensten willen dabei eine verlässliche Anwältin einer adäquaten Rede von Versöhnung sein, die nicht billig über die Leiden der Opfer hinweg geht, sondern vielmehr die inhärente Spannung hoffnungsvoll austrägt.

Kirchliches Friedenshandeln steht in der Auseinandersetzung mit gewalttätigen Konflikten und deren Auswirkungen – vielleicht sogar wieder stärker – vor einer weiteren Herausforderung. Immer wieder sind in Konfliktkonstellationen Bemühungen seitens der Politik zu beobachten, ihren jeweiligen Interessen mittels der Funktionalisierung religiöser Gefühle und Symbole stärkere Geltung zu verschaffen. Der Faktor Religion ist offensichtlich real. Damit reagiert Politik durchaus auf den durch die existenzielle Bedrohung durch Konflikteskalation, Gewaltdynamik und Leidenserfahrung gesteigerten Bedarf an Sinn und Deutung. Gerade religiöse Symbole, die immer auch von der Auseinandersetzung von Gut und Böse handeln, stellen spezifische Deutungsangebote parat, die die aktuelle Konfliktwahrnehmung zuspitzen und überformen können. Ist die Auseinandersetzung erst einmal in die Perspektive unausweichbarer und letztlich unverhandelbarer Gut-Böse-Konfrontation gerückt, ist es nicht weit bis zur heilsgeschichtlichen Verklärung und Rechtfertigung von Gewalt. Der Missbrauch des Opfergedankens bis hin zu Märtyrerideologien erweist sich nicht selten als konfliktverschärfend und gewaltfördernd. Solcher Perversion von Religion entgegenzutreten, ist Sache der Religionsgemeinschaften im allgemeinen und der Kirche im besonderen. Der spezifischen, nicht selten von apokalyptischen Bildern angetriebenen Religiösität des Krieges ist mit der Unterscheidung der Geister entschieden zu begegnen.

Die Religionsgemeinschaften stehen somit vor der Frage, wie sie der großen Gefahr, in Wahrnehmung und Tat so in Konflikte einbezogen zu werden, dass sie sie eher fördern, als überwinden helfen, sinnvoll entgegentreten können. In diesem Zusammenhang scheint es angeraten zu sein, dass die Religionsgemeinschaften und insbesondere die Kirche sich intensiv mit der Struktur des politischen Religionsmissbrauchs sowie ggf. mit ihrem eigenen Anteil daran auseinandersetzen. Dabei kann es kein Schaden sein, auch die eigene religiöse Rede daraufhin zu bedenken, inwieweit sie vom jeweiligen Konflikt geprägt wird und in welcher Weise sie auf ihn einwirkt.

Kirchliches Friedenshandeln und darin kirchlicher Umgang mit Konflikten ist gefordert, über den Verweis auf seinen normativen Friedensanspruch hinaus die Evidenz der eigenen friedensethischen Perspektive gegen säkulare und pseudoreligiöse Heilsvorstellungen stark zu machen. Soll die am Leitbild des „gerechten Friedens“ orientierte Friedensethik konstruktiv relevant werden, so ist es unabdingbar, sowohl den „falschen Propheten“ der Gewalt als auch der pragmatisch daherkommenden Resignation im Umgang mit der Gewalt mit präziser, zuweilen dekonstruierender Analyse sowie einer kontinuierlichen und erkennbaren Praxis entgegenzutreten sowie ein Verständnis von der eigenen Verwobenheit in die jeweiligen Konflikte zu entwickeln. Dass die Kirche auf diesem Weg semper reformanda ist, ist in der Tat Teil des Problems und darin Teil der Lösung.