Das Karpatenbecken im Spiegel von Kulturökologie und Umweltkommunikation

Prof. DDr. Sándor Győri-Nagy ist Dozent im Ökosozialen Forum/Institut für Kommunikation in Kiskunmajsa (Ungarn).

Geographische Grundlagen

Das Karpatenbecken ist die größte geschlossene Nasslandschaft Eurasiens. Es bildet selbst eine Doppelregion, und zwar auf dreifache Art:

  • Erstens setzt es sich asymmetrisch aus einem größeren, vom Karpatenbogen umschlossenen Großbecken, dem eigentlichen Karpatenbecken, und einem kleineren Becken im südöstlichen Winkel des Karpatenbogens zusammen, so wie auch unser Doppelkontinent aus einem großen Asien und einem kleineren Europa besteht. Das Kleinbecken ist das in sich geschlossene Hochbecken Siebenbürgen, das nach außen wie auch zum Großbecken hin durch Berge abgeriegelt, doch mit letzterem hydrologisch, d. h. im Hinblick auf Quellen und Flussläufe engstens verbunden ist.

  • Zweitens lässt sich eine Symmetrie in der Zusammensetzung der hydrologisch maßgebenden Landschaftskomponenten feststellen. Etwa die Hälfte der Reliefelemente der Großlandschaft besteht aus Bergen und Hügeln, die als Wasserspender für die andere Beckenhälfte, die wasserempfangenden Tieflandsgebiete – die Kleine und die Große Ungarische Tiefebene – dienen.

  • Drittens gelten diese Symmetrie und Asymmetrie der Landschaftselemente in Natur- wie Kulturökologie der gesamten Großlandschaft Karpatenbecken auch umgekehrt. Wasserspender- wie auch Wasserempfängergebiete sind ja so aufgebaut, dass benachbarte Landschaftssegmente innerhalb beider Regionen als Wasserspender und Wasserempfänger in gegenseitiger Abhängigkeit aneinandergereiht sind.

Gebirge haben Hochleistungswasserbremsen und Binnenwasserempfänger in Form von reichgegliederten, sanft geneigten, humusbedeckten und bewaldeten Berghängen, breiten Tallandschaften und Binnenbecken, die über Vorgebirgs- und Hügellandschaften und harmonische Übergangsregionen in die Tiefebenen sanft auslaufen. Ebenso bilden wasserempfangende Tiefebenen eine Kette von Wasserspender- und Wasserempfängersegmenten, die das von höher liegenden Gebirgs- und Hügellandregionen erhaltene Wasser untereinander weitergeben.

Die Weitergabe ist in beiden Regionstypen zugleich Wasserspeicherung von einigen Tagen in Sickerzonen der Aufschüttungshochtäler bis hin zu erdhistorischen Perioden in kilometertiefen Sicker- und Schwebewasserzonen sowie riesigen Thermalwasservorkommen der Ebenen. Wasserspeicherung bedeutet in beiden Fällen eine verzögerte Wasserweitergabe und als Folge davon eine Verlangsamung der Fließgeschwindigkeiten der Wassermengen. Daher kann das Karpatenbecken im Vergleich zu anderen europäischen Regionen als „Region der sanften Gewässer“ bezeichnet werden. Dabei sind auch die Wasserspender- und Wasserempfängerrollen zwischen Gebirgs- und Tieflandshälften nicht einseitig. Gebirgsgegenden bekommen länger gespeicherte Wassermengen von den Tieflandsregionen in Form von ergiebigen Regenfällen zurück. Somit geht der Prozess in einem ewigen Kreislauf weiter, der jedoch infolge von Zu- und Durchfluss von bzw. nach außen auch teilweise geöffnet ist. Diese Öffnungsfunktion im Sinne von Zu- und Durchfluss üben im Falle des Großbeckens die Donau, im Falle des Kleinbeckens in Form eines einzigen Ausflusses über die Karpaten die Olt aus.

Der Forschungsansatz der Kulturökologie

Die Asymmetrie des Umfangs zwischen Groß- und Kleinbecken beinhaltet oft nur einen Scheinunterschied in der Bedeutung. Klein heißt im Ungarischen vielfach „stark“. Groß bedeutet nicht selten „schwach, schwerfällig, unbeholfen“. Die Kulturgeschichte des Karpatenbeckens weist eine Fülle von Beispielen dafür auf, dass Impulse für Ausgewogenheit, Ordnung und Selbstregeneration vom kleinen Siebenbürgen für den jeweiligen Karpatenbeckenstaat, oft für ganz Mittel-, sogar für ganz Europa ausgingen. All dies hilft uns, die wenig bekannte hydrogeographische Karte des Karpatenbeckens vor den großen Gewässerregulierungen der letzten beiden Jahrhunderte in dieser eigenartigen Nasslandschaft besser zu verstehen.1

Zum tieferen Einblick in Nachhaltigkeitsgrundlagen der historischen sowie aktuellen Ökologie von Natur und Kultur in dieser und nicht nur dieser Landschaft unseres Kontinents soll der Wissenschaftszweig der Kulturökologie verhelfen, der in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand und, basierend auf den Forschungsergebnissen der Umweltkommunikation, mit dieser eine ganzheitliche Umweltwissenschaft bildet.2

In den 1990er Jahren wurde die Gödöllőer Kulturökologische Werkstatt an der Agraruniversität Gödöllő/Ungarn (GATE) gegründet. An der seit 2000 nach Sankt Stephan benannten Universität Gödöllő (SZIE) bestand 1999-2004 ein Lehrstuhl für Kulturökologie und Umweltkommunikation. Die ganzheitliche Umweltwissenschaft Kulturökologie fasst Kultur als Grundbegriff der Nachhaltigkeit auf und definiert sie als „… unmittelbar naturgesteuertes Verhältnis des in der Landschaft lebenden und sich ihr als Teil der Natur anpassenden Menschen zu seiner ernährenden Umwelt …“ Für alle Kulturen sind eigene Wohnlandschaften, auch eigen(artig)e Formen der Umweltkommunikation charakteristisch. Während Zivilisation eine gewinnorientierte und eine einseitig auf den Menschen bezogene Kommunikation mit der Natur- und Gesellschaftsumwelt darstellt, ist Kulturen eine wechselseitige Umweltkommunikation eigen.

Grundlage der Umweltkommunikation ist die Stoffkommunikation. Jedes Lebewesen, so auch der Mensch, ist über unzählige Wege physischer, chemischer und biologischer Art in die örtlichen Stoffkreisläufe des eigenen Lebensraumes eingebunden. Diese entwicklungsgeschichtliche Verbundenheit von Lebewesen mit dem eigenen Umweltsegment kann zivilisatorisch ignoriert, eingeengt oder ausgeweitet werden, aber nie ohne Folgen für das Individuum, die Art selbst und die Artenvielfalt bzw. die Beziehungen unter den Arten.

Elemente der Stoffkommunikation

Wasser (griechisch: Hydor)

Innerhalb der Stoffkommunikation verdient Hydrokommunikation besondere Beachtung. Wasser ist nicht nur entscheidendes Konstruktionselement für den Körper der Organismen, ob Mensch, Tier oder Pflanze. Es ist ein lebenserhaltendes Zu- und Abfuhrmittel auch für alle anderen Stoffe, auch für den Größtorganismus Erde. Ohne Wasser hat es keinen Sinn, über fruchtbaren Boden zu reden.

Nach diesem Kulturwissen wurde die Bedeutung des lebenserhaltenden Nasselements Wasser sprachübergreifend mit der Bedeutung „fruchtbare Erde“ derselben sprachlichen Urwurzelgruppe zugewiesen:

vīta (Leben, lateinisch)
vidám (lebhaft, ungarisch)
víz (Wasser, ungarisch)
Wissen (lebenswichtige Kenntnisse, deutsch)
Wiese (nasses Grasland, deutsch)
Wasser (H2O, deutsch)
waten (im seichten Wasser gehen, deutsch)
water (Wasser, englisch)
voda (Wasser, russisch)
veder/vödör (Eimer, ungarisch)
bodon (Brunnenschacht, ungarisch)
Boden (fruchtbare Erde, deutsch)
főd (Festland, fruchtbare Erde, ungarisch)

Landschaft

Die zweite Ebene der Umweltkommunikation des Menschen stellt die Landschaftskommunikation dar. Landschaft ist das lebenserhaltende Ganze, zu dem die Lebenselemente für bestimmte Arten und Individuen lokal organisiert sind. Landschaft bezeichnet ein konkret-einzigartiges Ganzheitssegment mit einer Zusammensetzung aus allgemeinen Konstruktionselementen, die in dieser Form auf der Erde nicht noch einmal vorkommt. Die Landschaft umfasst Elementbereiche vom Tastbar-Materiellen über riechbare, hörbare und sichtbare Bereiche bis zum einsichtbar-denkbaren Bereich, die mit den Sinnen des lebenden Körpers (ung.: test) je nach Eigenart der Sinnesorgane erfasst und auf Lebensbedeutung getestet werden können.

Alle Kulturen haben ein je nach landschaftlicher Kulturgemeinschaft zusammengesetztes und ausgelegtes Wissen aus Begriffen und Bildern über alle Bereiche des landschaftlichen Weltganzen, weil sie in ihrem scheinbar unendlichen und tatsächlich begrenzten Landschaftssegment doch mit der ganzen Welt nach folgender Skizze kommunizieren:

Die Landschaft, mit der der Mensch als Individuum und Gemeinschaft kommuniziert, besteht aus konkret begrenzten und unbegrenzten Teilen. Dies festzuhalten ist für die Umweltkommunikation wichtig, weil der Mensch die Umweltimpulse von dieser Art Landschaft aus endlichen und unendlichen Umweltbereichen erhält. Landschaftsimpulse aus der ganzheitlichen Landschaft sind bewusst-unbewusste Regulatoren für das menschliche Handeln in allen Umweltsegmenten der Welt. Von diesen hängen lokale ebenso wie allgemeine Züge der Kulturen ab. Wichtigste Empfangsform von Landschaftsimpulsen durch den Menschen ist die körperliche Arbeit in der Landschaft. So kann der Bauer als Umweltsensor der Gesellschaft angesehen werden.

Menschliche Sinneswahrnehmung

Unter den Sinnesorganen sind wohl die Augen am meisten für die Wahrnehmung der ganzheitlichen Landschaft spezialisiert. Dies wird auch im ungarischen Namen szem (sprich: ßämm) festgehalten, der im Ungarischen auch Samen bedeutet. Das Wort gehört zur weitverzweigten Urwurzelgruppe mit der Bedeutung „zusammensammeln“. Augen und Samen sammeln wirklich zahlreiche – ungarisch heißt Zahl szám (sprich: ßam) – lebenswichtige Informationen zusammen. Bei „Samen“ geht es ja um eine Ansammlung genetischer Informationen fürs neue Leben und bei den Augen um lebenswichtige Sichtinformationen. Insofern ist es von Bedeutung, welche Sichtinformationen die Ahnengenerationen einzelner Kulturgemeinschaften von ihren Urwohnlandschaften hatten. Diese prägten nämlich dann als maßgebende Umweltimpulse ihre Landschaftsbegriffe im muttersprachlichen Zeichensystem. Die Umgebung, die den Urmenschen im Karpatenbecken auf seinem Wohnhügel umgab, wurde im Ungarischen nicht ohne Grund der Variantengruppe der Urwurzel vĭdeō, vīdī, vīsus (lateinisch: sehen) zugeordnet. Da diese Sichtumgebung von Wasser (ungarisch: víz, sprich: wies) beherrscht war, wurde der Gesamtbegriff mit vidék (ungarisch: Wohnumgebung) bezeichnet.

Wohnformen

Zu allen weiteren Stufen menschlicher Kulturgemeinschaft wie Ortsgemeinschaft, verschiedene regionale Bevölkerungsgrößen oder etwa ein ganzes Volk gehört ein Umweltsegment, das im Umfang ein passendes Ausmaß hat wie z. B. die Ortsflur, verschiedene Regionsgrößen oder ein Land (Staat). Alle ökologisch relevanten Größen von menschlichen Gemeinschaften bilden durch ihr lokal vernetztes, direktes Umweltverhältnis einen festen entwicklungsgeschichtlichen Bund mit belebt-unbelebten, sichtbar-unsichtbaren Umweltfaktoren innerhalb ihrer gemeinsamen Lebensräume. Diese Lebensordnung kann nicht ohne kettenreaktionsartige Umweltfolgen verändert werden. Zu jedem eingrenzbaren Umweltsegment gehört auch ein Stück Unendlichkeit an Raum und Zeit, aus deren Unkalkulierbarkeit jede Kultur Vorsicht und Landschaftsempathie als Teil vom lebenssichernden Umweltwissen ableitete.

Elemente der Umweltkommunikation

Die gesellschaftliche Umweltkommunikation jeder Kultur hat viele unterschiedliche Zeichensysteme und entsprechende Kodierungsweisen entwickelt. Durch Erwähnung von Zeichensystemen wie landschaftsgerechte Feldbestellung, Grundstücks- und Ortsbildgestaltung, Hausbauweise, Werkzeugausführung, Gegenstandsformung, Stickerei- und Schnitzereimotive wird jedoch nur der visuell-materielle Bereich angesprochen. Aus dem intellektuell-motorischen sei hier der Volkstanz, von vielen anderen stellvertretend noch Volksmusik, Glauben und Recht erwähnt. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags soll auf Volkslied, Märchen und Brauchtum kurz eingegangen werden.

Das wichtigste Zeichensystem gesellschaftlicher Umweltkommunikation bildet die Sprache – nicht als Sprache allgemein, sondern als konkrete Sprachsysteme einzelner Kulturen. Jede Sprache beinhaltet im Normalfall die räumlich-zeitliche Volldimension des Kulturwissens aus der Geschichte der gegebenen Kulturgemeinschaft in Sprachzeichen. Eine Entschlüsselung dieses Kulturwissens ist möglich, positivistische Linguistik der Zivilisation ist aber alles andere, nur nicht das geeignete Mittel dazu. Kulturökologie hat hierzu eine spezielle Umweltlinguistik entwickelt.

Beispiel 1: Das Volkslied

Ein sehr wichtiges Zeichensystem der Umweltkommunikation von Kulturen bildet das Lied, womit hier nur Volkslied als Gemeingut der Kulturgemeinschaft gemeint ist. Für das Lied ist charakteristisch, dass es Sprachliches als Text mit Musikalischem als Melodie vereint und dadurch spezielle Liedcodes schafft. Die Liedmelodie als nichtinstrumentelle Naturmusik öffnet für den Liedtext seelische, nichtbegriffliche Wissensdimensionen, weil sie selbst aus nichtbegrifflichen, sogar nichtmenschlichen Umweltbereichen stammt. Musik heißt im Ungarischen zene (sprich: sännä). Dieses Wort beinhaltet die Wurzel zen, die in fernöstlichen Kulturen Seele bedeutet und in europäischen Sprachen wie Latein durch Wurzeln wie sen-, san- mit „Empfinden“, „Heilen“ und „Alter“ assoziiert ist.

Melodische Naturtöne wie leises Rasseln von Blättern oder Wasser, vor allem aber Vogelgesang bezeichnen für die Menschen seit alters her die Melodie einer übermenschlichen Weltharmonie. Kein Zufall, dass eine Pentatonik, also die Fünftonabfolge, des Menschenliedes in Entsprechung der Umweltpentatonik des Vogelgesangs nur in singvogelartenreichsten Gebieten der Welt existiert; zu diesen gehört auch das Karpatenbecken. Liedtext als Sprache ist keine Sprache des Verstandes. Er ist durch Rhythmus und Reim von vornherein der Musik näherstehend. Auch stammt seine Materie weniger aus konkret-begrifflichen, vielmehr aus bildlich-synthetischen Codebereichen des Sprachzeichensystems der jeweiligen Kultur.

Zum Thema haben ungarische Volkslieder oft – kaum anders zu erwarten – das Wasser. Jedenfalls ist es nie „konkretes“, sondern symbolisches Wasser mit vielschichtiger Lebensbedeutung. Erstens geht es hier um das wichtigste Lebenselement für jedes Lebewesen in der Schöpfung: die Liebe. Es ist vor allem die Liebe, die junge, zum Leben reife, zur verantwortungsvollen Fruchtbarkeit bereite Menschen zueinander bringt. Hierfür haben die Ungarn einen Begriff für sich: szerelem, wobei szeretet für Nächstenliebe steht. Beide sind durch ihren gleichen Stamm ins weitestverzweigte Wurzelsystem der ungarischen Sprache integriert, deren Varianten mit grundlegenden Menschenpflichten von Selbstbefleißigung über Kindergebären bis zur mathematischen Multiplikation weitläufige Bedeutungsfelder umfassen.

Symbolisches Wasser im ungarischen Volkslied hat oft auch einen Namen: den Namen eines Flusses, meist den Namen des Lieblingsflusses der Ungarn, der Theiß (ungarisch: Tisza). Der Grund dafür liegt darin, dass der Flussname Tisza wurzelgleich mit tiszta (= rein, sauber, ehrlich, aufrichtig) ist. Liebe muss nämlich opferbereit und rein sein, sonst kann sie nach der Schöpfungsordnung keine Früchte tragen. Flusswasser wird aber mal auch trübe und unrein. Da hat Liebe keine Chancen. Dabei ist wichtig, dass víz und Tisza nur Frauenliebe bedeuten. Der Mann im ungarischen Volkslied wird durch sein Pferd (ungarisch: ló) symbolisiert. Wenn man im Volkslied mit dem Pferd über die Theiß oder einen anderen Fluss übersetzen will oder das Pferd das trübe Wasser nicht trinkt, ist immer Liebe oder Unmöglichkeit der Liebe gemeint.

Die ungarische Kulturforschung rätselt heute noch darüber nach, wieso Herders europäische Volksliedersammlung3 kein einziges ungarisches Volkslied beinhaltet, obwohl das ungarische Volksliedergut nach Umfang und Variantenreichtum mit zu den bedeutendsten in Europa zählt. Meiner Meinung nach liegt die Ursache dafür darin, dass die außerordentlich komplizierte und komprimierte Umweltsymbolik, die heute das ungarische Volkslied ökologisch-hochmodern macht, die Übersetzer vor unlösbare Aufgaben gestellt haben mag.

Beispiel 2: Das Märchen

Ähnlich verhält es sich beim Zeichensystem der Märchenkommunikation. Der Grundstoff Sprache wird im Falle von Märchencodes wie beim Lied speziell ausgewählt und in ein überreales Relationssystem gestellt. Nimmt man nur typische Märchenwesen wie Hexen, Feen, Drachen und Teufel, so ist es klar, dass diese als Sprachelemente einen völlig anderen „Begriffscharakter“ haben als „normale“ Begriffswörter. Letztere bezeichnen Bezüge aus der objektiven Realität. Märchencodes bezeichnen auch Wirklichkeitselemente: Hexen, Feen, Drachen und Teufel sind wirkliche Wesen. Sie wirken in der Gegenwartsebene des Menschen nicht weniger als unsere verstorbenen Lieben, deren Werte in uns nachwirken, oder wie unsere noch nicht geborenen Kinder vorwirken, zu deren Empfang und verantwortungsvoller Erziehung wir uns schon lange vor ihrer tatsächlichen Geburt in materieller wie seelisch-geistiger Hinsicht vorbereiten. Sie sind Teil einer überrealen, die Zeitgrenzen überspannenden Wirklichkeit. Genauso werden real Handelnde in Märchen wie Könige, Königssöhne, Königstöchter, Jäger, Diener, der arme Mann mit seinen Söhnen, Pflanzen, Tiere, Flüsse, Bäche, Gegenstände und Materialien Teil derselben Märchenwirklichkeit. Dadurch werden sie Teilhaber des ewigen Kampfes zwischen „Gut“ und „Böse“, der in der Gegenwart genauso geführt wird, wie er auch in der Vergangenheit nie aufhörte und auch in der Zukunft nicht aufhören wird.

Durch die überreale Märchenhandlung wird dem Gegenwartshörer gezeigt, was reale Lebewesen der ganzheitlichen Umwelt im Wesentlichen bedeuten. Im ungarischen Märchen können z. B. Tiere mit Menschen sprechen. Tiere, denen der gutherzige Mensch Dienste erweist, schwören ihm Treue und stehen ihm mit ihren Fähigkeiten im Entscheidungskampf gegen den Bösen bei. Es ist ein gegenseitiger Verantwortungsbund, in dem der Mensch für das Tier Opfer zu bringen hat und nicht einseitiger Nutznießer des Opfers seiner „Nutztiere“ sein darf. So ist es auch mit den Elementen. Wasser ist im ungarischen Märchen keine einfache „Flüssigkeit“, sondern entweder „Wasser des Lebens“ oder „Wasser des Todes“.

Beispiel 3: Brauchtum – das Ostergießen

Ebenso hat der seltsamste Wasserbrauch Europas, das Ostergießen der Ungarn, seine Umweltwurzeln und seinen Schöpfungszweck in der eigenartigen Nasslandschaft des Karpatenbeckens. Ostergießen ist ein zusammengesetzter Fruchtbarkeitsbrauch am Ostermontag, dessen Zeremonie nach Originalriten am frühen Morgen im eigenen Haus beginnt. Die Männer schleichen sich bei Morgendämmerung aus dem Schlafgemach und „gießen Frau und Töchter aus dem Bett“, wie es heißt, „damit sie fleißig werden“. Dass es jedoch gleichzeitig auch eine uralte Mahnung an die Frau zu ihrer unersetzlichen Pflicht zur Fruchtbarkeit ist, zeigt sich daran, dass man dabei bemüht ist, den Ritus im Bett zu vollziehen und dabei Frau und Bett mit möglichst viel Wasser nass zu machen. Nach alledem wird feierlich gefrühstückt und der ganze Ritus nochmals, aber nun „auf ordentliche Art“ wiederholt: Die Frauen der Familie stellen sich nebeneinander, sie lassen sich die „Gießverschen“ der Männer einzeln vorsagen und sich einzeln begießen. Da darf aber nur noch ein „Gießfläschchen“ mit klarem Wasser benutzt werden. Häufig ist es ein Duftwasser, das aber Frauen zu Ostern „nicht mögen“.

In den oft individuell gestalteten Gießverschen der Männer gibt es wiederkehrende Berufungen darauf, dass die Blume nicht verwelken darf und sie daher begossen werden soll. Allerdings wird auch der Preis fürs Begießen genannt. Dann wird um Erlaubnis zum Gießen gebeten. Der symbolische Hauptpreis fürs Begießen ist das „rote Ei“, das oft auch „hímes tojás“ (Zierei) genannt wird, weil die Schale von den Frauen sorgfältig mit kosmischen Lebensmotiven verziert wird. Neben Fruchtbarkeitsrot kann das Osterei aber auch blau oder gelb sein – zwei schlechte Farben der ungarischen Farbensymbolik, die an der Schale der Lebenszelle Ei (von Frauen den Gießern als Dank und Fruchtbarkeitsversprechen geschenkt) eine „schlechte Botschaft“ – eine feine Abweisung – an den Mann bedeuten. Gelb heißt ungarisch sárga (Sprich: schaarga), das wurzelgleich mit sár (= Schlamm, sprich: Schaar) ist und auch in der Volksliedersymbolik als schlechtes Nass-Symbol die Unmöglichkeit der Liebe bedeutet. Nachdem die Männer von den eigenen Frauen auf diese Weise „geprüft“ wurden, darf jung und alt aufbrechen, um einzeln oder in Gruppen die weiblichen Bekannten von jung bis alt im Ort zu begießen.

Nach dem Ostergießen werden die Gießer an den Familientisch gebeten und normal mit Pálinka (Obstbrand) aus eigenem Obst und Hauswein, die Kinder mit Obstsäften aus dem eigenen Garten bewirtet. Die begossenen Töchter reichen eigens gebackene Kuchen herum. Auf dem Tisch steht auch Essen mit Osterschinken, gekochten Eiern und eigens gebackenem Brot aus Weizen vom eigenen Feld bereit. Es wird nicht umsonst erwartet, dass die Gießer von all diesen Opfergaben kosten. Auch eine symbolische Geldgabe von der Hausfrau an die Buben gehört zum Gießpreis.

Insgesamt sollen damit uralte bäuerliche Werte4 wie Fleiß, Einteilungsgabe über Winter und Fastenzeit, verdienter Wohlstand und Freigiebigkeit der mit der Schöpfung verbundenen Menschheitsfamilie zur eigenen Bestätigung durch und zur Bestärkung für alle Angehörigen der Kulturgemeinschaft in ihrem zugewiesenen Schöpfungssegment als zu erhaltende Heimat zum Ausdruck kommen.


Fußnoten:


  1. Der Autor bezieht sich auf die 1938 in Budapest veröffentlichte Karte mit der Darstellung der ständigen und zeitweiligen Wasserbedeckung im Karpatenbecken vor den Gewässerregulierungen im 18., 19. und 20 Jahrhundert. Auf der Karte lässt sich die ursprünglich große Ausbreitung von Feuchtgebieten im gesamten Karpatenbecken bzw. Donauraum gut erkennen. – Ein Abdruck in vorliegendem Beitrag ist leider technisch nicht möglich; sie ist einsehbar unter http://www.moef.eu/index.php?m=1&am=2&mp=108&mpf=26 (letzter Zugriff: 05.03.2015). ↩︎

  2. Zum Folgenden vgl. Sándor Győri-Nagy: A fenntart/hat/ó kultúra. In: Kétnyelvűség, 1999/1. A sustainable and sustained culture. Towards a reestablished system of principles of organicism theory. KulturÖkologie, 1-23. Nr. 1; ders.: Kultúrökológia. (Cultural ecology). Tantárgyi forgatókönyv (Ein Studienbehelf). Környezet- és Tájgazdálkodás. Szent István Egyetem. Gödöllő 2001; ders.: Környezeti kommunikáció (Umweltkommunikation). Környezet- és Tájgazdálkodás. Szent István Egyetem. Gödöllő 2002; ders.: Kulturökologie und Umweltkommunikation. In: Á. Borgulya (Hrsg.): The Enlarged EU: Cross-Cultural and Communications Aspects. University of Pécs. Faculty of Business and Economics 2005, S. 205-223 (auch in: http://www.moef.eu/index.php?m=1&am=2&mp=45&mpf=26 (letzter Zugriff: 05.03.2015). ↩︎

  3. Johann Gottfried Herder: Stimmen der Völker in Liedern. Hrsg. von Werner Creutzinger. Vollständiger Text der letzten von Herder selbst stammenden Ausgabe, die unter dem Titel „Volkslieder“ 1778/79 erschien, sowie eine Auswahl aus der früheren Sammlung „Alte Volkslieder“ (1774) und dem Nachlass. Leipzig o. J. ↩︎

  4. Edit Fél/Tamás Hofer: Bäuerliche Denkweise in Wirtschaft und Haushalt. Eine ethnographische Untersuchung über das ungarische Dorf Átány. Göttingen 1972. ↩︎